1.1 Einleitung
Am Beginn der Beschäftigung mit dem Thema „Fibelausstattung und Lebensalter in der Merowingerzeit“ standen zwei Aussagen aus neueren Fachpublikationen, die sich in ihrem Inhalt diametral gegenüberstehen.
Die eine, veröffentlicht im Katalog zur Ausstellung „Edel und frei – Franken im Mittelalter“ aus dem Jahr 2004, stammt von Barbara Wührer. In Bezug auf die Bügelfibeln der Merowingerzeit schrieb sie: „Dieses Fibelpaar erhielten junge Frauen als Zeichen ihres Eintritts in die Welt der Erwachsenen. Es wurde ein Leben lang getragen und folgte der Besitzerin ins Grab.“1 Allgemein ausgedrückt vertritt Wührer somit ein Modell, das als Personengebundenheit der Bügelfibeln bezeichnet werden kann.
Im Jahr darauf publizierte Helga Schach-Dörges einen Aufsatz „Zur Vierfibeltracht der älteren Merowingerzeit“. Für sie stellt sich der Sachverhalt völlig anders dar: „Festzuhalten ist, dass die These, Bügelfibelpaare seien zur Merowingerzeit erst an junge Frauen juvenilen Alters im zweiten Lebensjahrzehnt vergeben worden, nicht aufrecht zu erhalten ist. Auch sind die Bügelfibelpaare nicht regelmäßig bis ans Lebensende getragen worden.“2
Der hier sichtbar werdende Widerspruch bildete den Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit. Im Zentrum steht die in der Frühgeschichtsforschung weit verbreitete These, dass Bügelfibeln – sowie in Anlehnung daran auch weitere Elemente der weiblichen Kleidung – üblicherweise im juvenilen Alter erworben und ein Leben lang getragen wurden. Diese Arbeit will der genannten These anhand der Fibeln auf den Grund gehen und klären, welche der beiden eingangs zitierten Aussagen plausibler ist.
Die Thematik hat für die Frühgeschichtsforschung erhebliche Bedeutung. Die These, dass Fibelausstattungen nur einmal im Leben erworben und in der Regel ihrer Besitzerin ins Grab folgten, ist die Grundlage für zahlreiche weitere, bis heute verbreitete Modelle. Sie bildet etwa die Basis dafür, dass anhand der Verbreitung von Fibelformen auf die Migration einzelner Frauen oder gar ganzer Personengruppen geschlossen wird. Für sozialgeschichtliche Interpretationen von Grabfunden sind diese Denkmodelle gleichermaßen grundlegend, da hier vorausgesetzt wird, dass Grabausstattungen eine direkte Beziehung zur bestatteten Person widerspiegeln – und damit unmittelbar den gesellschaftlichen Rang der Frauen, ihre soziale Rolle und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Fragen der archäologischen Chronologie werden davon gleichermaßen berührt, da aus der These folgt, dass ein klares Verhältnis zwischen der anlassgebundenen Herstellung der Fibeln, ihrer Gebrauchsdauer und dem Zeitpunkt ihrer Niederlegung im Boden während des Begräbnisses vorauszusetzen ist. Darüber hinaus besitzt die Thematik eine rechtsgeschichtliche Dimension, da sie Aufschlüsse zu Fragen von persönlichem Besitz einzelner Frauen, aber auch den Mechanismen der Vererbung von Wertgegenständen erlaubt.
Wie das oben angeführte Zitat von Helga Schach-Dörges belegt, ist die These der Personengebundenheit in der Forschung grundsätzlich umstritten. Ihre Skepsis wird von vielen Kolleginnen und Kollegen geteilt. Allerdings fehlt bislang eine Studie, die die These der Personengebundenheit von Fibeln systematisch prüft und einer breit angelegten Kritik unterzieht – dies ist das Ziel der hier vorliegenden Arbeit.
Sie setzt sich einerseits eingehend mit jenen Beiträgen auseinander, die in der Forschung als Belege für oder gegen die genannte These angeführt werden. Andererseits stellt sie eine ausführliche empirische Untersuchung vor, die diese These anhand einer umfangreichen Stichprobe überprüft und zudem den Einfluss jener Faktoren ermittelt, die auf die Abnutzung einwirken.
Einleitend zieht die Arbeit ein Resümee des Forschungsstandes zu den merowingerzeitlichen Fibeln und den damit verbundenen Thesen, wie der Personengebundenheit und der mit einer sozialen Rolle verknüpften Altersgebundenheit des Fibeltragens. Da es hier von Bedeutung ist, die Argumentationslinien der einzelnen Autoren3 nachzuvollziehen, erfolgte die Untergliederung nicht ausschließlich thematisch, sondern auch nach den Autoren. Neben einem allgemeinen chronologischen und thematischen Abriss bilden dabei die Themenfelder „Altersabhängigkeit von Beigaben“, „Altersabhängigkeit von Fibeln“ und „Untersuchungen zur Abnutzung an Fibeln“ die Schwerpunkte. Viele der in der Diskussion um eine Altersabhängigkeit oder Personengebundenheit geführten Argumente beziehen sich nicht allein auf Fibeln, sondern auf die gesamte Beigabenausstattung. Da die Fibeln aber ein herausragender Teil der Grabbeigaben sind, sind diese allgemeingültig geäußerten Überlegungen auch für eine Behandlung der Fibeln von Bedeutung. Publikationen, die die Frage einer Altersabhängigkeit der Fibeln nur streifen, finden sich in diesem Teil der Arbeit – hier sind beispielsweise Ernst-Günter Strauß’ „Studien zur Fibeltracht der Merowingerzeit“4 zu nennen. Darüber hinaus haben sich einige Autoren ausschließlich mit einer möglichen Altersabhängigkeit der Fibeln, meist speziell der Bügelfibeln, beschäftigt. Um den in diesem Zusammenhang jeweils spezifischen Argumentationslinien gerecht zu werden, diese aber auch zu bündeln, wurden sie in einem separaten Kapitel behandelt.
Der für die Forschung bedeutendste Beitrag zur Korrelation von Fibelabnutzung und Alter sowie der Personengebundenheit während der Merowingerzeit stammt von Max Martin und hat die Bügelfibeln des Gräberfeldes von Altenerding zum Gegenstand.5 Wichtig ist ferner der eingangs erwähnte Aufsatz von Helga Schach-Dörges zur Vierfibelkombination. Beschränkt man sich nicht nur auf die Merowingerzeit bietet die Forschung einige Beiträge, die sich mit der Analyse der Abnutzungsspuren an Fibeln beschäftigten. Es handelt sich dabei primär um die Arbeiten von Jasper von Richthofen, der sich mit Gebrauchsspuren kaiserzeitlicher Fibeln aus Norddeutschland befasste.6 Richthofens Ergebnisse werden häufig auch für die Merowingerzeit als Beleg einer Korrelation von Abnutzungsgrad und Sterbealter herangezogen. Aufgrund ihres exemplarischen Charakters und der Übertragung der Ergebnisse auf die Merowingerzeit wird seine Studie trotz der abweichenden Zeitstellung ausführlich behandelt. Zudem diente sein Aufnahmeschema als Anregung für das hier angewandte Verfahren zur Einteilung und Beurteilung der Abnutzungsgrade.
Von grundlegender Bedeutung für die hier behandelte Thematik ist ferner die Frage, welche Faktoren Abnutzungsspuren an Fibeln verursacht haben. Bei der Bearbeitung des Themas kristallisierte sich frühzeitig heraus, dass zur Beurteilung der Abnutzungsspuren zunächst zu klären ist, wie diese zustande kamen. Welche Faktoren beeinflussten die Entstehung der Gebrauchsspuren, wie genau wirkten sie sich aus und können sie erkannt werden? Dabei zeigte sich leider, dass der Einfluss dieser Faktoren nur selten genau bemessen und damit berücksichtigt werden kann, da der Großteil zu wenig erforscht ist; sicher ist dagegen, dass sie definitiv nicht zu vernachlässigen sind. Das Spektrum der nachweisbaren Abnutzungsfaktoren an den einzelnen Stücken spannt sich von Spuren der Restaurierung, über Anbringung und Trageweise der Fibeln an der Kleidung, Legierungszusammensetzungen und damit verbunden der Härte bzw. Abriebsbeständigkeit der Fibeln hin zu den konkreten Eigenschaften der Fibeln wie Größe, Gewicht und Form.
Als dritten und zentralen Teil legt diese Arbeit eine empirische Studie zu den Abnutzungsgraden an merowingerzeitlichen Fibeln vor. Anhand einer Stichprobe, die aufgrund der verhältnismäßig großen Zahl berücksichtigter Fibeln statistisch abgesicherte Erkenntnisse ermöglicht, überprüft diese Studie die Frage, ob sich bestimmte Gesetzmäßigkeiten nachweisen lassen oder nicht. Denn die These der Personengebundenheit der Fibeln müsste sich in einer klaren Korrelation zwischen dem Sterbealter der Frauen in den Gräbern und dem Abnutzungsgrad der ihnen mitgegebenen Fibeln zeigen. Alle Frauen desselben Alters sollten demnach in etwa gleich stark abgenutzte Fibeln ins Grab bekommen haben. Auch die alternativ zur Personengebundenheit diskutierte Abhängigkeit der Fibelbeigabe von einer altersspezifischen sozialen Rolle lässt sich auf diesem Weg empirisch untermauern oder widerlegen.
In die Studie wurden Fibeln aus publizierten merowingerzeitlichen Gräberfeldern Baden-Württembergs und Bayerns einbezogen. Zur Ermittlung von Sterbealter und Geschlecht der Verstorbenen mussten die berücksichtigten Fibeln von Friedhöfen stammen, deren Skelettmaterial anthropologisch bearbeitet wurde, was zumeist nur dann der Fall ist, wenn eine Materialvorlage durch eine Publikation geplant war bzw. erfolgte.
Nach einigen erläuternden Ausführungen zu Methodik und Herangehensweise beinhaltet die empirische Studie zunächst eine statistische Analyse des verwendeten Datenmaterials, um dessen Validität zu prüfen und die generelle Übertragbarkeit der Aussagen zu gewährleisten. Daran schließt sich die Untersuchung und Interpretation der Fibelverteilung in den anthropologisch definierten Altersklassen an. In diesem Zusammenhang wird erläutert, wie zentral es nicht nur für die hier behandelt Frage ist, dass bei der Analyse zwischen relativen und absoluten Häufigkeiten unterschieden wird. Es erwies sich, dass nur die relative Häufigkeit des Vorkommens von Fibeln in Bezug auf die Gesamtzahl von weiblichen Toten einer Altersklasse tragfähige Interpretationen ermöglicht. Bisherige archäologische Interpretationen, die sich lediglich auf die absoluten Häufigkeiten von Fibeln in den einzelnen Altersstufen gestützt haben, entbehren dagegen letzlich einer statistischen Grundlage. Auch für die folgenden Analysen zum Auftreten der Abnutzungsgrade in den Altersklassen, der Fibelanzahl und Fibelgröße je Altersklasse ist diese Unterscheidung relevant.
Es zeigte sich, dass es für die Interpretation der empirischen Ergebnisse unumgänglich ist, die theoretischen Möglichkeiten des Fibelerwerbs systematisch zu durchdenken und zu berücksichtigen. Diese theoretisch erarbeiteten Verteilungsmuster wurden dann in einem weiteren Arbeitsschritt mit den Ergebnissen der Studienauswertung verglichen. Wie nicht anders zu erwarten, lässt sich zwar keines der zahlreichen theoretisch möglichen Modelle als einzig zutreffendes identifizieren; allerdings können sehr wohl einerseits bestimmte Möglichkeiten ausgeschlossen und andererseits allgemeine Tendenzen aufgezeigt werden. So stellte sich heraus, dass weder das Modell der Personengebundenheit zu verifizieren noch eine klare Altersabhängigkeit nachzuweisen ist. Stattdessen ist eher davon auszugehen, dass es sich um den persönlichen Besitz einer wie auch immer selektierten Minderheit der weiblichen Personen handelte, der nicht an ein bestimmtes Alter gebunden war.
Die Auswertung ergänzen abschließend drei Detailstudien, die sich gezielter mit einer Auswahl aus dem Fibelspektrum der Studie beschäftigen. Es handelt sich zum Einen um die Bügelfibeln, deren gesonderte Betrachtung deshalb notwendig erschien, da ein Großteil der bisherigen Argumentation zum Thema ausschließlich anhand der Bügelfibeln erfolgte. Eventuelle Abweichungen und Besonderheiten in der Behandlung der Bügelfibeln im Vergleich zu den übrigen Fibelformen wären durch die Detailstudie erkennbar. Auch im Fall der Vierfibelkombination war eine solche detaillierte Analyse angebracht. Insbesondere möglicherweise vorhandene Unterschiede zwischen den Fibelgattungen und Differenzen in den Erwerbszeitpunkten von Bügelfibeln und Kleinfibeln lassen sich hier herausarbeiten. Die gesonderte Betrachtung der Verhältnisse bei subadulten Individuen schließlich ist der These vom Fibelerwerb im zweiten Lebensjahrzehnt geschuldet. Sollte dies zutreffen, müsste sich ein deutlicher Anstieg ab einem bestimmten Alter nachweisen lassen, der mit einer feineren Unterteilung der Altersklassen sichtbar werden könnte.
Die zu Beginn angedachte Fokussierung der Arbeit auf Aussagen zur ethnischen Interpretation archäologischer Funde und dem archäologischen Nachweis von Migration sowie chronologischen Fragen zerstreute sich im Laufe der Beschäftigung mit dem Thema, da andere Fragestellungen in den Vordergrund rückten. Trotz allem ergaben sich Argumente gegen eine ethnische Interpretation, auch wenn die behandelten Fragen einer viel grundlegenderen Debatte angehören. Wie bereits angedeutet, hat die Erkenntnis, dass nicht mit einer Personengebundenheit argumentiert werden kann, Auswirkungen auf die Chronologie. Dennoch konnten Ergebnisse zum Themenfeld der ethnischen Interpretation erbracht werden, wenn auch indirekter als ursprünglich geplant.
Im Grunde zeigte sich auch bei dieser Arbeit, dass die ethnische Interpretation und die These der Personengebundenheit argumentativ auf tönernen Füßen stehen. Fibeln waren nicht so sehr an eine Frau und diese nicht so sehr in ihrer Formenwahl der Fibeln an ihre angebliche ethnische Identität gebunden, als dass es eine einfache „Wenn-dann-Lösung“ gäbe. Frauen erlangten offenkundig nicht nur einmal im Leben Fibeln. Bei der Auswahl der Fibeln entschieden sie nach modischen oder anderen Kriterien, nicht aber nach einer ihrer ethnischen Zugehörigkeit entsprechenden Vorgabe. Darüber hinaus gab es auch kein festgelegtes einheitliches Alter, zu dem Fibeln erworben werden konnten oder gar mussten. Frauen, die die Möglichkeit hatten, Fibeln zu erwerben bzw. zu erhalten, konnten dies über ihre komplette Lebensspanne von Geburt an tun, nicht nur im zweiten Lebensjahrzehnt. Einem Austausch der Fibeln stand ebenfalls nichts im Weg.
Auch die anfangs ausschließlich als kritische Überprüfung der Personengebundenheits-These und einer engen Verknüpfung von Fibeln und Frauen geplante Ausrichtung verschob sich mit der intensiveren Beschäftigung hin zu einer ebenfalls kritischen Betrachtung der als Alternative formulierten These einer Altersabhängigkeit der Beigaben im Zusammenhang mit einer sozialen Rolle. Hinter der Idee einer Altersabhängigkeit steht die Überlegung, Fibeln und andere Objekte seien primär von Frauen adulten Alters getragen worden. Die besonders reiche Grabausstattung jener Altersgruppe spiegle eine besondere, gehobene Stellung der entsprechenden Frauen zu Lebzeiten wider. Diese hervorgehobene Stellung wird mit der sozialen Rolle als Ehefrau und Mutter begründet. Die umfangreichen Beigaben seien Symbol der Wertschätzung gewesen, die dieser sozialen Rolle in der frühmittelalterlichen Gesellschaft entgegengebracht wurde. Beide Thesen weisen Unstimmigkeiten in ihrer Argumentationskette auf, wodurch sie sich am Ende aus Sicht der Altersverteilung der Fibeln als nicht haltbar herausstellten. Weder eine Personengebundenheit noch eine Abhängigkeit von einem bestimmten Alter, sprich einer bestimmten sozialen Rolle, kann anhand der Fibeln nachgewiesen werden.
Die Beschäftigung mit den theoretischen Möglichkeiten des Fibelerwerbs erbrachte jedoch in Verbindung mit den Ergebnissen der empirischen Studie, dass eine gewisse Beziehung zwischen Frau und Fibeln bestanden haben muss, da sich sonst das dokumentierte Verteilungsmuster in der Abnutzung nicht zeigen würde. Fibeln waren demnach am wahrscheinlichsten persönlicher – aber nicht personengebundener – Besitz der Frauen und wurden ihnen (in den meisten Fällen?) ins Grab gelegt.