Die Herrschaft der extremen Mitte
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Die Herrschaft der extremen Mitte

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Die Herrschaft der extremen Mitte

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Über dieses Buch

Der kanadische Philosoph Alain Deneault stellt sich der wohl bedrohlichsten aller Bedrohungen: der Mittelmäßigkeit.Die Mittelmäßigkeit schmückt sich selber zwar mit Bildern der Macht, hat aber nicht mehr zu bieten als Konformismus, das Bedienen vonSoftware oder die Einhaltung von Grundsatzwerten. Wir leben in einer Welt, in der eine mediokre Ordnung zum Modell für die gesamte Gesellschaft erhoben wurde und in der Denkfaulheit belohnt wird. Dabei wird nicht etwa Spitzenleistungen und Elitenbildung das Wort gesprochen. Vielmehr geht es in dieser scharfen Analyse um die Ermutigung zum Gebrauch des eigenen Verstandes.

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Information

1 Das »Wissen« und die Expertise

Der US-amerikanische Journalist Christ Hedges sagt es frei heraus: Die Akademiker sind verantwortlich für unsere Leiden in der Vergangenheit. Zwar stehen die meisten von ihnen der Welt fremd gegenüber – Spezialisten in klitzekleinen Bereichen, die zu keinem kritischen Bewusstsein mehr in der Lage, ganz von ihren Karrierestrategien eingenommen und in einer kollegialen, einer Art »Stammes«-Zugehörigkeit gefangen sind –, doch zeigt sich ihr Wirken eben dann, wenn man nach den Gründen für die uns alle betreffenden Gefahren fragt. Die sich ausweitende Umweltkrise etwa, die Einkommensungleichheiten, die zu Exklusionen auf nationaler und globaler Ebene führen, die Abhängigkeit von fossilen Energien, der Überkonsum und die geplante Obsoleszenz der Massenware, die Verkehrung der Kultur in eine Unterhaltungsindustrie, die Versklavung des Geistes durch die Werbung, die Vorherrschaft des internationalen Finanzsystems über die Wirtschaft sowie die Instabilität desselben – all das sind Probleme, die in Forschungen und durch universitäre Institutionen entwickelten Ideen gründen. Labore, Fakultäten und Institute von Universitäten bilden die fragliche »Elite« aus. Sind es nicht Personen in Entscheidungspositionen und Spitzenleute, die kraft ihres an der Universität erworbenen, erprobten und anerkannten Wissens die Welt, in der wir leben, gestalten und modellieren?
Wir haben allen Grund, uns darüber Sorgen zu machen, insistiert Chris Hedges in The Empire of Illusions, denn »die Eliteuniversitäten haben jeder Selbstkritik abgeschworen. Sie weigern sich, ein System infrage zu stellen, dessen einziger Daseinsgrund sein Erhalt ist. In diesen Institutionen sind allein Organisation, Technologie, Beförderung und Informationssysteme von Bedeutung.« Aus der Universität ist eine Komponente des heutigen industriellen, finanzwirtschaftlichen und ideologischen Dispositivs geworden, nicht mehr und nicht weniger. In diesem Sinne reklamiert sie eine »Wissensökonomie« für sich, an der mitzuwirken sie sich brüstet. So liefert die Universität den Unternehmen Expertenwissen sowie entsprechend benötigtes Personal, bezahlt aus öffentlichen Mitteln. Für 500 Millionen Dollar verkauft das Energy Biosciences Institute der Universität Berkeley die Arbeit ihrer Forscher und die Ausrüstung an das Ölunternehmen British Petroleum (BP). »British Petroleum kann also eines seiner eigenen Forschungszentren schließen und von den durch die öffentliche Hand finanzierten Laboren profitieren«, muss Hedges schlussfolgern. In den Vereinigten Staaten und Kanada – bis man dies auch in Europa für eine gute Idee hält – gibt sich hier eine Universität den Namen Rockefeller, ziert dort ein Gebäude der Name Desmarais, wird hier ein Lehrstuhl von GoldCorp gestiftet, verliert dort ein Unterrichtsraum seine Nummer zugunsten der Bezeichnung PriceWaterhouseCoopers, ist hier ein Stipendium durch den untilgbar mit seinem Namen verbundenen Stifter Bosch auf ganz selbstverständliche Weise bekannt.
Die Universität hat zu ihren Kunden, welche die von ihr in Serie produzierten hellen Köpfe kaufen, ein Verhältnis von solcher Abhängigkeit entwickelt, dass selbst Max Weber sich verwundert die Augen gerieben hätte. Obwohl er bereits vor einhundert Jahren die »Mittelmäßigkeit« anprangerte, in der die Universität versank, indem sie ihre Organisation der allerorten grassierenden Kommerzialisierung opferte. Seinerzeit wurde der Inhalt der Kurse zur Ware, zugunsten von Kunden, die, wie sich herausstellte, die Studenten waren. Lehrende und Professoren blamierten sich, um Studenten für sich zu gewinnen, die von der Konkurrenz der Institutionen untereinander geplagt wurden. Das hat das Verhältnis zur Forschung dermaßen verdorben, dass in den Augen von Weber Entscheidungen und Auswahlprozesse, die Institutionen treffen, nur mehr dem reinen »Zufall« unterliegen. Der Forscher, getrieben durch unstillbare Leidenschaften, mächtige Ahnungen, eine selbstständige Einbildungskraft und den Sinn für Arbeit, konnte also den Wunsch, in seiner Arbeit erfolgreich zu sein, nur hegen, wenn er zu alldem noch ganz andere Gaben mitbringen würde, die es ihm ermöglichten, in den institutionellen Arkana zu Werke zu gehen. Indem sie derlei »äußere Bedingungen des Gelehrtenberufs« unumgänglich machte, wie Weber 1919 in seinem Aufsatz Wissenschaft als Beruf beschrieb, ermuntere die Institution zur Mittelmäßigkeit. »Es wäre unrecht, für den Umstand, dass zweifellos so viele Mittelmäßigkeiten an den Universitäten eine hervorragende Rolle spielen, persönliche Minderwertigkeiten von Fakultäten oder Ministerien verantwortlich zu machen. Sondern das liegt an den Gesetzen menschlichen Zusammenwirkens, zumal eines Zusammenwirkens mehrerer Körperschaften«.1
Das war alles noch gar nichts. Heutzutage sind die Studierenden keine Konsumenten von Lehre und Diplomen mehr, die auf dem Campus feilgeboten werden, sondern sie haben selbst den Status von Produkten erlangt. Die Universität verkauft, was sie aus ihnen macht, an private Unternehmen und andere, sie finanzierende Institutionen, kurz, ihre neuen Kunden. Der Präsident der Universität von Montréal hat dies im Herbst 2011 im Brustton der Überzeugung bestätigt: »Die Köpfe müssen den Wünschen der Unternehmen entsprechen.« So wurde die Institution bis hinein in ihre Entscheidungsgremien und Einflussgruppen von Beamten gemanagt, die den Sektoren Bank (Banque Nationale), Pharmazie (Jean Coutu), Industrie (SCN-Lavalin), Energie (Gaz Métro) oder Medien (Power Corporation und Transcontinental) entstammen. Der Geschäftsplan dieser Wissenszentrale ähnelte plötzlich den Zielen eines ganz gewöhnlichen Fernsehsenders, sofern er jene Erklärung von Patrick Le Lay, Intendant von TF1, ernst nahm, der 2004 verkündet hatte, sein Sender verkaufe »Zeit von verfügbarem menschlichem Geist« an Coca-Cola.
Libero Zuppiroli hat dasselbe in der Schweiz beobachtet. Als aus der École polytechnique von Lausanne das Swiss Institute of Technology Lausanne wurde, schossen plötzlich, unter Berufung auf Innovation, Exzellenz und Produktivität, seltsame Fächer wie Pilze aus dem Boden. Selbstverständlich unterstanden sie gänzlich kommerziellen Interessen, so zum Beispiel die angesagten Neurofinance-Theorien, ein neues Forschungsfeld, das »die Denkmechanismen, die den Handelsoperationen vorausgehen, besser zu verstehen beabsichtigt«. Nachzulesen in seinem Buch La bulle universitaire von 2010.
Die Institutionen, die die Universitäten evaluieren, kaprizieren sich schließlich auf quantitative (Anzahl der Veröffentlichungen von Professoren, Menge der diplomierten Studierenden, Rankings usw.), fetischistische (ausgewählte wissenschaftliche Zeitschriften, angesagte Themen, Zugehörigkeit zu Netzwerken, Veröffentlichungen in englischer Sprache usw.) und werbewirksame Elemente (Sponsoring, Partnerschaften, Medienpräsenz usw.).
Solche »Governance« der Universität erzeugt nicht nur Leerlauf, sie korrumpiert auch vollkommen die Institution, wie der Quebecer Soziologe Gilles Gagné am 10. März 2012 in der Zeitung Le Devoir ausgeführt hat: »Wenn ich ein Verfahren entwickle, um viereckige Tomaten herzustellen, und es an ein Unternehmen verkaufe, das das genial findet, weil so die Tomaten viel besser auf ihre viereckigen Hamburger passen, trage ich dann zur Allgemeinbildung bei? Nein. Ich trage zur Bildung jenes Typen bei, dessen Arbeit darin besteht, viereckige Hamburger im Auftrag des Unternehmens herzustellen, das seine Tomatenforschungen finanziert hat.«

Den Verstand verlieren

Das Denken wird mittelmäßig, sobald sich Forscher nicht mehr darum bemühen, den von ihnen erarbeiteten Aussagen Sinn zu verleihen. Ein anderer deutscher Denker des frühen 20. Jahrhunderts, Georg Simmel, prophezeite jenen Forschern, die in einer solchen Haltung verharrten, ein tragisches Schicksal. Als ob das Denken, ökonomisch auf Linie gebracht, die Mängel seiner eigenen Institution praktisch umsetzte. Es muss auf Biegen und Brechen Erkenntnisse produzieren, ganz gleich, ob sie der Welt von Nutzen sein können. Die Theorie selbst tendiert dazu, inflationär zu werden. Die Abhandlung Der Begriff und die Tragödie der Kultur spricht von einem derartigen Zwang zur Produktion, dass der Geist nicht mehr folgen, sich nicht mehr wiedererkennen, sich nicht mehr erklären kann. Die Maschine heult auf und produziert Wert nur, um einen strukturellen Produktivismus zu befriedigen, der mit dem singulären Akt des Denkens nichts mehr gemein hat. In erster Linie, weil die objektiven Elemente, durch die das Denken vermittelt wird, sprich, die Bücher, die Berichte und die Werke, die ihrerseits aus Theorien, Begriffen und Tatsachen bestehen, im Übermaß vorhanden sind. Es gibt dermaßen viel zu berücksichtigen, dass der Verstand den Weg, der ihn zur Ausarbeitung eines Werks führen soll, immer schon verstellt vorfindet. In derlei Sumpf wissenschaftlicher Produktion feststeckend, läuft er seinerseits Gefahr, dem Ganzen auch nur wieder einen weiteren Aspekt hinzuzufügen, was das Problem dann noch weiter verschärft. So entfernt man sich merklich vom Erkenntnisprozess, d. h. sich darüber bewusst zu werden, wozu der Geist imstande ist: »In dem Glück des Schaffenden an seinem Werk, so groß oder gering dies sei, liegt neben der Entladung der inneren Spannungen, dem Erweise der subjektiven Kraft, der Genugtuung über die erfüllte Forderung wahrscheinlich immer noch eine sozusagen objektive Befriedigtheit darüber, dass dieses Werk nun dasteht, dass der Kosmos der irgendwie wertvollen Dinge nun um dieses Stück reicher ist.«2 Der hegelsche Prozess des Geistes, den Simmel hier im Sinn hat, ist nicht mehr denkbar. Das Maß ist jetzt voll, der Weg zur Verwirklichung des Denkens verstopft. Der Produktivismus und sein Akkumulationsprozess haben den Sieg davongetragen. Die galoppierende Vervielfachung der Verweise und Bezüge blockiert den Geist in seiner langsamen und innigen Arbeit der Anverwandlung. So stellt sich Mittelmäßigkeit ein. Betäubt angesichts des Berges an Stoff, der sich vor ihm auftut, und gegenüber der unendlich kleinkarierten Fragestellung, der nachzugehen ihm angeboten wird, verliert der Forscher seinen Verstand. Es scheint kein Sinn mehr darin zu liegen, ein weiteres Werk zu vollenden und dem Kanon der Kultur hinzuzufügen, wenn man bedenkt, was die Alten bereits vollbracht haben. Also tauchen Bürohengste in Scharen auf, die sich ihrerseits mit der Produktion reihenweiser Erkenntnisse zufriedengeben, ohne sich um den tieferen Sinn zu scheren, den ihr Vorhaben darstellen könnte. Ein weithin anerkannter Philologe, der von Simmel als Beispiel herangezogen wird, produziert so auf massive Weise und ohne jedwede Perspektive Wissen.
»Die philologische Technik etwa ist einerseits zu einer unübertrefflichen Feinheit und methodischen Vollkommenheit entwickelt, anderseits wachsen die Gegenstände, die so zu bearbeiten ein wirkliches Interesse der geistigen Kultur ist, nicht sehr schnell nach, und so wird die philologische Bemühung vielfach zu einer Mikrologie, einem Pedantismus und einer Bearbeitung des Unwesentlichen – gleichsam ein Leergang der Methode, ein Weitergehen der sachlichen Norm, deren selbständiger Weg nicht mehr mit dem der Kultur als einer Lebensvollendung zusammenfällt. In vielen Wissenschaftsbezirken erwächst auf diese Weise das, was man das überflüssige Wissen nennen kann […]. Das ungeheure, auch durch ökonomische Gunst getragene Angebot von Kräften, die zu geistiger Produktion gewillt, oft auch begabt sind, hat zu einer Eigenwertung jeglicher wissenschaftlicher Arbeit geführt, deren Wert eben vielfach nur eine Konvention, beinahe eine Verschwörung der Gelehrtenkaste ist […].«3
Forschung geht damit in eine tragische Phase über. Je mehr die Institutionen produzieren, umso unmöglicher scheint es, derlei Produktion als nützlichen Beitrag zu integrieren und so weiter und so fort. Kulturelle Produktion wird dann aus ihrer subjektiven Verankerung herausgelöst und den autonomen Imperativen institutionalisierter Forschung unterworfen.

Von gelehrten Meinungsmachern

Innerhalb dieser »Ökonomie« kann es heutzutage vorkommen, dass die Universität keine Forschungsergebnisse mehr, sondern nur noch ihr Markenzeichen verkauft, das sie auf Berichte klatscht und dessen Rechte sie besitzt. Ein Kommunikationsunternehmen wie Edelman hält es für selbstverständlich, wenn es seinem Partner TransCanada, Betreiber einer quer durch Quebec verlaufenden Ölpipeline, den Vorschlag unterbreitet, einen Kommunikationsplan zu erstellen, damit das Projekt von der betroffenen Bevölkerung akzeptiert wird. Also raten Edelmans Strategen TransCanada, eine Quebecer Universität zu finanzieren, sodass ihre Forscher das Projekt als ökologisch unbedenklich einstufen. Sie weisen darauf hin, dass »eine groß angelegte Finanzierungskampagne« ausreichen sollte, um derlei Ergebnisse zu erhalten, »das könnte helfen zu zeigen, dass TransCanada solche Themen ernst nimmt, und ein besseres Bild abzugeben.« Das Papier wurde im November 2014 von Radio Canada öffentlich gemacht. Es fand sich niemand aus der Professorenschaft oder der Verwaltung, der die Situation anprangern und auf das womöglich Skandalöse der Aussage hindeuten wollte. Die Universitätsbeamten fühlten sich durch das öffentlich gemachte Dokument, das sie gleichwohl als korrumpiert darstellte, keineswegs in Verruf gebracht.
Da sie sich ohne Wenn und Aber großen Unternehmen sowie Machtinstitutionen angedient haben, sind die Forschungseinrichtungen nicht dabei stehengeblieben, Wissen an ihre Kunden zu verkaufen. Sie wurden auch zu Partnern in Sachen Manipulation. Für die Lobbyisten bleiben die Universitäten ein Ass im Ärmel, auch wenn sich ihre Praktiken als äußerst problematisch herausstellen. Falsch wäre es, derlei Aktivität nur auf die Anwerbung von Abgeordneten zu reduzieren, um sie dazu zu bringen, so oder so abzustimmen. Diese Meinungsexperten arbeiten noch viel umfassender daran, bestimmte Umstände zu kreieren, die die gewählten Repräsentanten, ohne sie unbedingt dazu auffordern zu müssen, dazu zwingen, ihre Entscheidungen in die eine oder andere Richtung zu lenken. Um direkt auf die Realität einzuwirken, versuchen die Lobbyisten ein ihren Interessen günstiges Klima zu erzeugen, etwa indem sie öffentlichkeitswirksam »Experten« zurate ziehen, die von der Industrie finanziert werden. Es ist das reinste Spektakel. Eric Eugène, der selbst als Lobbyist erfolgreich war, erläutert in seinem Insider-Bericht von 2002 Le Lobbying est-il une imposture? (»Lobbyismus, eine Täuschung«, Anm. d. Red.), dass seine Arbeit über unzählige Mittel verfügt, ein Ziel zu erreichen, eine Entscheidung seitens der Behörden zu erwirken, darunter Korruption, Einschüchterung, Manipulation und die Einleitung von Untersuchungen. Ihm zufolge ist es gang und gäbe, einen Gelehrten zu finden, der an dem ganzen Zirkus teilnimmt. Woher kommt der Experte, was ist sein Karriereplan? Arbeitet er im öffentlichen Sektor und, wenn dem so ist, denkt er, dort seine Karriere zu beenden, oder plant er, in den privaten Sektor zu wechseln? »Wer finanziert das (öffentliche oder privatwirtschaftliche) Labor, in dem er arbeitet? Klar ist, dass der Experte nicht unabhängig ist und dass seine Arbeiten zwangsläufig durch die Art der Finanzierung beeinflusst sind«, schreibt er reumütig in seinem Buch.
Was nun die Pipeline in Quebec anbelangt, so schlug Edelmann TransCanada einerseits vor, Detektive auf die gegen das Projekt protestierenden Umweltschützer anzusetzen, sie gegebenenfalls mittels Veröffentlichungen finanzieller oder strafrechtlicher Art zu diskreditieren, und andererseits überall der Ölindustrie wohlgesonnene Demonstrationen zu organisieren und deren »Aktivisten« direkt zu finanzieren. Die Agentur hatte ebenfalls die Idee, etliche Internetuser dafür zu bezahlen, die sozialen Medien mit ihrer Botschaft zu überschwemmen. Politiker wie Pierre Marc Johnson, Lucien Bouchard und Monique Jérôme-Forget, die das Projekt unterstützten, wären ebenso zu einem Beitrag herangezogen worden, wenn der fragliche Plan in den Medien keinen Anklang gefunden hätte. In einer solchen Gemengelage treten schließlich, wie so oft, die Wissenschaftler von der Universität auf den Plan. Sie müssen nur das Spiel mitspielen und den Anschein wahren, ohne zu viele Fragen zu stellen über die Sache, an der sie mitwirken.

Es ist dröge: Es ist Wissenschaft

Der Dünkel des Wissensmanagers ist stets derselbe: sich für jemanden ausgeben, der über die Sprache vorherrscht, und so tun, als ob man, wie es gerade beliebt, die Signale einsetzen könnte, auf welche die Sprache reduziert wird, um mit ihrer Hilfe seine Mitbürger dazu zu bringen, Geld in die eigene Richtung zu lenken. Man entfernt aus einem Antrag dieses aus der Mode gekommene Wort, und setzt, obwohl man ihn kaum kennt, auf jenen Ausdruck, der in aller Munde ist; dann vollzieht man einen regelrechten lexikalischen Slalom mit einer Reihe von hinzugestellten Begriffen, um ein kunterbuntes Durcheinander von warm und kalt, Engel und Dämon, Käuflichkeit und Ethik, Konsens und Revolution zu entfalten. Die Großspurigkeit zeigt sich letztlich in dem Versprechen, dass an jenem Tag eine andere Haltung eingenommen wird, an dem der sprichwörtliche Schatz gefunden worden ist: Ich glaube zwar kein Wort von dem Geschwafel meines Drittmittelantrags, doch man gebe mir Geld und werde sehen, aus welchem Holz ich geschnitzt bin. Als sei man stärker als die Wörter, mit denen man paktiert hat, als besäße man die Sprache und nicht umgekehrt. Was hat man doch Blanchot nicht gelesen, was hat man doch Derrida links liegen lassen, was hat man doch Lacan nicht verstanden, was verhöhnt man doch Kristeva! Sobald sie von den Institutionen der Macht für ihre Feigheit belohnt worden sind, werden diese Söldner des Wortes spröde und steril, vergessen sie kritische Begriffe, von denen sie sich abgewendet haben, klammern sie sich an ihre Geschäftspartner wie an Bojen und sind schon damit beschäftigt, sich bei ihresgleichen zu revanchieren, indem sie dieselben Ideologeme in den von ihnen geteilten Ausdrücken gebrauchen.
Bereits seit vielen Jahrzehnten, wenn nicht gar teilweise seit ihrer modernen Neugründung, arbeitet die Universität daran, für all jene manipulierbar zu werden, die sie zu finanzieren wünschen. Das Buch Mittelmaß und Wahnsinn von Hans Magnus Enzensberger erinnert an die weit zurückreichende Herkunft des Problems:
»Den Zweck, den die Alphabetisierung der Bevölkerung verfolgte, hatte nichts mit Aufklärung zu tun. Die Menschenfreunde und die Priester der Kultur, die für sie eintraten, waren nur Handlanger der kapitalistischen Industrie, die vom Staat verlangte, dass er ihr qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stellte. […] Von einem ganz anderen Fortschritt war die Rede. Er bestand darin, die Analphabeten, diese »allerniedrigste Menschenklasse«, zu zähmen, ihnen ihre Phantasie und ihren Eigensinn auszutreiben und fortan nicht nur ihre Muskelkraft und ihr handwerkliches Geschick, sondern auch ihre Gehirne auszubeuten.«4
Der Habitus des Akademikers besteht darin, sich dominieren zu lassen. Da er sich in vollkommen desolater Lage befindet, scheint allein Geld seinen Praktiken Festigkeit zu verleihen. Welche Form seine eigene Sprache innerhalb der Forschungsarbeit annimmt, leitet sich aus dieser Kapitulation ab. Im universitären Schreiben herrscht eine implizite Regel vor – und sie wird alsgleich explizit gemacht, sobald jemand gegen sie verstößt –, nämlich, dass der Wissenschaft eine Prosa angemessen ist, deren Ton neutral, gesetzt und ausgewogen ist. Dröge, wenn möglich. Stilistisch betrachtet muss eine Aussage, die den Status als Wissen beansprucht, um die Achse der goldenen Mitte oszillieren. Ist das nicht der Fall, macht sich Unbehagen breit. Ein angesehener Professor wird ein Thema aufgreifen, sobald es in einer Weise präsentiert wird, die mit den Erfordernissen objektiven Denkens nichts zu tun hat. Wenn ihm Darstellung und Form den Anforderungen des Milieus unangemessen erscheinen, er die Relevanz aber anerkennt, dann lässt er sich vielleicht noch dazu herab, es wieder aufzugreifen, jedoch ohne sich namentlich darauf zu beziehen. Denn der Ton ist entscheidend.
Der Ton hat in erster Linie etwas mit der Wortwahl zu tun. Vorzugsweise sollen, um eine Sache zu bezeichnen, Begriffe mit wissenschaftlichem Anstrich verwendet werden, und sei es nur, um anzudeuten, dass der entwickelte Gedanke nicht in situ eingeschrieben ist. Zum Beispiel nicht von »Geld« sprechen, sondern nur von »Geldmitteln«. Ebenso keine Ausdrücke gebrauchen, die in der Vergangenheit emotional aufgeladen waren: also vermeiden, von »politischen Unruhen« zu sprechen, und stattdessen »Resilienz« sagen. Nicht von »Klassen« handeln, sondern von sozialen »Kategorien«. Man hat sogar schon die Nase bei dem Ausdruck »Steuergerechtigkeit« gerümpft – »zu politisch«.
Anschließend geht es darum, bekannte gesellschaftliche Akteure nicht mit schonungslosen Begriffen zu überziehen, vor allem dann, wenn sie über große Macht verfügen wie etwa multinationale Konzerne. Man könnte darin eine Form von Ressentiment erkennen, das, würde der Soziologe Max Weber streng ausgelegt, der Forderung nach axiologischer Neutralität zuwiderläuft. Um derlei unangenehme Eindrücke zu vermeiden, sollte man besser jedwedes Strafrechtsvokabular vermeiden und so tun, als ob ausschließlich Juristen zu dessen Verwendung berechtigt wären – gegebenenfalls von »zweifelhaften Aktionen« und »schlechter Governance« sprechen und nicht so sehr von »Verbrechen« und »Plünderungen«. Begriffe des Str...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Inhalt
  3. Vorwort zur deutschen Ausgabe
  4. Einleitung
  5. 1 Das »Wissen« und die Expertise
  6. 2 Die Wirtschaft und das Finanzwesen
  7. 3 Kultur und Zivilisation
  8. 4 Die Revolution: Enden, was der gemeinsamen Sache schadet
  9. Danksagung
  10. Anmerkungen