Arnold Gehlen und die Suche nach dem Kontakt mit der Wirklichkeit
VON MICHAEL WLADIKA
Arnold Gehlen (1904–1976) war Philosoph, Soziologe, Psychologe, Historiker. Er schrieb, sehr früh, ein Buch mit dem Titel Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), das ihn ganz weit bekannt machte. Es folgten, Jahre später, noch zwei weitere ganz große Bücher, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1956) sowie Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960). Dazu kommen zeit- und gesellschaftsdiagnostische Bestseller, vor allem Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft (1949). Dazu kommt natürlich auch viel Streit, Polemik, „Diskussion“, im Fernsehen und anderswo.
Und dann ist da noch ein Buch, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik (1969), eine Kritik des Liberalismus, noch einmal Nietzsche-Nachfolge, auch eine gewisse Genealogie der Moral: der Mensch als sichverkleinerndes Tier, wieder wichtig, aber schon auch Phrasendreschen und Reden enthaltend. Allein, auch da muss man aufpassen, man kann bei Gehlen leicht an den Falschen geraten.
Nur zwei Stimmen, aus sehr unterschiedlicher Richtung, vorweg:
Günter Rohrmoser: „Arnold Gehlen ist neben Martin Heidegger zweifellos der bedeutendste deutsche Philosoph seiner Epoche.“1
Herbert Schnädelbach: „So ist Arnold Gehlen einer der wenigen wirklich bedeutenden Rechts-Intellektuellen, die Deutschland in unserem Jahrhundert hervorbrachte. Er ist der Nestor des deutschen Neokonservatismus und zugleich der eigentliche Begründer der Philosophischen Anthropologie, die ebenfalls eine deutsche Spezialität ist.2 In der konservativen Publizistik gibt es kein einziges Argument, das sich nicht – wenn es nicht von Carl Schmitt stammt – bereits bei Gehlen finden ließe. … Der Aufklärer muss immer daran denken: Der Konservative könnte recht haben! Arnold Gehlen könnte recht haben!“3
So unterschiedliche Denker wie Theodor W. Adorno,4 Bruno Liebrucks5 und Hans-Georg Gadamer6 sind von Gehlen offensichtlich fasziniert, diskutieren ihn oder diskutieren mit ihm. Da ist also einiges im Spiel. Man muss einige Deutungsprobleme auflösen. Arnold Gehlen, er hat Jahrhundertbücher geschrieben, Dinge, die bleiben und die weiterhin enorm nützlich sind. Er hat große Theorien und er ist auf der Suche nach Wirklichkeit.
Die Menschen
Gehlen hat eine Theorie des Menschen, eine Philosophische Anthropologie im emphatischen Sinne. In Der Mensch wird eine komplizierte Theorie eines einheitlichen, explizit nicht-dualistisch, explizit anti-cartesianisch gefassten Lebewesens Mensch entwickelt. Ich nenne einige anthropologische Kategorien, die entdeckt werden, und bringe ein paar wichtige Zitate.
Der Mensch ist ein ganz erstaunliches Wesen. Er hat eine unbedingte Sonderstellung. Anthropologie ist keineswegs „allenfalls das letzte Kapitel einer Zoologie“7.
Es ist unsinnig zu versuchen, Menschliches aus Tierischem „mit Hilfe der grenzenlosen Bereitwilligkeit des Begriffs ‚Entwicklung‘ abzuleiten“.8 Das hat zunächst einen, wenn man so will, negativen Grund: „Der Mensch muss sein Wesen deuten.“9 Er ist ein „stellungnehmendes Wesen“,10 weil er „ein in gewisser Weise ‚unfertiges‘“11 Wesen ist. Er ist das nicht festgestellte Tier. Er ist umweltfrei. Er ist weltoffen.12 Er muss sich, weil er unfertig ist, erst zu etwas machen. Und das wiederum ist „nur angesichts eines Bildes von sich möglich“13. Das ist alles sehr erklärungsstark. Gehlen will exakt biologisch denken.14 Das heißt, wenn es um den Menschen geht, denkt er ihn „anthropo-biologisch“.15
„Worin besteht … die anthropo-biologische Fragestellung? Sie besteht allein in der Frage nach den Existenzbedingungen des Menschen.“16 Diese sind sehr riskiert. So aber muss es sein, wenn denn ein Handeln sein können soll. „Er verhält sich zu sich selbst, lebensnotwendig, wie dies kein Tier tut; er lebt nicht, … er führt sein Leben. Nicht aus Spaß, und nicht zum Luxus des Nachdenkens, sondern aus ernster Not.“17
Alles Menschliche nun ist – dies ist für die anti-dualistische Erklärung entscheidend – in den vitalen Schichten schon vorberücksichtigt. Der Mensch ist ein oder vielmehr das Mängelwesen.18 Wenn ich also oben sagte, dass er eine unbedingte Sonderstellung hat, so heißt das, dass er diese insgesamt hat, in allen seinen Schichten. Heike Delitz formuliert das schön so: „Es geht darum, dass schon unser Körper ‚untierisch‘ ist: Es gibt kein Tier in uns.“19 Diese negative Seite, die morphologisch durch Mängel bestimmte Stellung des Menschen, die fehlende instinktive Sicherheit usw., hat eine positive Seite: Diese Mängel sind ungeheuer produktiv.
Der Mensch muss aus Not heraus Stellung nehmen. Warum muss er das? Weil er nicht feststeht. Jetzt positiv formuliert: Der Mensch ist das handelnde Wesen. Das ist nach Gehlen zunächst und, was seine expliziten Aussagen angeht, auch zuletzt die Wesensaussage: „Wir werden … den Menschen als handelndes Wesen definieren.“20 Da ist eine Natur und ein Naturentwurf: „Im Menschen liegt ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur vor.“21
Es ist da eine große Theorie der Selbstformung und Selbststeigerung des Menschen. Es ist nicht so, dass das Tier schon sehr viel kann und der Mensch dann noch etwas hinzu. Vielmehr ist der Mensch von Natur aus nicht natürlich, sondern handlungsartige Selbstformungsaktivität. Die Variabilität des Lebens22 drückt sich in ihm als Handlung aus. Der Kern – hier kann man durchaus von Metaphysik sprechen, wogegen Gehlen Einspruch erheben würde, denn hier ist seine Sicht und Redeweise populär23 – ist das Leben, wie es sich im Menschen aktiviert.
Man kann, man muss an Arthur Schopenhauer denken. Vor allem an Textpassagen wie diese:
„I...