Das Tagebuch
Notizen an Bord
Joe Laska (Maschinenassistent)
AN DER PIER
Die Treppe ist ein Niedergang und das Fenster ein Bulley. An Bord wird nicht gepfiffen, und der Kap’tain - der Alte - hat das erste und das letzte Wort. Das ist eben so. Auch wenn der EISVOGEL nur sechundzwanzigeinhalb Meter lang ist und die Besatzung ein kleiner Haufen von fünf Leuten. Was heißt hier Rotwein, was heißt hier Müsli! Bist du gesund, dann iss, was Männer essen, und trink, was aus der Flasche kommt.
Die ersten Stunden auf dem Hauptdeck beim Stauen. Das Gelächter über meine barocken Wünsche hallt wider von den Schuppen der Warnemünder Pier, an der von der Quote gefällte Supertrawler dümpeln, an der ein rostiger Rest der einst so stolzen Flotte fault.
Stille und Dunst liegen schwer auf dem unbewegten, dunklen Wasser. Bitterer Geschmack auf den Lippen, begreife ich die erste Lektion: Wenn du als Assi angerufen wirst, von dem, der das Schiff vorbereitet auf die lange Fahrt, auf den Törn von Rostock nach Luanda, von dem, der Lebensmittel bunkert und der fragt: Neben Brot, Milch, Zucker, Salz und Bier und Weinbrand, was magst eigentlich du, was könnte dir die Stunden an Bord versüßen, dann lobe ihn, dass er überhaupt an dich, einen Fremden, einen Neuen, denkt, dann erfülle seine Erwartung und antworte, na Kerniges natürlich, was der Kap’tain mag und der Erste und der Chief. Wodka zum Beispiel wünsche ich in großen Flaschen bitte und Eisbein in Büchsen und Rum vielleicht und einen Sack Zwiebeln dazu. Sage nicht: Nun ja, zwei Beutel Müsli, wenn es keine Umstände macht, und trockenen Rotwein, den ganz schlichten, französischen, den in der Literflasche und Tee, eventuell, wenn erreichbar Assam.
Wer solches wünscht, dazu noch Brille trägt, mit Nickelrand und gestutzt das graue Haar auf drei Millimeter, hat sich entblößt, hat sich entlarvt. Er ist einer von denen. Er ist weit, sehr weit weg vom Seemann, vom Hochseefischer sowieso.
DIE OSTSEE
Mit der Entfernung von der Pier legt das Schiff an Geschwindigkeit zu, so scheint es mir. Als wolle es, einmal nun umgeflaggt, so schnell als irgend möglich das neue Zuhause erreichen.
Wir verpissen uns, sollen sie doch hier machen, was sie wollen!
Bin mir nicht sicher, ob der Chief nur einfach so daherschwätzt. Dem Kap'tain scheint es zu gefallen. Mit einem Schiff irgendwohin erträgt der Seemann wohl eher als ein festgezurrtes Dasein an Land. Und wenn es ein alter Eimer ist, der kürzlich noch der Treuhand gehörte und erst vor Wochen von einer Nichtregierungsorganisation, einer Ön-Jü-Oh, wie der Chief nuschelte, für Angola gekauft wurde. Hauptsache weg. Und hoffentlich kein neuer Krieg da unten. Wind von achtern.
Am Heck schlappt das schwere Tuch der angolanischen Flagge. Rot und schwarz, Zahnkranz, Katana und Stern in nachempfundenem Gold. Der Konsul hat sie im Plastikbeutel mitgebracht, dazu drei Flaschen Sekt. Seit Sekt und neuer Flagge sind wir ein afrikanisches Schiff mit deutscher Besatzung. Ganz gegen den Trend. Nun ja.
10.52 Uhr passieren wir die Mole von Warnemünde. Beginn der Seereise heißt das im Tagebuch. Der Chief hat zweiundneunzig den Molenkopf das letzte Mal von der See her gesehen. Von dreitausend Hochseefischern des volkseigenen Fischkombinates hieven und schlachten noch dreihundertzwanzig. Privatisierung durch die Treuhand. EG-Quotenregelung. Abwickeln der ostdeutschen Konkurrenz. So manches der kleineren Schiffe, in Rostock und anderenorts, wurde zu Nägeln umgerüstet. Für Chief Albert Arbeitslosigkeit, Umschulung zum Hausmeister. Nicht in Rostock, in Kiel stand die Schulbank.
Die 250 PS-Maschine im Bauch des EISVOGELS ist für ihn keine wirkliche Herausforderung, wohl aber die handgeschnitzten, nicht mehr zeitgemäßen, aber durchaus zuverlässigen Schiffsinnereien.
Das Schiff ist so alt wie unser Koch, beide Jahrgang 58. Koch Felix, geboren in Stralsund, Kutter EISVOGEL vom Stapel gelaufen in Boizenburg/Elbe. Wer in der Elbewerft die Schweißnähte zog, konnte in der Mittagspause ins andere Deutschland schauen. Hüben und drüben. 1958 Indochinakrieg. Vietnamkrieg in den Anfängen. Südvietnam wird um Beistand rufen. Die Amerikaner werden auch gleich kommen. Das Jahr 58 in Berlin. An der Humboldt-Uni Germanistenstreit um Georg Lukács und Hans Mayer. Realismus-Debatte. Bechers Sorge, dass sich die Schriftsteller des guten Deutschlands von der Arbeiterklasse entfernen könnten: „Bekannt ist die griechische Sagenfigur Antäus, die, als sie die Berührung mit dem Mutterboden verliert, wehrlos dem Feinde freigegeben wurde.“ Becher warnte eindringlich. Mit Erfolg, wie wir heute wissen. Nun sitzen wir zwischen den Stühlen.
Mein Jahr 58: Kamenz in Sachsen, ich lernte es, den Feind auf besondere Weise abzuwehren, trainierte als Militär das Fliegen, einzeln, im Verband, übte mich im Kunstflug und im Fliegen nach Instrumenten, Tag für Tag, an der Jagdfliegerschule der Nationalen Volksarmee. Und schrieb meine erste, längere Geschichte.
Noch bei Sonnenschein und mittlerer See auf Geheiß des Kap’tains Anprobieren des Rettungsanzuges. Er erinnert mich mit seiner Halsmanschette und den Reißverschlüssen an den Druckanzug der Flieger. Kommentar des Kap’tain Olaf: Im Wasser liegend hält er den Kopf oben, schützt dich vor Unterkühlung, in 24 Stunden nimmt die Körpertemperatur nur um ein Grad ab. Er zeigt mit seiner grellen Farbe deinen Standort auf dem unendlich weiten Meere an.
Wenn er rechtzeitig zur Hand ist, wenn ich ihn bei extremer Schlagseite, in der Panik der Havarie, des möglichen Untergangs, überhaupt noch anziehen kann. Jetzt auf der Brücke, umgeben von guten Ratschlägen, brauche ich nur fünf Minuten bis der große Reißverschluss geschlossen ist.
Ob ich über die Tour etwas schreibe, will der Kap’tain wissen. Und er hat auch einen Vorschlag: Ein Interview mit ihm, dem Kap’tain, für eine große Zeitung, das wäre nicht schlecht! Oder?! Da könnte man doch alles über das Vorhaben hineinpacken ...
Der Koch und ich - wir schlafen in der Messe. Die Kojen über uns sind nicht belegt. Der Kap’tain, der Erste und der Chief haben ihre eigenen Kammern.
Ich liege backbords, mit den Füßen achtern. Akkurat in Falten vor jeder Koje ein Vorhang aus Malimo, in der Farbe zwischen verschossenem Braun und seeluftgebleichtem Grün, aber fest und dicht und vom Charakter einer Wohnungstür, diesseits bin nur ich, ich selbst und meine Träume, jenseits die schöne, die reale, grimmige Welt.
Später werde ich meine Buchte ausmessen. Sie ist einsachtundachtzig lang, siebenundsechzig Zentimeter breit und bis zur Matratze des Obermannes sind es siebzig Zentimeter. Eine Leselampe ziert das Kopfende. Drehe ich den Kopf nach links, fällt der Blick auf das Mädchen. Es sitzt mit geöffneten Schenkeln in einem Ledersessel. Das Möbel kommt mir bekannt vor, DDR-Produkt der achtziger Jahre und das Foto ist eines der frechen aus dem MAGAZIN. Das sehr junge Mädchen schaut traurig in eine unbestimmte Ferne. Das verstehe ich, wenn man so sitzen muss und so jung ist.
Denkbar, dass die angolanischen Fischer angesichts der Kleinen argwöhnen, wir treiben es mit Kindern.
Schon in der zweiten Nacht stemme ich mich an die Seitenbretter meiner Schlafkiste. Der Kutter stampft und rollt, liegt für Sekunden auf der Seite, stürzt ins Wellental, ächzt und stöhnt und wehrt sich. Das Meer spielt grob mit dem EISVOGEL.
Im Morgenlicht zwischen Kap’tain und Erstem auf der Brücke. Mühsam die Balance haltend, rufe ich per Funk das Ostdeutsche Radio Brandenburg. Und dann sind wir auf dem Sender. Frühprogramm.
Ja. hier ist der EISVOGEL, es ist alles in Ordnung, nur die See ist wild und winterlich. Wind acht bis neun. Nein, wir brauchen keine Tüten. Richtig, noch dreißig Tage bis Luanda. Ist anzunehmen, die Biskaya wird nicht ruhiger sein. Das ist korrekt, zweihundertzehntausend Mark kosten Schiff, Fangausrüstung und Überfahrt. Aus Spenden finanziert. Kein Geschenk. Ja, sie haben richtig verstanden, das Schiff wird nicht einfach verschenkt. Die Fischer bezahlen das Schiff aus dem Erlös ihres Fanges. Über vier Jahre, in Raten. Sind sie länger als drei Monate im Rückstand, geht der Kutter in andere Hände. Mit dem erwirtschafteten Geld wird ein Ansiedlungsprojekt für Flüchtlinge in der Provinz Kwanza Sul, auch Angola, unterstützt. Hier an Bord? Wir sind zu fünft, davon vier erfahrene Seeleute. Eine gut ausgebildete Crew, altgediente Hochseefischer. Die Männer kennen das Eis des Labradorstromes und die Hitze vor der Küste Mauretaniens. Nein, keine Frauen, die tragen wir im Herzen. Selbstverständlich ist genug Diesel an Bord. Auch Trinkwasser, ja und Bier natürlich auch. Das ist keine Frage, wir schaffen es, das Schiff ist in gutem Zustand. Auf den afrikanischen Sommer sind wir vorbereitet, das Schiff auch. Und wir werden ja von Antonio und seiner Fischereigenossenschaft in Angola erwartet. Danke, bis übermorgen! Den Hörern von Brandenburg und Berlin noch einen schönen Tag!
Ich lege den Hörer auf, der Alte wechselt mit dem Ersten einen bedeutsamen Blick. Freundlich könnte ich ihn nicht nennen.
Das Schiff drückt mich heftig an die Seite des Kap’tain. Vergeblich versuche ich mich am Kartentisch festzuhalten. Das Rasierwasser des Alten ist von dezenter Herbheit und wohl aus einem der besseren Läden. Amüsiert schiebt mich der Alte an meinen Platz vor dem Niedergang zurück.
Aufmerksam geht sein Blick nach draußen.
Die Drehzahl etwas zurück, befiehlt er.
IM KATTEGAT
In dieser Enge hier, zwischen Schweden und Dänemark, haben die Wellen an diesem Morgen weiße Kämme, die Krängung erreicht 40 Grad, das ist schon sehr schräg, ich kann nur noch hangeln, kaum noch gehen, und in der Kombüse bedecken Glas und Blech, Unrat aus den verborgensten Ecken und Salz und Scheuerpulver den Boden. Ein spitzes Schlachtemesser stößt wie ein Raubfisch blitzschnell über Schutt und Scherben nach steuerbord, von dort nach achtern und bleibt schließlich am Fuße des Eisschranks im Kartoffelsack stecken.
Wir segeln mit sieben Knoten dem Abend zu. Unser Kurs liegt bei vierzig Grad, die Maschine schluckt zweihundert Liter in vier Stunden und der Koch liegt grün in der Koje. Das Meer gibt und das Meer nimmt, bringt Ralf, der Erste, gerade noch heraus, dann hängt er sich über die Nock und füttert die Fische. Der Kap'tain erledigt es mit weniger Aufwand, es unterläuft ihm halt so nebenbei. Ist was? Nein, es ist nichts.
Aus unerklärlichen Gründen bleibt mir dieses Würgen zwischen Nicht-mehr-leben und Noch-nicht-sterben erspart. Das ist nicht gut, das bemerke ich bald, obwohl ich Kaffee koche, Schnitzel brate, allseitig Fürsorge und gute Worte walten lasse. Das Landei, dieser Schreiber, kocht und macht und rührt sich, und wir, die Hochseefischer, die Seeleute aller Seeleute, hängen über dem Schanzkleid und kotzen uns die Galle aus dem Leib. Für die Männer ist das ein Problem. Dabei ist die Erklärung einfach - sie sind lange nicht gefahren, sind an solch winzige Schiffe, die wie Korken in der Waschschüssel hüpfen, nicht gewöhnt, und ich habe einfach Glück. Der Ton an Bord wird aggressiv, jetzt schon, nach wenigen Tagen.
Ich begreife Lektion zwei: Es ist nicht gut, die Schiffsoberen schwach gesehen zu haben.
Viertel vor vier Kaffeetime und Rundruf der Küstenfunkstelle Norddeich Radio. Es liegen Anmeldungen von Seefunkgesprächen für folgende Schiffe vor: Maxim Gorki. Baltic, Nadeschda Krupskaja, Georgi Dimitroff, Gregorie, Präsident Pieck, EISVOGEL. Und wieder die Sturmwarnung per Funk mit dem eindringlichen Ruf SECURITY, SECURITY, SECURITY, SECURITY ...
DIE NORDSEE
In der Nacht brannte die Schalttafel im Maschinenraum. Albert, der Chief hat mit dem Feuerlöscher das Schlimmste verhindern können. Der Wellengenerator wird abgeschaltet, erklärt er mir, Stromversorgung über den Hilfsdiesel.
Wir laufen Bremerhaven an, es muss repariert werden. Karten, wo sind die für diesen Abstecher notwendigen Karten, in der Funkerbude, unter dem Kartentisch, im Dokumentenfach des Alten?!
Keine Karten für Bremerhaven, kein einziges Blatt! Erster, was ist das für eine un-er-träg-liche Schlamperei, brüllt der Alte.
Und so kommt weit draußen schon der Lotse an Bord. Ein gewandter schlanker Mann, ein großer Junge, mit freundlichen Augen, der sich über die Negerflagge - pardon - angolanische Flagge wundert.
Geruhsames Gleiten in der Fahrrinne, Boje für Boje. Fern noch das Weichbild der Stadt.
Ja, bemerkt unser Begleiter sarkastisch, wir nähern uns ostdeutschen Verhältnissen, achtzehn Prozent Arbeitslosigkeit. Die Vulkcan pleite. Bald wird nun auch hier die letzte Werft Stück für Stück abgetragen - Entlassung für zweitausend Werftarbeiter. Offizielle Zahlen des Stadt.
Ist ja prima, Material für neue Hausmeisterkurse! In Kiel, versteht sich, knurrt es aus der Ecke. Chief Albert erntet einen bösen Blick des Kap’tain und verschwindet hochrot vor Wut im Niedergang.
Gequältes Scherzen über den Teilzeitjob „Kutterüberführung“ nach Afrika. Tuckertucker macht der Kutter und das noch viele lange Tage lang.
Eigentlich ist das was für ganz junge, aber kann man es sich aussuchen?
Man will ja nicht zu Fuß gehen, schiebt der Kap’tain schnell noch nach, während das eigene Schiff zum Check in der Werft liegt, der Dreimaster der P & R CRUISE- LINE.
Ja, richtig, ein schmuckes, ein sehr schmuckes Kreuzfahrtschiff, seit einundneunzig sei er...