1. Der Stamm der Obotriten in Mecklenburg
Seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. breiteten sich von Osten kommend, slawische Völker, ursprünglich aus dem Gebiet des Schwarzen Meeres stammend, in der Region Ostdeutschlands aus. Die ehemals dort wohnenden germanischen Stämme waren überwiegend zwischen dem 1. und 4. Jahrhundert im Zuge der Völkerwanderung nach Süden in Richtung auf das Römische Reich abgewandert. In mehreren Wellen drangen in den folgenden Jahrhunderten die Slawen in die zumeist unbewohnten Gebiete vor, gründeten Siedlungen und machten das Land urbar. Sie begannen, Keramiken herzustellen, hielten an der Religion ihrer Vorfahren fest und errichteten neben ihren Wohnburgen und Dörfern erdgebundene Fluchtburgen zum Schutz der Bewohner vor feindlichen Angreifern.
Im Verlauf der Entwicklung bildeten sich einzelne Stämme der Slawen heraus, welche von deutscher Seite oftmals als Wenden bezeichnet wurden. Diese Stämme wurden von Fürsten und lokalen Adligen geleitet. Basis ihrer Herrschaft waren Burganlagen als Wohnbereiche, zu denen jeweils eine Reihe von Dörfern in der Umgebung der Burgen gehörte.
In der Region um den Schweriner See hatte sich der slawische Stammesverband der Obotriten angesiedelt. Die Fürsten dieses Stammes hatten ihren Hauptsitz auf der Feste mit deutschem Namen Mecklenburg (auch Mikelenburg, Michelenburg, aus dem Altslawischen übersetzt: Große Burg), heute die historische Burganlage bei dem Ort Dorf Mecklenburg. Im 12. Jahrhundert gehörte das Areal von Lenzen an der Elbe bis nach Kessin an der Warnow sowie von der Ostseeküste in südlicher Richtung bis um die Region Parchim zum Obotritenreich. Die Abbildung 1 zeigt das Verbreitungsgebiet der Obotriten.
Abb. 1: Karte des obotritischen Herrschaftsgebietes (Ettel)
Zum Zeitpunkt seiner höchsten Entwicklung wurde der Obotritenstaat von einem Gesamtherrscher, dem Knese, geführt, welcher auch manchmal von deutschsprachigen Historikern als dux (Fürst) oder rex (König) bezeichnet wurde. Ihm stand jeweils eine Gruppe von Adligen als Führungskräfte zur Seite. Diese meist kleine, eng begrenzte Gruppe von Adligen besaß größere Burgen und Burgbezirke (Burgwarde) und war mindestens mit der Großfürstenfamilie des Königs verwandt. Diesem Umstand verdankten sie auch ihre hervorgehobene Stellung im Land. Einige von ihnen herrschten dabei über Teilstämme ( Escher, F.: Zur politischen Geschichte der Slawen zwischen Elbe und Oder vom 10. bis zum 12. Jahrhundert. In: Slawen und Deutsche zwischen Elbe und Oder. Austellungskatalog, Berlin, 1983).
Westlich des Obotritenreiches hatte sich im heutigen Niedersachsen ein sächsisch-christliches deutsches Herzogtum gebildet. Das Bestreben der sächsischen Herzöge, ihren Machtbereich auszudehnen, richtete sich vor allem gegen die Ländereien der Slawen. Im Jahre 1142 wurde im Sachsenland der noch junge Welfenherzog Heinrich zum Herrscher erhoben, welcher später aufgrund seiner Aktivitäten den Beinamen „Heinrich der Löwe“ erhielt.
Nördlich des Obotritenlandes regierten dänische Könige, welche ebenfalls schon in ihren Reichen das Christentum angenommen hatten. Zeitweilig gehörten Dänemark, Schweden, Schleswig-Holstein und Gebiete an der heutigen deutschen Ostseeküste zu ihrem Einflussbereich.
Die östlichen und südlichen Nachbarn der Obotriten waren wiederum Slawen, zu denen vor allem der Stammesverband der Lutizen, zuvor oft als Wilzen bezeichnet (u. a. mit den Stämmen der Kessiner, Zirzipanen, Tollenser und Redarier), die Linonen und Brizanen sowie die Pommern zählten. Mit dem Obotritenland gab es zeitweilig Gemeinsamkeiten, aber immer wieder auch kriegerische Auseinandersetzungen
Es war keine ruhige Zeit für die Obotriten. Immer wieder kam es zu Kämpfen und Zwistigkeiten mit den Nachbarn, besonders mit den Sachsen und Dänen, aber auch mit anderen slawischen Stämmen. So wechselten in diesen unruhigen Zeiten auch immer wieder die genauen Grenzziehungen und Gebietszuordnungen.
Der Gesamtherrscher der Obotriten wurde im Allgemeinen von einer Volks- oder Adelsversammlung nach dem Tod des letzten Herrschers aus dem Kreis des hohen Adels, meist aus den Reihen seiner Verwandten, gewählt. Ihm waren die Starosten und Zupane als Burgwardhäuptlinge untergeordnet. Sie waren seine Beamten geworden. Mit der Zeit entwickelte sich eine feste Erbfolge, bei der die Macht vom Vater auf den Sohn oder auf die nächsten Verwandten übertragen wurde. In allen größeren Burgen stand dem Knese ein Quartier zu. Er war oberster Richter und führte bei Gerichtsverhandlungen in wichtigen Fällen selbst den Vorsitz. Bei Verhandlungen mit anderen Herrschern und bei Kriegsgefahren traf der Gesamtherrscher die Entscheidungen, führte den Heerbann an und kämpfte in Kriegen selbst mit.
Die slawischen Stämme selbst haben keine Schriften und Chroniken hinterlassen. So waren Erkenntnisse der Historiker über die Obotriten meist nur aus deutschen und dänischen Quellen zu gewinnen. Aus diesen Aufzeichnungen ergab sich, dass bereits im Jahre 804 der Obotritenfürst Witzan Verbündeter Kaiser Karls des Großen war, ihm gegenüber aber auch als tributpflichtig galt. Seit dieser Zeit hatten fränkische Könige bzw. Kaiser, später auch sächsische Fürsten, zwar weitgehende Befugnisse bei der Einsetzung eines Herrschers der Obotriten und mussten ihn formell bestätigen, doch handelten die Obotritenfürsten überwiegend selbstständig.
Als Hauptsitz des Gesamtherrschers der Obotriten wurde seit jeher die Mecklenburg angesehen. Ein weiterer großer Fürstensitz des Stammes stand in Oldenburg in Wagrien (Ostholstein). Das Ansehen des obotritischen Herrschers war bereits im 10. Jahrhundert unter dem Fürsten Nakon so gewachsen, dass ihn der damalige arabische Reisende Ibrahim ibn Jakub mit polnischen, böhmischen und bulgarischen Herrschern in die Gruppe der bedeutenden Fürsten einreihte.
Wenn ein Fürst eine neue Burg errichten wollte, dann geschah das nach Ibrahim ibn Jakub (um 973) wie folgt: Wenn die Wenden eine Burg errichten wollen, dann suchen sie einen Wiesenboden, der reich an Wasser und Riedgras ist, und stecken da einen runden oder viereckigen Platz ab, nach der Form und dem Umfang, den sie der Burg geben wollen. Dann graben sie um denselben einen Graben und häufen die ausgegrabene Erde auf. Mit Brettern und Balken wird diese Erde so fest zusammengestampft, bis sie die Härte von Pisee (Stampfbau) erreicht hat. Sobald die Mauer bis zu der beabsichtigten Höhe aufgeführt ist, wird an der Seite, welche man dazu auserwählt, ein Tor abgemessen und von diesem aus eine hölzerne Brücke über den Graben gebaut.
Abb. 2: Modell einer Burganlage (Keiling)
Durch die damals noch häufigen großen Sümpfe führte vom festen Land aus zu den Burgen oft nur ein Bohlenweg, der leicht zu verteidigen war. Kasemattenartige Höhlen im inneren Wall dienten neben Holzgebäuden als Wohnungen für die Herren, für die Knechte und Diener sowie als Wirtschaftsgebäude. Bekannte Hauptburgen waren bei den Obotriten u.a. die Mikelenburg (Mecklenburg), die Burgen Schwerin, Dobin, Ilow und Werle. Sie bildeten zum Zweck der Landesverteidigung eine Art Burgwalllinie, wie es bei den Obotriten öfter anzutreffen war.
Über Jahre hinaus hielten die slawischen Bewohner an ihren heidnischen Traditionen fest. Im 8. und 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung waren zumindest in der Führungsschicht der Obotriten die Kenntnisse über die christliche Religion durch Handel, Kriege und Diplomatie hinreichend bekannt. Schon seit der Zeit Kaiser Karls des Großen (König des Fränkischen Reichs von 768 – 814, Kaiser seit 800) gab es oftmals Bestrebungen, das Christentum in den Slawengebieten zu verbreiten. So haben immer wieder christliche Missionare aus dem Sachsenland und aus Dänemark versucht, den Slawen das Christentum nahezubringen. Doch gelang dies nur in geringem Umfang.
Für das Landschaftsbild der Slawenzeit in Mecklenburg-Vorpommern ist das Vorherrschen von Waldungen, Mooren und Sümpfen charakteristisch. In den Waldungen wuchsen vor allem Eichen, Buchen und Schwarzerlen. Die nördliche Zone des Landes war ein fast zusammenhängendes Wildnisgeb...