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Von der Alltagssprache zur Fachsprache
Sprachebenen im Unterricht aus der Sicht von Deutsch, Mathematik, Physik, Biologie und Chemie
Fritz Schweiger
(Fast) alles ist Zahl
Eine kleine Kulturgeschichte der Mathematik und ihrer Sprache
1. Einleitung
An den Anfang wollen wir das berühmte Zitat aus dem Saggiatore Galileo Galileis setzen:
La filosofia è scritta in questo grandissimo libro che continuamente ci sta aperto innanzi a gli occhi (io dico l’universo), ma non si può intendere se prima non s’impara a intender la lingua, e conoscer i caratteri, ne’ quali è scritto. Egli è scritto in lingua matematica, e i caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche […]. (Galilei 1623, S. 631)
Die Philosophie ist in dem großartigen Buche niedergeschrieben, das immer offen vor unseren Augen liegt (ich meine das Universum). Aber man kann es erst lesen, wenn man die Sprache erlernt und sich die Zeichen vertraut macht, in denen es geschrieben ist. Es ist in mathematischer Sprache geschrieben, und die Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren […].
Dieser Gedanke wird auch von Werner Heisenberg aufgegriffen:
Im Grunde war ich mit meiner Freude an der mathematischen Beschreibung der Natur […] auf den einen Grundzug des abendländischen Denkens überhaupt gestoßen, nämlich eben auf die […] Verbindung der prinzipiellen Fragestellung mit dem praktischen Handeln. Die Mathematik ist sozusagen die Sprache, in der die Frage gestellt und beantwortet werden kann, aber die Frage selbst zielt auf einen Vorgang in der praktischen materiellen Welt; die Geometrie zum Beispiel diente der Vermessung von Ackerland. (Heisenberg 1955, S. 40)
Eine Einführung in die Probleme Sprache und Mathematik bietet Maier/Schweiger (1999). Einen kurz gefassten Überblick über gewisse Aspekte findet man in Schweiger (2005). In diesem Essay soll dargestellt werden, wie wesentliche Entwicklungslinien des mathematischen Registers (dies ist das Subsystem einer natürlichen Sprache, das durch ein spezielles Vokabular und durch mathematische Zeichen angereichert, der sprachlichen Kodierung mathematischer Tätigkeiten und Ideen dient) durch die Zahl geprägt sind.
2. Strategien mathematischer Tätigkeit
Zählen und Messen stehen wohl am Ursprung der Mathematik und sind zutiefst mit sprachlichen Ausdrücken verbunden. Wir folgen zunächst der klassischen Sprachlehre, wenn wir uns den Umständen des Ortes, der Zeit, der Weise und des Grundes zuwenden.
Lokale Bestimmungen stehen auf die Fragen: Wo? Wohin? Woher? Wie weit (hoch, tief, lang, breit)? Qualitative Antworten überwiegen zunächst.
»Wo warst Du gestern Abend?« – »Mit meiner Freundin in der Disco in Krähwinkel.« – »Wo ist denn das?« – »In der Nähe.« – »Was heißt das, zu Fuß oder mit dem Auto?« – »Ja, etwa 20 km südlich vom Stadtzentrum, aber wegen des dichten Verkehrs haben wir über eine halbe Stunde gebraucht.« Plötzlich sind die (mathematischen) Begriffe der Orientierung und des Messens da. Das Messen ist Zählen mittels eines konventionellen Maßstabes.
Hatte man früher von einem Tagesmarsch gesprochen und Tücher mit Ellen gemessen, so hat sich allmählich herausgebildet, dass ein konventioneller Maßstab präziser und verlässlicher ist, wenn man das Zählen voraussetzt. Alte Längen, Flächen- und Raummaße können eine Fundgrube für sprachgeschichtliche Überlegungen sein. Die Verwendung vielerlei Maße führte letztlich dazu, dass man in Paris das Urmeter aufbewahrte, um auf der ganzen Erde einen verlässlichen Maßstab einzuführen: das Meter.
Bündelung und Teilung gestatteten eine Vermehrung der Begriffe: Kilometer und Millimeter, die allmählich von der mathematisch durchsichtigen Schreibweise 103 m und 10-3 m abgelöst werden.
Die lokalen Bestimmungen »nah« und »fern« verlangen früher oder später nach Präzisierung; die Richtungsangaben »südlich«, »westlich«, »östlich« und »nördlich« sind für Navigation zu ungenau, man muss Winkel und Winkelmessung einführen. Ein rechter Winkel, das ist eine Vierteldrehung (da gebrauchen wir eine wichtige Strategie: das Teilen), aber, wenn es genauer werden soll, so besteht ein rechter Winkel aus 90 kleinen Schritten, die Drehung um 1° genannt werden.
Auch der folgende Dialog ist aufschlussreich: »Wie alt sind Sie?« – »Nicht mehr der Jüngste.« – »Als Arzt muss ich das schon genauer wissen.« – »Ja, 63 Jahre, geboren am 29. Februar 1946.« – »Das kann nicht stimmen, denn 1946 war kein Schaltjahr.« – »Entschuldigung, ich wollte 23. Februar sagen.«
Die Zählung von Schaltjahren nach einem Algorithmus modulo 4 kommt noch hinzu! Auch hier überwiegen zunächst qualitative Aussagen, aber unsere Kultur verlangt mehr. Die Zählung der Jahre und die Erfindung von Kalendern sind uraltes Kulturgut. Das eigentümliche Mischsystem unserer Kalenderangaben (Zählung der Tage, Benennung der Monate nach einer konventionellen Zwölferreihe, Zählung der Jahre) ist bemerkenswert, wobei zusehends auf Angaben wie 290246 (siehe E-Card) umgestiegen wird. Dafür sind physikalische Tatsachen verantwortlich, nämlich die (näherungsweise bestehende) Inkommensurabilität von Tageslänge und Jahreslänge bzw. Mondumlauf (wenn man andere Kalenderformen hinzunimmt). Die mathematisch bemerkenswerte Tatsache, dass man auf das Jahr 1 vor Christi Geburt gleich das Jahr 1 nach Christi Geburt folgen ließ (und das Jahr 0 übersprungen hatte!), führte zumindest um die letzte Jahrtausendwende zu einigen heiteren Disputen, wann denn das dritte Jahrtausend beginne.
Bündeln und Teilen sind auch hier am Werk, wenn auch nicht immer systematisch. Der Tag ist von Natur aus vorgegeben. Die Woche hat 7 Tage, aber der Monat kann verschieden viele Tage beinhalten. Der Tag wird konventionell in 24 Stunden eingeteilt, die Stunde in 60 Minuten, die Minute in 60 Sekunden. Bis hierher reicht das Erbe Babylons, dann verwendet man Zehntel- und Hundertstelsekunden.
Maß- und Wertangaben können durch konventionelle Maßstäbe verfeinert werden. »Max verdient mehr als Moritz« – »Ja, geht es nicht genauer?« – »Max hat im Monat rund 800,– € mehr auf seinem Gehaltszettel« – »Nun, wenn das Brutto bedeutet, brauche ich noch mehr Informationen um zu wissen, wie viel das Netto ist.«
Modale Bestimmungen sind gegen Mathematisierung zunächst sperrig. Sie ist schön wie eine Fee, er ist charmant wie ein echter Gentleman. Da haben Zahlen nichts verloren, außer im Umweg über begleitende Zählungen: Sie verdient als Model über 100.000,– € im Jahr, er hat schon mehr als ein Dutzend Heiratsanträge erhalten. Ob damit (und mit dem derzeit überbordenden Gebrauch von Kennzahlen) Wesentliches erfasst wird, mag dahin gestellt bleiben.
Eine Art modaler Bestimmung hat sich lange der Quantifizierung widersetzt. »Morgen wird es wahrscheinlich regnen, aber übermorgen scheint sicher wieder die Sonne.« – »Ich habe 2 kg Kirschen gekauft, aber die ersten beiden sind wurmig. Sind wohl alle Kirschen verdorben?« Wahrscheinlichkeit in Zahlen auszudrücken ist nur sinnvoll, wenn Ereignisse oft stattfinden oder zumindest stattfinden könnten! Darum gehen die ersten mathematischen Überlegungen auf das Würfel- und Kartenspiel zurück, bevor die industrielle Revolution und die Naturwissenschaften der Wahrscheinlichkeitstheorie und der Statistik eine neue Rolle zugeschrieben haben. »Ich bin mir 100 % sicher« kann daher nur metaphorisch verstanden werden, wie die Aussage »Dies ist ein tiefer Gedanke«, da es für Gedankentiefe keine Maßeinheit gibt. Auch die Ansicht, dass unser Leben im Kosmos ein Zufall sei, verwendet (vorläufig) den Begriff Zufall bloß im Sinne »Ursache unbekannt«.
Man sieht, die Sprache ist reich an Wörtern und Begriffen, die auf Präzisierung drängen und Mathematik ist eine Möglichkeit dazu. Grundlegend dafür sind der Begriff der Zahl und die damit verbundene Tätigkeit des Zählens. Zur Weiterentwicklung der Sprache sind dazu Zahlwörter entstanden. In diesem Aufsatz sei nur auf Grundzahlwörter eingegangen, obgleich gerade in den abgeleiteten Zahlwörtern viel implizite Mathematik enthalten ist. Die Anfänge der Zahlwortreihe werden mit dem Erwerb der Sprache gelernt. Diese Zahlwörter sind opak, d.h. man muss sie einfach lernen: eins, zwei, drei, vier … Im Fremdsprachenunterricht passiert Ähnliches: un, deux, trois, quatre … Dann sind verschiedene Schichten erkennbar: elf und zwölf entstanden aus »eins-darüber« und »zwei-darüber« (nämlich über zehn), aber von dreizehn bis neunzehn wird (im Deutschen!) einfach addiert. Die Zahlen zwanzig bis neunzig lassen ein wenig System erkennen (obgleich *zweizig und *dreizig besser ins System passen würden!). Die Umstellung dieser Zahlen mit eingefügtem »und« hat schon viele irritiert: einundzwanzig, neununddreißig usw. Dann werden kühn Brückenpfeiler geschlagen: hundert, tausend, (eine) Million. Es kann reizvoll sein, wenn im Fremdsprachenunterricht auf die Unterschiede der Wortbildung eingegangen wird. Der Erwerb der Zahlreihe kann als abgeschlossen angesehen werden, wenn die darunter liegende Grammatik verstanden wird, d.h. ein Kind versteht den Sinn etwa von »einhundertdreiundsechzig«, obwohl es diese Zahl vorher nie gehört oder verwendet hat.
Das Messen ist auf dem Zählen aufgebaut. Im ersten Schritt wird abgezählt, wie oft eine gegebene Maßeinheit nötig ist. Das Messen hat, wie schon erwähnt, zur Präzisierung zweier wichtiger Schritte Anlass gegeben, das Bündeln und das Teilen. Auch hier ist die Alltagssprache reich an Ausdrücken: eine Herde Kühe, ein Büschel Bananen, ein Stapel Bücher. Für den Handel und andere Zwecke ist eine Präzisierung notwendig, durch die Anzahl der Objekte (es wurden 67 Kühe verkauft, eine Kiste Bier enthält 20 Flaschen), oder durch die Anzahl der Maßeinheiten (ein Büschel Bananen wiegt etwa 40 kg). Neben die Währungseinheit 1 Euro tritt die kleinere Einheit 1 Cent, neben die Stunde die Minute. Die Idee der Verwendung kleinerer Einheiten war es,...