1 Krankenhausführung und Digitalisierungsstrategie
Pierre-Michael Meier
Themen und Lernziele
• Strategische Aspekte der Digitalisierung und aktuelle Entwicklungen
• Von der digitalen Transformation von Geschäftsprozesse bis zur Disruption von Geschäftsmodellen
• Digitalisierung im Zeichen des Krankenhauszukunftsgesetzes
• Unternehmensführung Projektmanagement und Risikosteuerung
• Digitale Reifegrad Messung von 52 Deutschen Kliniken im internationalen Vergleich
1.1 Strategische Aspekte der Digitalisierung
Die ganze Welt spricht von Digitalisierung und digitaler Transformation. Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde noch von EDV (Elektronische Datenverarbeitung) und noch nicht mal von Health-IT (Information Technology) gesprochen.
Eine einfache Unterscheidung ist sicherlich, dass
• IT in der Gesundheitswirtschaft alles an Hard- und Software im Bereich Informations-, Kommunikations-, Leit- und Medizintechnik ist und mittels IT nutzenstiftende Lösungen für Probleme in analogen oder teilweise elektronisch organisierten Prozessen (Medienbrüche) erarbeitet werden können,
• digitale Transformation etablierte und funktionale Geschäftsprozesse, ob analog oder elektronisch, dekonstruiert, um neue Geschäftsmodelle zu etablieren, wobei von Disruption gesprochen wird, wenn sich die Geschäftsmodelle dadurch auszeichnen, dass diese den etablierten Wettbewerb zeitnah auslöschen. Ist der Erfolg des Geschäftsmodells weniger fundamental, wird von Transformation oder gar Evolution gesprochen, wobei das sogenannte Kerngeschäft darin besteht, mit Daten und Informationen Geld zu verdienen und somit »Information Management«. In der Branche Gesundheitswirtschaft sprechen wir zwangsläufig vom strategischen Health Information Management (HIM) (
Abb. 1.1).
Abb. 1.1: Wo stehen Sie als Institution, nicht als natürliche Person? Reden Sie noch von IT oder schon von strategischem Health Information Management (HIM)?
Die Wortwahl »nutzenstiftend« ist eine positive Kommunikation. Als Bürger dieses Landes kann man zu der Wahrnehmung gelangen, dass IT oder umgangssprachlich die Digitalisierung durchweg positiv betrachtet wird, wenn man sich vor Augen führt, dass lt. Wikipedia 64,8 Millionen Deutsche bzw. 86 Prozent der Bevölkerung über ein Smartphone verfügen (Statista 2021).
Wird die beschreibende Wortwahl »Dekonstruktion von Geschäftsprozessen bis zu Disruption von Geschäftsmodellen« verwendet, so ist die Wahrnehmung richtig, dass hier eine Risikokommunikation gewählt wird, d. h.: Was wird die Folge der Digitalisierung sein, wenn die Akteure die Veränderungen nicht antizipieren oder sogar mitgestalten.
Erfahrungen in der digitalen Disruption machen wir täglich als »Konsument«. In den Gesundheitswirtschaften erlebten wir im Jahr 2020 die Disruption anhand der COVID-19 Pandemie sehr eindringlich – Videosprechstunden wurden in nicht für möglich erachteter Anzahl nachgefragt. Beispiele von Rady Children‘s Hospital aus San Diego zeigten Anstiege von acht auf 800 Videosprechstunden pro Montag. Die Frage, die überall gestellt wird, ist die, wie der Patient und sein Smartphone bzw. der Bürger mit seiner individuellen Gesundheitsakte oder persönlichen Konsumenten-Patientenakte im Zusammenwirken mit den institutionellen Patientenakten der Leistungserbringer die Prozesse und Strukturen verändern wird, und zwar ohne Rücksicht auf die Normen und Regeln der jeweiligen nationalen Gesundheitssystemgestaltung, d. h. bei uns der Selbstverwaltung. Auf dem Kongress zu Krankenhausführung und digitaler Transformation am 13. und 14. Mai 2020 der AHIME (Association of Health Information Management Executives) und der ENTSCHEIDERFABRIK im digitalen Live Stream erhielten die TeilnehmerInnen von den Referenten aus San Diego Antworten. Sie konnten sich davon überzeugen, wie Klinikgruppen bzw. ganze Health-Care-Systeme bestehend aus ambulanten und stationären Leistungserbringern und Kostenträgern mit bis zu 94 Anbietern von individuellen Gesundheitsakten in sämtlichen pre-akutstationären, akutstationären und post-akutstationären Prozessschritten interagierten und die Patienten je nach Bedürfnis oder Indikation mit unterschiedlichsten mobilen Smartphone-Apps auf eben diese individuellen Gesundheitsakten zugriffen und Daten mit den institutionellen Patientenakten z. B. der Kliniken mehrmals im Behandlungsprozess austauschten.
Führen wir uns nun vor Augen, dass 2018 weit mehr als 64 Millionen Smartphones in Deutschland genutzt wurden, so ist offensichtlich, dass das Individuum mit seinem Endgerät immer und mit den aktuellsten Updates und Upgrades zu jeder Zeit »ready« für die digitale Patientenakte ist, zumal Anbieter schon heute den Austausch mit den institutionellen Patientenakten nach ihrem Industriestandard propagieren. Jedoch müssen sich die Leistungserbringer erst noch in größerer Anzahl auf den Weg in das Zeitalter des Health Information Management (HIM) machen und somit auch operativ ihre gesamte IT-Landschaft hin zu einer Plattformstrategie mit Archiv- und Interoperabilitätsplattform, der Trennung von Befundung und Archivierung, der Anbindung von nutzenstiftenden Mehrwertapplikationen etc. umbauen (
Abb. 1.2,
Abb. 1.3,
Abb. 1.4,
Abb. 1.5,
Abb. 1.6,
Abb. 1.7).
Die Interaktion von individuellen Gesundheitsakten mit institutionellen Patientenakten ist eine Dekonstruktion von bisher etablierten und auch bereits gedachten Geschäftsprozessen. Es werden also neue Geschäftsprozesse in der Medizin konstruiert, » medizinische Services«. Die Frage, die sich in diesem Werk wie selbstverständlich stellen muss, ist, werden wir auch eine Disruption bei den medizinischen Services haben – was ist mit Big Data, Clinical Data Decision Support Systems etc.? Wer wird der Treiber der Interaktion zwischen institutionellen Patientenakten und individuellen Gesundheitsakten sein? Wer wird der Treiber disruptiver medizinischer Services in Deutschland sein?
Treiber der Kommunikation zwischen institutionellen Patientenakten und individuellen Gesundheitsakten sind bei über 67 Millionen Smartphones in Deutschland – die Altersgruppe, die noch zweistellige Zuwachsraten verzeichnet, ist älter als 65...