Im Namen der Opfer
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Im Namen der Opfer

Das Versagen der UNO und der internationalen Politik in Syrien

  1. 200 Seiten
  2. German
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Im Namen der Opfer

Das Versagen der UNO und der internationalen Politik in Syrien

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Über dieses Buch

Dieses Buch ist ein unerschrockenes Statement im Namen der Opfer ĂŒber den einsamen und verzweifelten Kampf von Carla del Ponte fĂŒr Menschenrechte und fĂŒr den Frieden. Carla del Ponte erhielt im FrĂŒhjahr 2018 den Deutschen Friedenspreis.Im Oktober 2017 gab Carla del Ponte ĂŒberraschend ihren RĂŒcktritt als UNO-Sonderberichterstatterin von Syrien bekannt. Die frĂŒhere UNO-ChefanklĂ€gerin Carla del Ponte wirft der internationalen Gemeinschaft im Syrienkonflikt kollektives Versagen vor. GrĂ€ueltaten, wie etwa jene der Terrororganisation IS, habe sie zuvor noch nie gesehen, nicht in Jugoslawien, nicht in Ruanda.»Syrien ist ein Land ohne Zukunft. Sie zerstören alles, was irgendwie menschlich ist. Es ist unfassbar. Es gibt keine Schulen mehr, nur noch wenige SpitĂ€ler, kaum etwas zu essen und keine Institutionen. So schlimme Verbrechen wie in Syrien begangen werden, habe ich weder in Ruanda noch in Ex-Jugoslawien gesehen. Alle in Syrien sind böse. Die Regierung Assad, die schreckliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verĂŒbt und Chemiewaffen einsetzt. Doch keiner hilft. Die internationale Politik schaut weg und die UNO resigniert«, so del Ponte. Carla del Ponte erzĂ€hlt schonungslos ĂŒber das Gemetzel im Nahen Osten, ihren Besuchen in den FlĂŒchtlingscamps, den GesprĂ€chen mit den Regierungen der USA, Russland, TĂŒrkei und der UN, der verpassten Chance auf Frieden sowie das fehlende Wollen und die UnfĂ€higkeit der internationalen Staatengemeinschaft (UN) und der Politik.

HĂ€ufig gestellte Fragen

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Information

Mord und Totschlag werden Alltag
Als ich Kofi Annan in Genf begegnete, war der starke Mann der UNO ausgebrannt. Er hatte seine Syrien-Mission zur hoffnungslosen Sache erklĂ€rt und war als Gesandter fĂŒr Syrien zurĂŒckgetreten. Annan war nicht mehr der Mann, den ich kennengelernt hatte und der ein »Nein« nicht gelten ließ. Ich erinnerte mich, wie er im Sommer 1999 um ein Treffen ersuchte, ich war BundesanwĂ€ltin, und in den Niederlanden sollte der Posten der ChefanklĂ€gerin besetzt werden. Ich glaubte nicht an eine reelle Chance, aber da man eine Einladung des GeneralsekretĂ€rs der Vereinten Nationen nicht ohne Weiteres ausschlagen kann, reiste ich nach New York. Die Hauptadresse der UNO liegt am Ostufer Manhattans. Wer das erste Mal zu diesem unpersönlich wirkenden Monolithen aufsieht, vor dem die Flaggen der Mitgliedsstaaten wehen, mag etwas eingeschĂŒchtert sein. Nicht, wenn man im Maggiatal aufgewachsen ist. Unsere Berge ĂŒberragen mĂŒhelos jeden Wolkenkratzer. Immerhin, dachte ich anerkennend, selbst wenn er auf einem ehemaligen SchlachthofgelĂ€nde erbaut ist, dieser Bau steht fĂŒr die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, den Schutz der Menschenrechte.
Im Sekretariatshochhaus ließ Kofi Annan seine diplomatische Kunst auf mich wirken. Er wollte mich als »Madame Prosecutor« des Internationalen Strafgerichts haben. Unser Staatssekretariat hatte meinen Namen ins Spiel gebracht, wohl als Wild Card, denn die Schweiz strĂ€ubte sich ja seit Ewigkeiten gegen den Beitritt zu den Vereinten Nationen, um die NeutralitĂ€t zu wahren und noch aus anderen GrĂŒnden. Ruth Dreifuss hatte das symbolische Potenzial erfasst, eine Schweizerin auf diesen Posten zu setzen: Die hohe internationale Ausstrahlung war praktisch garantiert. Ich vermutete, auch Kofi hatte Hintergedanken, allerdings andere: Die NATO hatte soeben Serbien bombardiert. Da stellte ich wohl die gutschweizerische Kompromisslösung dar. Ich konnte nachempfinden, wie eine Braut sich bei einer Zwangsheirat fĂŒhlt. Wie man weiß, hat Kofi Annan seinen Willen bekommen – und ich das Amt der ChefanklĂ€gerin. Ich vergaß nie, wie er mich anstrahlte: »Wenn es nicht klappt, geben Sie einfach mir die Schuld.«
Jetzt hatte seine eigene schwierige Mission »nicht geklappt«, und Annan strahlte nicht mehr. Er habe »nicht alle UnterstĂŒtzung bekommen, die der Fall verdient«, gab er als BegrĂŒndung zum RĂŒcktritt als Gesandter fĂŒr Syrien an. Gleichzeitig sparte er nicht mit Kritik an der Uneinigkeit des Sicherheitsrats. »Es gibt Unstimmigkeiten innerhalb der internationalen Gemeinschaft.« Damit sprach er auch die Rolle der USA und der Golf-Anrainerstaaten an, die den politischen Verhandlungsspielraum ausgeschöpft sahen und die militĂ€rische Lösung befĂŒrworteten. Sicher war: Mit Kofi Annans RĂŒcktritt schwanden die Aussichten auf eine diplomatische Lösung in diesem Gemetzel. Die Veto-Stimmen von Russland und China hatten mittlerweile drei Syrien-Resolutionen verhindert. Die fĂŒnf VetomĂ€chte blockierten gegenseitig die Möglichkeit von Sanktionen gegen Assad.
Dass der Weg ĂŒber den Sicherheitsrat in eine Sackgasse fĂŒhren konnte, hatte Annan mir schon vor Jahren auseinandergesetzt. Es war in New York, der Sicherheitsrat hatte mir als ChefanklĂ€gerin gerade einen weiteren Stein in den Weg gelegt, und ich stĂŒrmte frustriert in Annans BĂŒro im 38. Stock. Man muss dazu wissen, der Weg zum GeneralsekretĂ€r fĂŒhrt ĂŒber mehrere Vorzimmer, in denen man von Assistenten ausgebremst wird. Als ich hereinplatzte, verlieh mir mein Ärger noch immer genĂŒgend Schwung. »Herr GeneralsekretĂ€r!«, begann ich, und dann machte ich mir in einer minutenlangen Tirade Luft. Annan ließ mich ausreden, unterbrach mich mit keinem Wort. Dann blickte er mich einen Moment lang an. »Carla, der Sicherheitsrat ist eine politische Institution, die politische Entscheidungen fĂ€llt«, klĂ€rte er mich auf, »nicht juristische«, und der Ton seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er selbst seine MĂŒhe damit hatte.
Ihn nun in Genf so resigniert zu sehen, hĂ€tte meine Alarmglocken anschlagen sollen. Aber gerade war mein kriminologischer Jagdinstinkt geweckt. Wir sandten die 12 Ermittler aus, sobald wir von möglichen Verbrechen hörten, meist in Teams zu dreien oder vieren. In Libanon, Jordanien, Irak und den anderen NachbarlĂ€ndern verblieben sie in der Regel zwei bis drei Wochen, bis sie alles aufgenommen hatten, was zur AufklĂ€rung beitragen könnte. Ich brannte darauf, die TĂ€ter im »heißen Stuhl« vor mir zu haben, hatte mich doch die Arbeit als BundesanwĂ€ltin gelehrt, dass man dem GegenĂŒber ins Auge blicken muss. Die ersten Minuten eines Verhörs sind die wichtigsten. Die Befragungstechnik hatte mir als junge StaatsanwĂ€ltin einer der Besten auf diesem Gebiet beigebracht, Giovanni Falcone, der sizilianische Untersuchungsrichter, der wusste, wie man einen Mafioso anpacken muss. Ich wollte mich jedoch nicht in die Arbeit der Ermittler einmischen. Nichtsdestotrotz, ein schriftlicher Bericht lĂ€sst sich nicht mit einer persönlichen Einvernahme vergleichen. Aber genau das erhielten wir: schriftliche Berichte. NatĂŒrlich erforderte es ausgezeichnete Kenntnisse der UmstĂ€nde, der Sprache und der lokalen GebrĂ€uche, um die Puzzleteile dieser Auseinandersetzungen richtig zusammenzusetzen. Doch manchmal, so musste ich feststellen, fehlten in den AbklĂ€rungen wichtige Teilchen fĂŒr das Gesamtbild.
Immerhin konnte ich den Ermittlern meine Fragen mit auf den Weg geben. Ich wĂŒnschte in bestimmten FĂ€llen spezifische AuskĂŒnfte. Die Antwort, die ich nach der RĂŒckkehr jeweils erhielt, war ernĂŒchternd: »Wir sind fĂŒr umfangreichere Ermittlungen einfach zu wenige Leute, Frau Del Ponte.« Das stimmte allerdings. Die Mittel der Syrien-Kommission waren nicht zu vergleichen mit den Mitteln, die ich am ICTY zur VerfĂŒgung gehabt hatte. Damals beschĂ€ftigte die Anklagebehörde insgesamt 600 Personen, RechtsanwĂ€lte, Ermittlungsbeamte, Psychologen und Dolmetscher. Hier wĂŒrden wir, wie man so schön sagt, kleinere Brötchen backen mĂŒssen. Aber auch kleine Ermittlungserfolge sind wertvoll. Rein hierarchisch gesehen waren die Ermittler der Kommission unterstellt. Doch Paulo SĂ©rgio Pinheiro hatte sich entschieden, diese Verantwortung auf seinen »Coordinator« zu ĂŒbertragen, der die Ermittler anleitete. Paulo selbst wollte auf den humanitĂ€ren Teil des Mandats fokussieren. Ich blieb fokussiert auf das Verbrechen. Auch die anderen zwei Kommissionsmitglieder wiederholten immerzu das Mantra der Menschenrechte.
Ich saß also auf dem Beifahrersitz. Aber ich saß im Wagen. Vielleicht könnte ich trotzdem das Ziel ansteuern, den Sicherheitsrat dazu zu bringen, Schritte zur Strafverfolgung zu unternehmen. In dieser Absicht stimmten Paulo und ich ĂŒberein. Was nicht heißen soll, dass er Anstalten unternahm, sich stĂ€rker dieser Seite des Mandats zu widmen. Eine Anklageschrift vorzubereiten, quasi die Blaupause fĂŒr einen spĂ€teren Strafgerichtshof in Syrien, ging ihm zu weit. »Das geht doch nicht! Wir sind kein StaatsanwaltsbĂŒro, Carla, finde dich damit ab.« Über diesen strittigen Punkt debattierten wir oft und energisch. Damals war das Einvernehmen noch gut.
So beschrĂ€nkten wir uns darauf, die sogenannte »Crime Base« zu ermitteln: Zeitpunkt und Ort, Vorgang und Art des Verbrechens. Nicht aber den Verbrecher selbst. Wenn es zu einem Fliegerangriff kam, hĂ€tte die Frage meines Erachtens lauten mĂŒssen: Woher kamen die Flugzeuge? Welche Beweise haben wir dafĂŒr, von wo sie gestartet sind? Und wer, am Ende einer militĂ€rischen Befehlskette, hat den Angriffsbefehl gegeben? Wer innerhalb der syrischen Regierung oder der Oppositionsgruppe zeichnet persönlich verantwortlich? Solche Feststellungen waren von immenser Wichtigkeit, weil sich in diesem Konflikt so viele Interessengruppen gegenĂŒberstanden, dass selbst die Verletzten manchmal nicht mehr sagen konnten, wessen Opfer sie geworden waren.
Sind schon die Gruppen der Opposition in ihren AusprĂ€gungen schwer zu unterscheiden, so gliederten sich auch die Regierungstruppen in eine Vielzahl von Einheiten. Assads stehendes Heer, das 300 000 Mann starke MilitĂ€r, teilte sich in Armee, Marine und LuftstreitkrĂ€fte auf. Ihr Auftrag war die Verteidigung des nationalen Territoriums und die Abwehr aller internen Feinde. Das MilitĂ€r bestand aus drei Korps mit 12 Divisionen: sieben gepanzerte, drei mechanisierte sowie die Republikanische Garde und die Spezialeinheiten. Die 10 000 Gardesoldaten, die direkt dem PrĂ€sidenten unterstanden, zĂ€hlten zur Elite. Sie sollten AufstĂ€nde von Regimekritikern niederwerfen. Die 20 000 Mann der 4. Division wurden kommandiert von Maher al-Assad, dem Bruder des PrĂ€sidenten. Die Staatssicherheit, so wurde berichtet, sei umfassend und effektiv, sie war aufgeschlĂŒsselt in eine Vielzahl von Geheimdiensten, deren AuftrĂ€ge sich teilweise ĂŒberlappten. Ihre Beamten spielten in der syrischen Gesellschaft eine weitreichende Rolle, denn sie sollten VerrĂ€ter orten und Widerstand durch Repressalien im Keim ersticken.
Der interne Staatsapparat schloss die PolizeikrĂ€fte ein, die dem Innenministerium unterstanden, sowie den MilitĂ€rischen Geheimdienst, den Geheimdienst der Air Force und das nationale BĂŒro fĂŒr Sicherheit. Zur alawitischen Miliz der sogenannten Schabiha gehörten rund 10 000 Zivilisten, die an der Seite der SicherheitskrĂ€fte Demonstrationen zerschlagen sollten. Es hieß, die Fanatiker dieser irregulĂ€ren Truppe – ursprĂŒnglich eine Schmugglerbande – wĂŒrden Assad in den Tod folgen. Die Volksarmee, eine Miliz der Baath-Partei, wird auf 100 000 Reservisten geschĂ€tzt, die mobilisiert werden könnten. GemĂ€ĂŸ Verfassung der Republik lag das Oberkommando ĂŒber alle diese StreitkrĂ€fte in der Hand des PrĂ€sidenten: Baschar al-Assad hatte die militĂ€rische Überlegenheit. Seine Flugzeuge kontrollierten den Luftraum, und seine Artillerie hielt den Gegner am Boden.
FĂŒr den ersten Bericht, an dem ich mitwirkte, waren 445 Zeugen befragt worden. Der 130 Seiten schwere Report sollte der umfangreichste der Kommission werden. In diese Seiten legten wir alles, was wir hatten, alles, was wir anfĂŒhren konnten, um den Sicherheitsrat förmlich zum Handeln zu zwingen. Folter, Vergewaltigung, EntfĂŒhrung, Mord. VerĂŒbt von RegierungskrĂ€ften und den ihnen angeschlossenen Milizen. Ich legte Wert darauf, dass auch die Opposition in den Berichten nicht ungenannt bleiben sollte; ĂŒber diesen Punkt redeten wir uns oft die Köpfe heiß. Schließlich waren auch die Regimegegner nicht untĂ€tig gewesen: Folter, Kidnapping, willfĂ€hrige Standgerichte mit Todesurteilen. ZusĂ€tzlich brachten die AufstĂ€ndischen die Zivilbevölkerung bewusst in Gefahr, indem sie militĂ€risch wertvolle Ziele in Wohnvierteln platzierten. Die Taten des Regimes zu benennen, war einfacher, und ich merkte, dass uns politische Interessen die Schwerpunkte in den Berichten diktierten. Vor allem zu Anfang genossen die Oppositionsgruppen ja noch die Sympathien der internationalen Gemeinschaft, und einige Staaten betrieben im Hintergrund den »Regime Change«, den politisch motivierten Sturz Assads. Wir kamen nicht umhin, der militanten Opposition zu bescheinigen, dass ihre Angriffe auf Zivilisten nicht mit der IntensitĂ€t der Regierungstruppen zu vergleichen waren – noch nicht.
Die Situation prĂ€sentierte sich in jenen Monaten 2012 wie folgt: Die RevolutionĂ€re hatten sich vermehrt Zugang zu Waffenkammern verschafft und MilitĂ€rbasen geplĂŒndert. Feuerwaffen und Munition wurden in großem Stil von externen Lieferanten ĂŒber die Grenze geschmuggelt. Angriffe auf HospitĂ€ler sorgten vermehrt dafĂŒr, dass das medizinische Personal seine Posten aufgab. Den KrankenhĂ€usern gingen in alarmierender Geschwindigkeit die VorrĂ€te an Blut und Medikamenten aus. Das Hochkommissariat hatte Kenntnis von 60 000 TodesfĂ€llen. Zwei Millionen Syrer befanden sich auf der Flucht.
Dem Vorschlag des Sicherheitsrats zur Waffenruhe vom 26. bis 30. Oktober hatten beide Seiten zugestimmt, um wĂ€hrend der religiösen Feiertage die Verletzten von den Schlachtfeldern zu bergen – wer sie zuerst brach, blieb unklar. Am 11. November war die Syrische Nationale Koalition gegrĂŒndet worden, die Gruppen der moderaten Opposition sowie der Freien Syrischen Armee (FSA) vereinte. Mehr als ein Dutzend der bewaffneten Gruppen, darunter die Al-Nusra-Front, anerkannte die Koalition nicht. Am 11. Dezember erklĂ€rten die USA die Al Nusra zur terroristischen Organisation, einem Ableger der irakischen Al Kaida. Die FSA selbst war nur noch ein Brand, ein Name – die Bezeichnung als Oberkommando verdiente sie lĂ€ngst nicht mehr. Die Foreign Fighters, die KĂ€mpfer aus dem Ausland, hatten zahlreiche NeuzugĂ€nge erhalten. Zynischerweise nannte man sie auch »Wochenend-Krieger«, weil sie aus dem mittleren Osten, Nordafrika und Zentralasien kurzzeitig ĂŒber die Grenze kamen, um sich an den Kampfhandlungen zu beteiligen. Viele waren kampferprobt, stammten aus Libyen, Tunesien, Saudi-Arabien, Ägypten, dem Irak und dem Libanon. Ihre Expertise wurde von den Regimegegnern hoch eingeschĂ€tzt. Einige reisten von weiter her an, auch aus der Schweiz.
Im Folgenden zitiere ich EinzelfĂ€lle aus dem besagten Bericht ans UNHRC, die mir besonders erwĂ€hnenswert oder reprĂ€sentativ scheinen. Sie stehen fĂŒr Dutzende und Hunderte Ă€hnlicher Vorkommnisse. Manchmal sagten Augenzeugen sogar aus, wenn dies ihren Eigeninteressen zuwiderlief. Wie jene FSA-Soldaten, die uns Details des Massakers anvertrauten, an dem sie im Juli in Aleppo beteiligt waren. Die FSA hatte fĂŒnf Mitglieder der al-Barri-Familie verhört und ein Scharia-Gericht einberufen. Dieses Standgericht verurteilte alle fĂŒnf zum Tod. Die Aufnahmen ihrer Exekution wurden ins Internet gestellt. Ebenfalls in Aleppo wurden alawitische Offiziere von einem Tribunal abgeurteilt, das sich aus lokalen Geistlichen zusammensetzte. AbzuklĂ€ren galt es, wer der Angeklagten »Blut an den HĂ€nden« habe. Als zwei der Offiziere eine Vergewaltigung zugaben, wurden sie auf der Stelle hingerichtet. Die anderen kamen mit dem Leben davon. Videos auf Facebook oder anderen Social-Media-KanĂ€len zeigten diese Art von Lynchjustiz anhand verschiedener grausiger Beispiele: In Aleppo wurde einem Menschen, der sich zum Regime bekannte, der Hals durchgeschnitten. Weitere regimetreue Personen wurden kurzerhand vom Dach eines PostgebĂ€udes gestoßen.
Wir bekamen vergleichsweise mehr Berichte solcher Tötungen durch AufstĂ€ndische auf den Tisch. Etwa von der StĂŒrmung einer Fabrik, in der vor allem Christen beschĂ€ftigt waren. »Wir wissen, wer ihr seid und aus welcher Region ihr stammt«, drohten die Bewaffneten. »Verlasst diese Fabrik und dieses Gebiet! Sonst seid ihr eures Lebens nicht mehr sicher!« Wohl um der Forderung Nachdruck zu verleihen, wurde der Direktor daraufhin beilĂ€ufig erschossen.
FĂŒnf Regierungssoldaten, die von ihren Posten in einem Internierungslager desertiert waren, klĂ€rten uns auf, wie Informationen aus VerdĂ€chtigten herausgepresst wurden. Aus den erzwungenen GestĂ€ndnissen heraus entstanden weitere Listen mit weiteren VerdĂ€chtigen. Wir wussten von 22 Personen, die ihren Schnellrichtern Schmiergeld fĂŒr ihre Entlassung gezahlt hatten. Einer der Deserteure, der zuletzt im Geheimdienst in Hama stationiert war, nannte EntfĂŒhrungen mit Erpressung eine »systematische Praxis in Syrien«. In Latakia wurde einem FreiheitskĂ€mpfer ultimativ mitgeteilt: »Ergibst du dich nicht, behalten wir deinen Bruder in Haft!«
Bald erreichten uns glaubwĂŒrdige Berichte, dass auch die Opposition ihre Gefangenen misshandelte. Der Schabiha (abgeleitet vom arabischen Wort fĂŒr »Gespenst«) waren AufstĂ€ndische in die Falle gegangen. Die Miliz, die von Assads Cousins Fawaz und Mundhir al-Assad befehligt wurde, folterte ihre Gefangenen mit elektrischen DrĂ€hten und KnĂŒppeln. In einem Fall wurde ein Mann mit 54 anderen in einem Haus in Aleppo gefangen gehalten. Acht Mitgefangene sah er an ihren Verletzungen einen langsamen Tod sterben. WĂ€hrend der Verhöre waren ihnen die Knochen gebrochen worden.
Wenn es der Opposition gelang, eines Schabiha-MilizionĂ€rs habhaft zu werden, gingen sie nicht zimperlich mit ihm um. Ein FSA-Kommandant in Damaskus gab vor unseren Ermittlern zu, einen Inhaftierten geschlagen zu haben, um ihn zur »Beichte« zu zwingen. Anschließend bekam der »GestĂ€ndige« eine Kugel in den Kopf. Den Schabihas ließ man extrem harte Torturen angedeihen. Denn vor ihnen fĂŒrchte man sich ganz besonders, »vor allem die Frauen und MĂ€dchen«, so versuchte ein Bewohner von Homs uns zu erklĂ€ren, weshalb die MilizionĂ€re keine Gnade erwarten durften. Zu erkennen seien diese MĂ€nner an ihren rasierten Köpfen und langen BĂ€rten, zusĂ€tzlich zu ihren SchnauzbĂ€rten (sunnitische Muslime tragen keine SchnauzbĂ€rte).
Als Verhörmethode schreckte wiederum das Regime vor sexueller Gewalt nicht zurĂŒck. Vergewaltigungen sollten die Opfer zum Sprechen bringen, zudem eine verbreitete Methode, um zu bestrafen und gleichzeitig zu beschĂ€men. Nicht nur Frauen wurden so gebrochen. Die Folterer verbrannten die Genitalien mit Zigaretten, Feuerzeugen und schmelzendem Plastik. Sie verbanden die Geschlechtsteile mit Stromkabeln, bis die Menschen elend an den StromschlĂ€gen starben. Mitunter wurde sexuelle Gewalt eingesetzt, um Familienmitglieder zu erpressen: Befand sich eine Frau in der Folterkammer, sollten mĂ€nnliche Verwandte sich im Gegenzug fĂŒr ihre Freilassung kampflos ergeben.
Die syrische Botschaft in Genf beklagte sich bitterlich ĂŒber unsere Recherchen, die sich durch »eilig zusammengestellte Aussagen« auszeichne, welche »nur von einer Seite dieses Konflikts« stammten. Das offizielle Syrien warf uns mangelhafte ProfessionalitĂ€t, keine sorgfĂ€ltigen Nachforschungen und Voreingenommenheit vor. Vehement zurĂŒckgewiesen wurde auch der Vorwurf, schmutzige Bomben eingesetzt zu haben. Was ich keinesfalls billigen konnte, da wir genĂŒgend Beweismittel fĂŒr »Barrel Bombs« hatten – das sind improvisierte Fassbomben, die aus der Luft abgeworfen werden. Verwendung finden unter anderem alte Heizkessel oder Warmwasserboiler, die mit Sprengmitteln und Metallteilen gefĂŒllt werden. Human Rights Watch (HRW) bezeichnet ihren Einsatz als »mit hoher Wahrscheinlichkeit wahllos im Sinn des Kriegsrechts und damit unzulĂ€ssig«.
Bombardierungen von BĂ€ckereien fanden vornehmlich in den Morgenstunden statt, wenn es nach frischem Brot duftete. Es konnte kein Zufall sein, dass die Angriffe stets dann stattfanden, wenn die Betriebe voller hungriger Menschen waren. Bestimmten Quellen zufolge waren unter den BĂ€ckereikunden FSA-KĂ€mpfer. In einem Fall hatte der BĂ€ckerei-Betreiber die FSA sogar aufgefordert, die Brotverteilung zu organisieren. Assad-AbtrĂŒnnige gaben uns die Namen der Kommandeure der Air Force, die die Bombardements von BĂ€ckereien angeordnet hatten. Menschenschlangen vor Backstuben wurden in Aleppo systematisch unter Feuer genommen. An einem Tag im August wurde eine BĂ€ckerei von einem Artilleriegeschoss getroffen: 11 Menschen, die fĂŒr Brot anstanden, fanden den Tod. Am 16. August wurden Kunden vor einer BĂ€ckerei mit Mörsern beschossen: 25 Tote.
Am 9. November um 8 Uhr schrien Frauen auf dem Marktplatz von Al Quriyah in Panik auf und suchten Schutz vor den Geschossen, die vom Himmel prasselten. Die Artillerie tötete an diesem Frauen-Markttag 21 Zivilisten. Ein Zeuge sah verstreute Tote mit abgetrennten Gliedern und Köpfen. Ein Körper war »nicht mehr als ein Haufen Fleisch. Diese Leiche vermochte niemand zu identifizieren.«
Am 23. Dezember um 16 Uhr war die Schlange vor der BĂ€ckerei in Halfaya gut 1000 Menschen lang. »Wir hatten seit Tagen kein Mehl erhalten«, sagte ein Einwohner, »und in der ganzen Stadt war kein einziger Laib Brot zu finden. Darum stand praktisch jeder vor der BĂ€ckerei.« Ein Kampfjet schoss mindestens vier Raketen auf sein Ziel ab. Jemand vermochte sich zu erinnern, dass eine Viertelstunde zuvor ein Hubschrauber ĂŒber dem Platz gekreist war, wohl um es auszukundschaften. Ein Mann aus Halfaya beschrieb die Szene nach dem blutigen Angriff so: Â»Ăœberall auf der Straße sah ich Leichen von Frauen und Kindern. Die Toten konnten nicht identifiziert waren, so entstellt waren sie.« FĂŒr uns war klar, dass es sich um einen gezielten Angriff handelte, trafen doch die vier in schneller Folge abgeschossenen Raketen ausnahmslos die BĂ€ckerei.
Satellitenaufnahmen waren eine große Hilfe bei der Auswertung von Bombardements, etwa im Fall der Bombardierung von Azaz am 15. August durch zwei Kampfjets, was den Tod von 20 Mitgliedern der Familie Danoun zur Folge hatte. Das Muster der EinschlĂ€ge legte den Schluss nahe, dass es sich nicht um Zufallstreffer handelte. Am 4. August traf eine weitere Fassbombe – sie sind einfacher und billiger herzustellen als Fliegerbomben – das Haus der Familie Elbaw in Tall Rifaat. »Es war unmöglich, die Toten auseinanderzuhalten«, sagte ein Zeuge. Am 10. August tötete die Bombe eines Kampfjets mehrere Bewohner eines Wohnhauses. Anvisiert war wohl die nahe gelegene Schule, da diese von der FSA als Baracke genutzt wurde.
Wir wussten von mindestens 14 Attacken auf Schulen. Die Rebellen hatten sie als StĂŒtzpunkte genutzt, womit sie ihren Status als geschĂŒtztes Zivilobjekt verloren. Andrerseits wurden mit Sicherheit auch Angriffe auf SchulhĂ€user befohlen, ohne dass AufstĂ€ndische sich dort verborgen hielten. Ein Soldat – er desertierte daraufhin – hörte wörtlich den Befehl eines Offiziers, eine Schule nicht zu schonen, »damit sie nicht rausgehen und an Demonstrationen teilnehmen können«.
TatsĂ€chlich geriet die jĂŒngste Generation unweigerlich in diesen Sog des Kriegs. Ein 17-JĂ€hriger vertraute uns Details seiner TĂ€tigkeit fĂŒr die Al-Nusra-Front an. Erst war er nur WassertrĂ€ger, brachte den KĂ€mpfenden Lebensmittel an die Front. Schließlich rĂŒstete man ihn mit einem Gewehr aus, das er auch einsetzte. Er nahm an einem Angriff auf einen Checkpoint teil. Als eine Verwundung seine Beteiligung an weiteren ScharmĂŒtzeln verunmöglichte, wurde er wie andere Teenager in Haftanstalten als WĂ€chter eingesetzt.
Das Gesundheitswesen war vom Konflikt schwer getroffen. KrankenhĂ€user wurden unter direkten Beschuss genommen. Ein Mitarbeiter des Dar al-Shifa Hospitals in Aleppo wusste von einem Hubschrauber des Regimes, der neun Raketen auf das Spital abgefeuert hatte. SicherheitskrĂ€fte zwangen das medizinische Personal zu Aussagen ĂŒber ihre Patienten. Und sie verboten, Kinder zu behandeln, die als Feinde des Regimes geortet wurden. Einem angeschossenen 12-JĂ€hrigen empfahlen die Ärzte die Falschaussage, er sei von Terroristen verletzt worden – sonst wĂ€re ihm im Spital nicht geholfen worden. Ein Mann aus Daraa musste erleben, wie ihm der Weg ins Krankenhaus an Checkpoints versperrt wurde. Seine 11-jĂ€hrige Schwester war beim Bombenangriff auf die Schule schwer verletzt worden. Auf Umwegen durchs Hinterland erreichte der Bruder schließlich das Armeehospital. Obwohl das MĂ€dchen schon das Bewusstsein verloren hatte, verweigerten die Ärzte die Behandlung. Daraufhin versuchte der Verzweifelte noch, ein anderes Lazarett zu erreichen, doch seine Schwester starb auf dem Weg.
Verschiedene Berichte betrafen Personen, die an Checkpoints...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Kurztitel
  3. Titel
  4. Copyright
  5. Inhalt
  6. Karte: Syrien und angrenzende LĂ€nder
  7. Der Anruf
  8. Im Auftrag des UNHRC
  9. Mord und Totschlag werden Alltag
  10. Der erste Bericht vor der UNO
  11. Zwischenspiel in Argentinien
  12. Ein FlĂŒchtlingsjunge im Königreich
  13. Verletzte Ärzte
  14. Ausgebombt
  15. Vertrieben aus dem Land der Gottlosen
  16. Leben unter der schwarzen Fahne
  17. Die Vernichtung der Yazidi
  18. Die NGOs, unsere Augen und Ohren in Syrien
  19. »Wollt ihr sie haben?«
  20. Wer trug die Schuld am Luftangriff?
  21. Vergiftete Politik
  22. Syriens Herz versagt
  23. Alles umsonst?
  24. Dank