1 Die Briefe. Ein Prolog
Sie wären fast vermodert, zusammen mit dem uniformierten,
leblosen Körper des Soldaten. Nicht mehr liebevoll ans Herz gedrückt, sondern
verfault, zerfallen in der blutgetränkten Erde vor Moskau.
Sicher hatte der tote Soldat die Rufe des deutschen
Exil-Schriftstellers nicht gehört, der von der sowjetischen Seite aus mittels
eines Megafons die Deutschen aufforderte, den sinnlosen Kampf zu beenden
Nun kniet der Autor vor ihm …
Er nimmt dem toten Gefreiten die Erkennungsmarke ab.
Der Soldat hat nichts dagegen …
Sanft zieht er dann die Hand aus dem Innern der
Uniformjacke.
Die starre Hand umklammert ein Päckchen kleiner, hellblauer
Feldpostbriefe.
Der Autor entnimmt die Briefe der starren Hand, ganz sachte,
sanft, aber mit notwendiger Kraft. Der tote Soldat hat nichts dagegen …
Feldpostbriefe:
An den Gefreiten
Hans Treskatis
07862 D
Feldpost, keine normale Post. Das hat nichts mit dem Feld zu
tun, das der Bauer bestellt. Hier geht es um das Feld der sogenannten Ehre..
.es ist das Feld, auf dem nur einer Ernte hält: der Tod.
Der tote deutsche Soldat wird begraben werden, irgendwie,
man hofft es.
Der deutsche Schriftsteller in Filzstiefeln und wattiertem
weißem Mantel schaut kurz in den ersten Brief.
Der tote Soldat hat auch dagegen nichts …
Geheimnisse. Süße Geheimnisse. Liebesbriefe, Sorgenbriefe
aus Berlin. Die Briefe der fleißigen Schreiberin vom Pariser Platz.
Im Augenblick des Todes hatte Hans in die Uniformjacke
gegriffen, die Briefe umklammert, vielleicht mit einem letzten hoffnungsvollen,
sinnlosen Gedanken:
Eli, du und deine süßen, lieben Briefe, lasst mich nicht
sterben für diesen Wahnsinn, lasst mich leben für euch, für dich, bitte …
Der Autor mit dem weißen Mantel konnte Hans und seine
Kameraden nicht retten.
Aber er rettet die Briefe.
Verlässt das „Feld der Ehre“.
Verwahrt sie sorgfältig unter seinem Mantel. Nimmt sie mit
nach Moskau.
Feldpostbriefe.
Hellblaues Schreibpapier und ebensolche Umschläge in kleinem
Format, kauften die Lieben in der Heimat in den Schreibwarengeschäften. Konnten
die Briefe portofrei an die Front schicken. Portofrei! Welch ein Vorzug! Nur
leider wurden die meisten dieser portofreien Briefe zerfetzt oder verbrannt mit
ihren Empfängern. Die an Hans Treskatis geschriebenen blieben erhalten.
2015, siebzig Jahre nach Kriegsende, als ich dieses Buch
schrieb, sahen die Briefe noch wie neu aus. Auch heute, fast achtzig Jahre seit
dem Beginn des 2. Weltkrieges, liegen die Briefe vor mir wie gerade
geschrieben: saubere Blätter, eng bedeckt mit der klaren, steilen Handschrift
der Elisabeth Hoernemann, der jungen Pianistin, die in Berlin am Pariser Platz
wohnte, ziemlich nahe an Reichskanzlei und Führerbunker …
Hitler hatte eine Woche vor Beginn des Moskau-Feldzuges zu
seinen Generälen gesagt:
Was ich von Ihnen verlange, ist nur eins: die Tür mit
einem kräftigen Stoß einzutreten. Das Haus fällt dann ganz von allein
zusammen!
So begann der Blitzkrieg.
Es ging tatsächlich alles recht schnell.
Stalin zog sich zurück. Sammelte Kräfte. Entwickelte
Strategien. Nach einem halben Jahr hatte Hitler die Blitzkriegsschlacht
verloren. Das Haus war nicht zusammengefallen. Die Deutschen zurückgeworfen.
Zurückgelassen auf der blutgetränkten Erde: unzählige Gefallene, deutsche
Soldaten, von Kugeln durchsiebt, von Granaten zerfetzt, von Panzern zermalmt,
in Schnee und Eis begraben; manchmal ragten Teile von den Gefallenen heraus aus
dem Eis, ein Arm, ein Fuß, bis „General Winter“ sie mit neuem,
barmherzigen Schneefall bedeckte.
Der deutsche Schriftsteller Willi Bredel, gebürtiger Hamburger,
ehemaliger Häftling im KZ Hamburg-Fuhlsbüttel, Pazifist, Emigrant,
Frontagitator gegen den Krieg, rettet Elisabeths Briefe aus der Hand des toten
Gefreiten …
Wieder in Moskau, liest er sie, ist erschüttert: Zweiundzwanzig
Briefe, eng beschrieben, zwischen Juli und Oktober gesendet an ihren geliebten
Hans an der Ostfront.
Die junge Berlinerin bangt um ihren Geliebten, spricht ihm
Mut zu, ist überzeugt, sie werde ihn wiedersehen, ihn gesund in die Arme
schließen; all das Schreckliche wird Vergangenheit sein und vergessen, auch
jene furchtbaren Ereignisse in Berlin …
Ja, vom ersten bis zum letzten Brief schreibt sie nicht nur
von ihrer Liebe und von einfachen Dingen des Tages, nicht nur von ihrer Angst
und Sorge um ihren Liebsten; sie schreibt auch zunehmend offener über Dinge,
die sie hier im „friedlichen Berlin“ erlebt: von Rationierung der
Lebensmittel, von der Diskriminierung von Juden, der Häufung von Todesanzeigen
in den Zeitungen, schreibt von Bekannten, die plötzlich einfach verschwunden
sind, von beginnenden Bombenangriffen und angstvollem Ausharren in
Luftschutzkellern …
Manchmal schreibt sie so offen in ihrer gewachsenen
Verzweiflung, dass man sich wundert, dass die Briefe die Zensur passierten
…
Nach der Kapitulation Nazideutschlands im Mai 1945 kehrt der
Schriftsteller Willi Bredel zurück in die Heimat; er kommt über Rostock nach
Mecklenburg-Vorpommern, mit ihm die Briefe.
Er gründet in Schwerin zusammen mit dem Pfarrer Karl
Kleinschmidt und dem Grafiker Herbert Bartolomäus und anderen
antifaschistischen Kulturschaffenden den „Kulturbund zur demokratischen
Erneuerung Deutschlands“. In den folgenden Jahren sind seine Tage durch
unglaubliche Arbeitsfülle gekennzeichnet; die Briefe geraten zunächst in
Vergessenheit. Doch um 1950 herum recherchiert er intensiv, um eventuell
Elisabeth und ihre Angehörigen zu finden, vergeblich.
Bredel geht später nach Berlin, wird Präsident der Akademie
der Künste der DDR, gerät zunehmend in Widerspruch zur Doktrin der Ulbricht-Partei,
regt sich oft sehr auf über Engstirnigkeit und Intoleranz auf, erleidet 1964
mit nur 62 Jahren einen tödlichen Herzinfarkt.
Seine schwedische Ehefrau May, nun Witwe, lebt jetzt allein
in der großen Wohnung in der Berliner Ifflandstraße, umgeben von Bredels
riesiger Bibliothek, in der irgendwo Elisabeths Briefe schlummern.
Fast dreißig Jahre später.
May ist in einem Pflegeheim, die Tochter muss die Wohnung
auflösen. Ich werde gebeten, Bredels Bibliothek zu katalogisieren und nach
Schwerin, der langjährigen Wirkungsstätte des Autors, zu schaffen. Am letzten
Tage meiner Berliner Arbeit halte ich die Feldpostbriefe in der Hand. Ich frage
die Tochter: Was soll damit geschehen?
Nimm sie an dich,
meint sie,
der Vater wollte etwas draus machen, ist nicht dazu
gekommen; vielleicht gelingt es dir …!
Ich nehme die Briefe nach Schwerin mit. Lese sie, bin
erschüttert. Lege sie weg. Andere, immer neue Aufgaben bewegen mich, unter
anderem meine Arbeit im Kulturbund in Mecklenburg, dem ich später einige Jahre
als Präsident vorstehe, bis zum Jahre 1990 …
Wieder vergeht viel Zeit, 25 Jahre!
Wieder mahnen, erinnern mich die Briefe, sie irgendwie zu
veröffentlichen, doch erst 2015, nachdem meine Frau mich nach schwerer
Krankheit verlassen hatte, nahm ich sie wieder zu Hand.
Ist es die Verzweiflung über den Verlust, ist es das wieder
erwachte Trauma aus der zerbombten Berliner Kindheit, was mich nun treibt?
Vielleicht auch das Wissen und Erleben, dass immer noch Gewalt und schreckliche
Kriege diese Welt erschüttern?
Die steile Handschrift der Elisabeth Hoernemann muss in den
Computer übertragen werden. So erfasse ich erneut die ganze Tragik zweier
Liebender inmitten eines verbrecherischen Krieges. Die literarische
Nachempfindung der Geschehnisse an der Moskauer Front ergibt sich fast wie von selbst.
Liebe, Hass, Angst, Verbrechen, Hoffnung, Glauben und
Irrglauben; und doch immer wieder Hoffnung durch die Liebe …
Inzwischen sind 77 Jahre vergangen, seit die Briefe der
eisstarren Hand eines toten deutschen Soldaten vor Moskau entnommen wurden.
Und in diesem Jahre, am 1. September, wird es 80 Jahre her
sein, seit der Verbrecher Hitler den schlimmsten Krieg begann, den die Welt
bisher gesehen hat.
So bin ich wieder erschüttert.
Bin auch froh, darüber geschrieben zu haben. Glaube, dass
das Buch seine Leser finden wird. Hoffe auch, dass so etwas nie mehr geschieht,
dass überhaupt alle Kriege aufhören.
Aber wer weiß das schon?
Februar 2019