Der längste Krieg
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Der längste Krieg

20 Jahre War on Terror

  1. 176 Seiten
  2. German
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Der längste Krieg

20 Jahre War on Terror

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Mit der Operation Enduring Freedom begann am 7. Oktober 2001 der "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan, der bis heute zum längsten Krieg der USA und ihrer Verbündeten geworden ist, mit Tausenden Toten und Verletzen, auch unter den deutschen Soldaten. Dieser neokoloniale "Kreuzzug" hat Wunden hinterlassen, die womöglich niemals heilen werden. Emran Feroz beschreibt zum 20. Jahrestag diesen Krieg nun erstmals aus afghanischer Perspektive. Er hat mit vielen Menschen vor Ort gesprochen: von Hamid Karzai über Taliban-Offizielle bis zu betroffenen Bürgern, die vor allem unter diesem Krieg gelitten haben.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783864898334

Die sechs großen Vergehen des »War on Terror« in Afghanistan

Erstes Vergehen: Mehr Terror durch Folter

Rund eine Stunde von Kabul entfernt liegt nahe der Stadt Bagram der gleichnamige Militärstützpunkt der Vereinigten Staaten. Bagram ist die größte Basis, die von den Amerikanern am Hindukusch errichtet wurde. In den letzten Jahren wurde Bagram nicht nur zur wichtigsten Schaltzentrale der US-Invasion in Afghanistan, lange war hier auch ein Militärgefängnis, in dem tagtäglich gefoltert wurde – eine Art afghanisches Guantanamo, wahrscheinlich sogar um einiges schlimmer. 2014 wurde bekannt, dass im US-Gefangenenlager auf Guantanamo nicht nur gefoltert, sondern auch gemordet wurde. Im Jahr 2006 sollen mindestens drei Häftlinge von der CIA während der »Verhöre«, sprich, der Folter, getötet worden sein. Der Tod der drei Männer, bei denen es sich um zwei Saudi-Araber sowie einen Jemeniten handelte, wurde vom Geheimdienst im Nachhinein als Suizid getarnt. Dass dieser faktisch unmöglich gewesen sein soll, hat ein ehemaliger Wärter des Gefangenenlagers daraufhin bestätigt. Im selben Jahr erschien auch der CIA-Folterreport (offiziell »Committee Study of the CIA’s Detention and Interrogation Program – Findings and Conclusions«). Dieser fokussierte sich allerdings in erster Linie gar nicht auf das Folterlager in Guantanamo, sondern auf Bagram sowie einige andere Geheimgefängnisse der CIA, der sogenannten »black sites«, die nicht nur in Afghanistan zu finden waren, sondern über den gesamten Globus verstreut waren und auch in einigen europäischen Staaten lokalisiert wurden, darunter etwa Polen oder Rumänien.1 Bevor jedoch die meisten Gefangenen nach Kuba gebracht wurden, wurden sie in der afghanischen Folterhölle eingesperrt und verhört. Ein Blick hinter die Kulissen von Bagram macht deutlich, dass in Guantanamo im Vergleich – so zynisch es auch klingen mag – fast schon ein gewisser Luxus herrschte.
Die Geschichte des afghanischen Luftwaffenstützpunkts geht Jahrzehnte zurück. Der Grundstein wurde schon in den 1950er-Jahren von den Sowjets gelegt. Damals errichteten die Afghanen mithilfe ihrer sowjetischen Verbündeten ihren größten Militärflugplatz. Später, nachdem die Invasion der Roten Armee am Hindukusch begann, fungierte Bagram als wichtigster sowjetischer Stützpunkt. Auch damals wurde die Basis zum Dreh- und Angelpunkt der interventionistischen Unterdrückung. Sowjetische Kampfhubschrauber verließen regelmäßig die Basis, um afghanische Dörfer zu bombardieren, während elitäre Speznaz-Einheiten sich auf brutale »Antiterror-Razzien« vorbereiteten. Bis heute sind sowjetische Veteranen in globale Konflikte verwickelt. 2021 wurde etwa bekannt, dass Söldner der russischen »Gruppe Wagner« im Auftrag Moskaus weiterhin »Antiterroreinsätze« in Syrien und anderen Ländern durchführen.2 Als einige Jahre später die Amerikaner ihren Krieg begannen, stand das etwas verfallene Bagram praktisch schon bereit – und wurde massiv ausgebaut. Bereits in den ersten Jahren des »War on Terror« erreichte die Basis die Dimension einer Kleinstadt. Allein das Vorfeld des Luftwaffenstützpunktes umfasst mindestens 130 000 Quadratmeter. Im Laufe der Besatzung wurde die Infrastruktur in Bagram speziell für die amerikanischen Truppen sowie ihre afghanischen Verbündeten ausgerichtet. Mitten in dieser obskuren Parallelwelt, in der sich Fitnessclubs, Coffeeshops oder auch US-amerikanische Fastfood-Ketten wie »Burger King« oder »Kentucky Fried Chicken« finden ließen, wurden zahlreiche Menschen ohne Anklage festgehalten und gefoltert, manchmal sogar bis zum Tod. Für Gefangene wie dem in Deutschland geborenen Türken Murat Kurnaz oder dem Mauretanier Mohamedou Ould Slahi, dessen Guantanamo-Tagebuch veröffentlicht wurde, während er selbst in Guantanamo verharrte, war Bagram die letzte Station vor Guantanamo. Der Fall Slahi macht bis heute deutlich, dass nicht jeder Mensch, der im Umfeld der »arabischen Afghanen« agierte, per se als »Terrorist« zu betrachten ist. Der Mauretanier, der unter anderem auch in Deutschland lebte, schloss sich erst Anfang der 1990er-Jahre den Mudschaheddin an, um das kommunistische Regime in Kabul und seine sowjetischen Verbündeten zu bekämpfen. Der Grund waren nicht nur die Reden von Männern wie Abdullah Azzam, sondern vor allem die Kriegsszenen aus Afghanistan, die medial verbreitet wurden. »Ich stellte mir folgende Frage: Wie kann solch eine Ungerechtigkeit existieren und warum tut niemand etwas dagegen?«, erinnert sich Slahi.3 Für ihn war klar, dass die Afghanen aufgrund ihres Glaubens unterdrückt und massakriert wurden. Nachdem Slahi jedoch nach Afghanistan reiste, fiel ihm ein anderes Bild auf. Obwohl die Gräuel der Sowjets für ihn weiterhin ersichtlich waren, bemerkte er auch die grassierende Korruption und den Führerkult bei afghanischen Mudschaheddin-Kommandanten. Seine Annahme wurde bestätigt, nachdem das kommunistische Regime in Kabul 1992 gefallen war und sich viele Mudschaheddin-Gruppierungen nun gegenseitig bekriegten. »Damit wollte ich nichts mehr zu tun haben. Ich verließ daraufhin Afghanistan und fokussierte mich auf mein altes Leben«, erzählt Slahi, der einst einen bescheidenen Alltag verbrachte. Mittels seines Ingenieurstudiums im Ausland wollte er seiner armen Familie in Mauretanien zu einem besseren Leben verhelfen. »Schaffe, schaffe, Häusle baue! Das war mein Plan«, sagt er mir im fließenden Schwäbisch, welches er nach seinen Jahren in Baden-Württemberg bis heute nicht verlernt hat. Slahis Pläne wurden allerdings zerstört. Er wurde von seiner Vergangenheit eingeholt und landete 2002 über Bagram in Guantanamo. Der Grund lässt sich wie folgt zusammenfassen: Slahi war mit den falschen Menschen (arabische Mudschaheddin-Kämpfer, die teils Al-Qaida angehörten) zur falschen Zeit (Anfang der 1990er-Jahre) am falschen Ort (Afghanistan und Pakistan). Einer seiner Cousins stieg sogar zum Berater Osama bin Ladens auf. All dies und einige andere unglückliche Zufälle reichten aus, Mohamedou Ould Slahi 14 Jahre lang von den Amerikanern völkerrechtswidrig gefangen zu halten und zu foltern. In seinem Buch beschreibt der Mauretanier sein Martyrium sehr ausführlich. Unter anderem wurde er sexuell missbraucht, zwangsernährt und regelmäßig verprügelt. Trotz dieser Erfahrungen ist Slahi ein äußerst positiver und optimistischer Mensch geblieben. Grund hierfür ist auch ein Mann namens Brandon Neely, der einst in Guantanamo als Gefängniswärter tätig war und sich mit Slahi befreundete. Heute gehört Neely zu den größten Kritikern des Foltergefängnisses und verlangt dessen Schließung. Dass die Pforten Guantanamos nach vier Jahrzehnten »War on Terror« und vier verschiedenen US-Präsidenten weiterhin geöffnet sind, ist ein Skandal, der seinesgleichen sucht. Doch während das US-Gefängnis in Kuba sich im Gedächtnis vieler Menschen eingebrannt hat, ist dies bei Bagram nicht der Fall. »Bagram war schlimmer als Guantanamo. Es gab dort keine Regeln. Ich verbrachte dort drei Wochen und war froh, als mir gesagt wurde, dass man mich nach Guantanamo bringen würde«, resümiert Slahi. Mittlerweile ist der Fall Slahi auch dank eines jüngst erschienenen Hollywoodstreifens einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Man könnte diesbezüglich wohl von einer Art »positiver Propaganda« sprechen, denn Popkultur kann sehr wohl konstruktiv und bildungstechnisch eingesetzt werden, um jene Menschen zu erreichen, die nicht zum Buch Slahis oder anderweitiger kritischer Literatur in Sachen »War on Terror« greifen. Dank des Films Der Mauretanier wird eine kritische Diskussion rund um Guantanamo fortgesetzt. Gegenwärtig befinden sich 39 Gefangene weiterhin in den Zellen des Gefängnisses auf Kuba. Insgesamt wurden rund 800 Menschen jahrelang ohne jegliche Anklage in Guantanamo festgehalten. Es handelte sich bei ihnen ausschließlich um muslimische Männer. Jene, die nach Jahren der Folter in die Freiheit entlassen wurden, hat man weder entschädigt noch anderweitig unterstützt. Stattdessen haben viele der Opfer mit gravierenden Problemen zu kämpfen. Der sichtlich gealterte Mohamedou Ould Slahi lebt mittlerweile in seiner mauretanischen Heimat, doch ihm wird seitens seiner eigenen Regierung die Aushändigung eines Reisepasses verwehrt. »Gebt ihm einen Pass«, hieß es deshalb seitens der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im Juni 2019. Kritiker behaupten, dass Slahis Bewegungsfreiheit mit Absicht unterdrückt wird, um seine Präsenz auf politischen Veranstaltungen und Lesungen in anderen Ländern zu verhindern.
Die meisten Häftlinge in Bagram waren Afghanen, die oftmals namenlos und unbekannt blieben und noch weniger mit Terrorgruppierungen in Verbindung standen als ein Mohamedou Ould Slahi. Ein gutes Beispiel hierfür ist Dilawar Yaqubi, ein Bauer und Taxifahrer aus der südostafghanischen Provinz Khost. Im Dezember 2002 wurde Yaqubi gemeinsam mit drei seiner Passagiere nach Bagram verschleppt. Eine lokale Miliz, die mit dem US-Militär und der CIA zusammenarbeitete und willkürlich nach »Terrorverdächtigen« jagte, um diese den Amerikanern für hohe Summen auszuliefern, war für seine Festnahme verantwortlich. In Bagram wurde Yaqubi von US-Soldaten drangsaliert und missbraucht. Ihm wurden die Schultern ausgekugelt. Seine Beine wurden zu Brei geschlagen und im Anschluss amputiert. Nach fünf Tagen verstarb Yaqubi in Bagram. Zwei seiner Passagiere, Abdul Rahim und Zakim Shah, durchgingen ein ähnliches Foltermartyrium. Sie überlebten allerdings und wurden im Februar sowie im März 2003 nach Guantanamo gebracht. Nach rund einem Jahr wurden die beiden Männer aus der Haft entlassen.4
Eine Dokumentation über den ermordeten Dilawar Yaqubi wurde mit einem Oscar ausgezeichnet. Auf Gerechtigkeit oder eine Art der Entschädigung wartet seine Familie bis heute. Eine besonders grausame Praxis aus Bagram wurde vom deutschen Publizisten Jürgen Todenhöfer beschrieben. In Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden gibt Todenhöfer die Aussagen eines ehemaligen US-Soldaten wieder, der im Buch Jack genannt wird. Dieser beschreibt, wie Gefangene in Bagram mithilfe von Kampfhunden vergewaltigt wurden. »Sie hätten sogar den Mord an Kennedy zugegeben«, resümierte Jack. Nachdem der Soldat eine solche Prozedur miterlebt hatte, verließ er das US-Militär und nahm einen Job bei einer privaten Söldnerfirma an. Die Praxis erschien in Anbetracht der bekannten Gräuel alles andere als unrealistisch. Da Todenhöfer allerdings nur Jack als Quelle nannte und seine Arbeit allgemein kritisch und teils auch als unglaubwürdig betrachtet wird, wollte ich nachhaken. In den allermeisten Fällen waren bei solchen »Verhören« nämlich nicht nur amerikanische Soldaten präsent, sondern auch afghanische Dolmetscher, die mit Beginn des »War on Terror« massenweise rekrutiert worden waren und im Gegensatz zu den meisten anderen Afghanen durch ihre Arbeit viel Geld verdienten. Auch unter den Dolmetschern gab es verschiedene Ränge. Es gab Männer für einfache Befragungen und Interviews, meist mit Einheimischen oder afghanischem Sicherheitspersonal, oder jene, die mit den US-Spezialeinheiten nachts gemeinsam ausschwärmten, um »Terroristen« zu jagen und brutale Razzien durchzuführen. Derartige Dolmetscher pflegten meist enge Freundschaften mit den ausländischen Soldaten und wurden als fester Bestandteil des Teams betrachtet – und sie wurden auch in Foltergefängnissen wie jenem in Bagram eingesetzt, wo sie nicht selten an den Folterverhören teilnahmen. Die afghanische Dolmetscherindustrie ist ein komplexes Thema. Von den Taliban werden die Helfer der ausländischen Streitkräfte bis heute gejagt und ermordet; da sie als Verräter betrachtet werden. Eine gewisse Abneigung den Dolmetschern gegenüber ist allerdings in weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft, teils auch in der Diaspora, spürbar. Aus diesem Grund haben die USA und ihre Verbündeten viele – nicht alle! – ihrer Dolmetscher außer Landes gebracht. Im Süden der Vereinigten Staaten lassen sich zum Teil ganze Dolmetschersiedlungen finden. Die Betroffenen erhielten meist nach konkreten Drohungen ein amerikanisches Visum oder eine Greencard, mit der sie sich fern von Afghanistan ein neues Leben aufbauen konnten. Viele von ihnen sind heute als Uber-Fahrer oder Imbissbudenbesitzer tätig. Die Wenigsten sprechen über ihre einstige Arbeit, was ihnen seitens der US-Behörden auch gar nicht erlaubt wäre: Ihre Aufenthaltserlaubnis ist an eine Schweigepflicht geknüpft. Hinzu kommt, dass viele Dolmetscher, ähnlich wie die meisten Kriegsveteranen, an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Jüngst fand die Thematik sogar Eingang in die amerikanische Popkultur. 2021 erschien etwa die Comedyserie »United States of Al«, in der die Flucht eines afghanischen Dolmetschers behandelt wird. Awalmir, der den Spitznamen »Al« trägt, wird dabei von der Familie eines ehemaligen US-Elitesoldaten aufgenommen. Das Aufeinandertreffen der amerikanischen und der afghanischen Kultur wird mit Witz und Charme inszeniert. Bereits nach der Pilotfolge kritisierten viele Afghanen die Darstellung des feminin angehauchten Alwamirs, der in orientalistischer Manier von seinem »starken« Kampfgefährten empfangen und in die amerikanische Kultur eingeführt wurde. Viele Dolmetscher und andere Helfer wurden von ihren westlichen Arbeitgebern allerdings im Stich gelassen und werden in Afghanistan von den Taliban und anderen Extremisten bedroht. Oft sind es bürokratische Hürden, auch in Deutschland, die ihre Flucht verhindern.
Nicht kritisiert wurde jedoch, dass die Arbeit jener Dolmetscher, die mit den US-Streitkräften und anderen NATO-Truppen zusammenarbeiteten, in der US-Serie überhaupt nicht hinterfragt wurde. »Wir haben schlimme Dinge getan«, erzählte mir Mohammad, Ende dreißig. Sein echter Name wird aus offensichtlichen Gründen hier nicht genannt. Mohammad lebt mittlerweile in den USA. Zuvor war er jahrelang als Dolmetscher für US-Spezialeinheiten, die vor allem im Südosten des Landes agierten, tätig. Außerdem gehört er zu jenen afghanischen Dolmetschern, die in die Vereinigten Staaten gebracht wurden, bevor sie überhaupt selbst irgendeinen Antrag stellten. Vor einigen Jahren war Mohammad in Kabul mit seinem Fahrer unterwegs. Plötzlich wurde das Auto von US-Soldaten angehalten. Mohammads Fahrer wurde aus dem Wagen gerissen und verhaftet. Der verdutzte Dolmetscher dachte anfangs, dass es sich um ein Missverständnis handeln muss. Kurz darauf erklärten ihm seine amerikanischen Kollegen, dass Mohammads Fahrer schon seit längerem überwacht wurde aufgrund mutmaßlicher Verbindungen zu den Taliban. »Mein Fahrer hatte mich verkauft. Er wollte mich ihnen ausliefern«, erinnert sich Mohammad. Wenige Tage darauf verließ er Afghanistan zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern. Mit seinen ehemaligen Kollegen pflegt Mohammad weiterhin freundschaftlichen Kontakt, auch wenn er auf seine Arbeit als Dolmetscher heute weniger stolz zu sein scheint. »Viele Dolmetscher waren unfähig. Sie waren oft der Sprache nicht mächtig oder spielten den Amerikanern falsche Informationen zu«, erinnert er sich. Die Vielsprachigkeit und Multikulturalität Afghanistans wurden von den westlichen Truppen in vielerlei Hinsicht massiv unterschätzt. Viele Dolmetscher sprachen meist etwa nur Dari, das afghanische Persisch, während in vielen Regionen des Landes, insbesondere in den Kriegsgebieten Paschtu gesprochen wird – die Sprache der Paschtunen, die zahlreiche Dialekte aufweist. Auf diesen Umstand wies auch der niederländische Afghanistanveteran Nikko Norte in einem Interview mit dem Podcast »The Afghan Eye« hin.5 Hinzu kam, dass viele Übersetzer aus urbanen Gebieten stammten und deshalb oder aufgrund von ethnischen oder stammesspezifischen Differenzen der ländlichen Bevölkerung gegenüber verächtlich oder rassistisch eingestellt waren. Auf die Frage, ob er selbst an Folterverhören beteiligt war, wollte Mohammad während unseres Gesprächs nicht eingehen. Die Aussagen des Soldaten Jack aus Todenhöfers Buch überraschen ihn allerdings keineswegs. »Solche Dinge gehörten dort zum Alltag. Für die meisten Beteiligten war das kein Problem. Sie dachten sowieso, dass jeder ein Terrorist sei und deshalb auch solche ›Strafen‹ verdient hätte«, sagt Mohammad. Sein Resümee: Das Gefangenenlager auf Guantanamo war im Vergleich zu den afghanischen Folterhöllen eine Insel der Seligen.
Der vollständige CIA-Folterreport liegt der Öffentlichkeit bis heute nicht vor, 9 000 Seiten stehen weiterhin unter Verschluss. Ob Vergewaltigungen unter Einsatz von Kampfhunden darin beschrieben werden, lässt sich nur mutmaßen. Allerdings waren die veröffentlichten Teile des Berichts für viele Leser bereits schlimm genug. Ob rektale Zwangsernährung, die Isolation in mittelalterlichen Kerkern, Waterboarding oder psychologische Folter – zu all diesen Dingen lässt sich genug finden. Am 10. Dezember 2013, einen Tag nach der Veröffentlichung des CIA-Berichts, wurde die Kontrolle des Gefängnisses in Bagram der afghanischen Regierung übergeben. Dass sich seitdem die Situation in den Zellen verbessert hat, ist unwahrscheinlich. Washingtons afghanische Verbündete, darunter etwa Armee und Militär, sind bekannt für ihre Folterpraktiken und haben das »Handwerk« teils von der CIA übernommen. Anfang Juli 2021 wurde der Militärstützpunkt Bagram von den US-Truppen im Rahmen des NATO-Abzugs verlassen. Der Fokus der internationalen Berichterstattung lag in erster Linie auf den Soldaten sowie dem Erstarken der Taliban und nicht auf den Gräuel, die hinter den Mauern des Militärstützpunktes begangen wurden. Dabei lässt sich das eine kaum vom anderen trennen. Viele Afghanen, die in den letzten zwei Jahrzehnten in Bagram oder Guantanamo gefoltert wurden, haben sich radikalisiert. In vielen Fällen gehörten sie keiner extremistischen Gruppierung vor ihrer Festnahme an, allerdings schlossen sie sich diesen nach ihrer Freilassung an. Deutlich wurde dies etwa im Kontext des US-Taliban-Deals, der Ende Februar 2020 zwischen den Taliban und der amerikanischen Regierung abgeschlossen wurde. Eine Klausel des Deals sah die Freilassung von mehreren Tausend Gefangenen vor, die in Bagram und anderswo verharrten. Nicht jeder dieser Männer war ein Mitglied der Taliban. Viele von ihnen landeten dank des Einsatzes ihrer Familienangehörigen oder Stammesmitglieder auf jenen Listen. Viele dieser Gefangenen kehrten allerdings nicht nur nach Hause zurück, sondern waren plötzlich auf dem Schlachtfeld auffindbar, um sich an jenen Afghanen zu rächen, die sie einst verhaften und foltern ließen. Ein prominentes und fatales Beispiel dieser Art von Radikalisierung ist der Fall des ehemaligen Taliban-Kommandanten und Ex-Guantanamo-Häftlings Mullah Abdul Rauf Khadim, der zu den ersten Vertretern des sogenannten »Islamischen Staates« (IS) in Afghanistan gehörte. Khadim galt als stellvertretender IS-Gouverneur in Afghanistan und soll im Auftrag des selbsternannten Kalifen Abu Bakr al Baghdadi Männer rekrutiert haben. Er gehörte einst den Taliban an, doch seine Gefangennahme und Folter radikalisierte ihn weiterhin, sodass er nach seiner Freilassung und Rückkehr zwischen 2014 und 2015 dem damals neu in Erscheinung getretenen IS die Treue schwor. Nicht nur in Afghanistan, sondern auch anderswo ist der IS als eine direkte Folge des »War on Terror« zu betrachten. Führende IS-Köpfe aus dem Irak und Syrien befanden sich einst in US-Gefangenschaft und waren ebenfalls zahlreicher Gräuel seitens amerikanischer Soldaten ausgesetzt. Der mittlerweile getötete IS-Kalif Baghdadi befand sich einst in US-Gefangenschaft im berühmt-berüchtigten Camp Bucca nahe der irakischen Hafenstadt Umm Qasr. Dort lernte ­Baghdadi auch seinen späteren Nachfolger, Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi, kennen. Al-Qurashi gilt bis heute als Kopf des IS.6 7
Die afghanische IS-Zelle bekämpft nicht nur die Kabuler Regierung und die NATO-Truppen, sondern auch die Taliban, die sie aufgrund ihrer Takfir-Ideologie als Frevler betrachten. Mullah Khadims IS-Karriere war allerdings eine kurze. Im Februar 2015 wurde er gemeinsam mit sechs weiteren Personen durch einen amerikanischen Drohnenangriff in der südlichen Provinz Helmand getötet. Der Terror des IS in Afghanistan ist allerdings weiter präsent. In den letzten Jahren kam es zu verheerenden Anschlägen, die Hunderten von Menschen das Leben kosteten. Zum Ziel der Terrorgruppierung wurden vor allem religiöse Minderheiten wie schiitische Muslime oder Sikhs. Diese sektiererische Ebene des Konflikts ist ebenfalls als ein Auswuchs des »War on Terror« zu betrachten. Ein Auswuchs, der in amerikanischen Folterhöllen mitgezüchtet wurde.8

Zweites Vergehen: Kreuzzügler-Kultur

Bis heute werden die meisten westlichen Truppen, die in den letzten zwanzig Jahren an der afghanischen Front gekämpft haben, als »die Guten« dargestellt. Egal ob Briten, Amerikaner oder Deutsche, sie waren allesamt am Hindukusch stationiert, um Frieden, Freiheit und Demokratie zu verbreiten. Wer dieses Narrativ hinterfragte, brach ein Tabu. Weder in den Vereinigten Staaten noch in Europa oder Australien wollte man das Handeln der eigenen Soldaten hinterfragen. Die emotionale Nähe zu den Soldaten bestand von Anfang an. Man hielt sie medial und politisch aufrecht, indem Journalisten »embedded« wurden und die Truppen vor Ort während ihrer Missionen begleiteten oder westliche Politiker mitsamt kugelsicherer Westen den Militärlagern der NATO in neokolonialer Manier einen Besuch abstatteten, um abermals einige Floskeln abzulassen und die Soldaten für den Kampf gegen die »Barbaren« einzustimmen. Die Vereinigten Staaten hielten ihre Truppen bei Laune, indem man ihnen bekannte Hollywoodschauspieler oder anderweitiges prominentes Personal zur Unterhaltung schickte. Mithilfe solcher propagandistischen Mittel wurde der westlichen Welt permanent vorgegaukelt, dass in Afghanistan alles in Ordnung sei. Man befinde sich lediglich in einem legitimen Krieg gegen eine der letzten Bastionen der Barbarei. Im Gegensatz zum Irakkrieg entwickelte sich der Konflikt in Afghanistan zum »good war«, zum »guten Krieg«. Westliche Kriegsverbrechen, die sich hier in den letzten zwei Jahrzehnten ereigneten, wurden permanent heruntergespielt, beiseitegedrängt, ignoriert oder bewusst vertuscht. Jene, die ans Licht kamen, stellte man als »unglückliche Einzelfälle« dar. Es handelte sich bei ihnen um Ausnahmen, die nichts mit dem Rest der Soldaten zu tun hatten. Doch nach zwanzig Jahren Besatzung bröckelt der schöne Schein zunehmend. Viele Afghanen hegen keine Sympathien für die Taliban oder andere militante Bewegungen, doch für ausländische Besatzer haben sie dennoch nicht viel übrig. Ihnen ist bewusst, dass es sich bei ihnen in erster Linie um Menschen ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Inhalt
  3. Einleitung
  4. Wie der »Kreuzzug« begann: Der Pate des Dschihad
  5. Das ideologische Gerüst des »War on Terror«
  6. Auszüge des Grauens
  7. Die sechs großen Vergehen des »War on Terror« in Afghanistan
  8. Ernüchternde Realitäten
  9. Quo vadis, Afghanistan?
  10. Anmerkungen