Das Versagen der Kleinfamilie
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Das Versagen der Kleinfamilie

Kapitalismus, Liebe und der Staat

  1. 225 Seiten
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Das Versagen der Kleinfamilie

Kapitalismus, Liebe und der Staat

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Über dieses Buch

Die Autorin geht vom Leiden an den kleinfamilialen Verhältnissen aus und fragt: Kann das Liebespaar wirklich die Basis einer ganzen Gesellschaftsordnung sein? Sie legt die historischen und ideologischen Ursachen des Dilemmas der Kleinfamilie dar statt einem "individuellen Verschulden" nachzugehen und fordert ein radikales Umdenken des Privaten. Dabei greift sie alle relevanten Themen pointiert und fachkundig auf: das Drama der Mutterschaft, die neue Vaterschaftsdebatte und die Vereinbarkeitsfrage. Sie analysiert die Politik und deren Interesse an der "kleinsten Zelle des Staates" und zeigt auf, wie das Wirtschaftssystem die Kleinfamilie für sich nutzt und sie an die Grenzen der Belastbarkeit bringt. Als Schlussfolgerung aus den (Miss-)Verhältnissen des herrschenden Familienideals zeigt die Autorin Alternativen auf, die andere Gesellschaften uns bereits vorleben. • Bei der Kleinfamilie ist nicht Normalität am Werk, sondern eine willkürliche Norm • Viele Mütter sind einem Mutterideal verpflichtet, dem sie nie entsprechen können, kurzum sie sind in der "Mutterfalle" • Viele Männer würden ja gerne Elternzeit nehmen, die Arbeitswelt lässt es aber nicht zu • Die Bereiche Arbeitswelt und Familie sollen angeblich miteinander kompatibel sein, sind es aber in Wahrheit nicht – die "Vereinbarkeitslüge" • Aber: Es gibt Alternativen zur Überforderung von Müttern, Vätern und Kinder

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Information

[39] Kapitel 1
Die Mutterfalle18

Am Beginn meiner Recherchen war ich eine junge Mutter in den 20ern und verstand schnell, dass etwas zutiefst falsch war an der Mutterschaft. Bald war ich davon überzeugt, dass dies mit dem unangemessenen Zugang zur mütterlichen Fortpflanzungsfähigkeit zu tun habe. Die Art, wie der Nachwuchs normiert wurde – zwei Kinder pro Frau sollen es sein –, wie Schwangerschaft und Geburt abgewickelt wurden und die rabiaten Bemühungen der Reproduktionstechniker um die Ersetzung der Mutter waren zutiefst verstörend. So begann meine Arbeit daran, das herrschende Mutterbild zu hinterfragen.
In diesem Kapitel werde ich damit beginnen, den öffentlichen Diskurs zu beschreiben. Ich werde die Frage verfolgen, warum Mütter sich in der Falle befinden, und die Rolle diskutieren, die der Feminismus in dieser Debatte spielt. Die Kritische Patriarchatstheorie wird die folgenschwere Niederlage der „patriarchalen Mutter“ zeigen, die ihren Nachwuchs unter extremen Bedingungen immer noch betreut. Währenddessen ist die Abschaffung ihres Körpers das Ziel technologischer Experimente, um das mutterlose Leben zu erschaffen. Die Analyse wird auch zeigen, wie sich das Denken durchsetzen konnte, dies sei zu ihrem eigenen Wohl.

Der öffentliche Diskurs

Der öffentliche Diskurs ist von zwei Themen geprägt: Das eine ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, also die ökonomische Seite, und das andere sind die Fortpflanzung, die Geburtenraten und deren politische Implikationen.
In jüngster Zeit gibt es eine Reihe von Publikationen von berufstätigen Frauen, die die Propagierung der berufstätigen Mutter kritisch unter die Lupe nehmen. Dass Frauen „alles haben können“ (z.B. Sandberg 2013) bestreiten mittlerweile andere (Slaughter 2016). Von liberaler feministischer Seite wird wiederum der Verzicht auf die Mutterschaft vorgeschlagen: „Mutter sein. Nein danke“ titelt Emma im Frühjahr 2016 (Emma März/April 2016). Nur [40] Kinderlosigkeit bewahre vor Benachteiligung und Überforderung oder Zynismus: statt der „Übermutter“ setzt sich Emma für die „Rabenmutter“ ein. Allerdings wird eingeräumt, diese Haltung schütze auch nicht gegen den politischen und populären Zwang, dass jede Frau Mutter sein müsse.
In Europa wird die sozialdemokratische Ansicht, in den USA der liberale Feminismus vertreten, die annehmen, Arbeit und Karriere würden zur Frauenbefreiung beitragen. Die Gender-Mainstreaming-Programme der EU sollen dazu dienen, „Gender Equality“ herzustellen; in der Praxis werden damit Frauen den Europäischen Verträgen19 unterworfen, die einzig dem ökonomischen Wachstum der EU und ihrer „Wettbewerbsfähigkeit“ – hauptsächlich gegenüber den USA und China – dienen. D.h., ein solches Verständnis von Feminismus bedeutet Gleichheit mit Männern um jeden Preis, ohne die ökonomische Agenda des Neoliberalismus, seine Regeln und Praktiken, zu hinterfragen (vgl. Kap. 3).
Die „Reproduktion“, also Mutterschaft und Fortpflanzung, kommt an drei Punkten zur Sprache: Erstens haben sich die Debatten rund um den Schwangerschaftsabbruch zu Schlachtfeldern entwickelt, wo schwangere Frauen bedroht und Ärztinnen/e und Krankenschwestern ermordet werden. In den USA hat ein skrupelloser Lobbyismus Einzug gehalten, der Abtreibungen um jeden Preis verhindern will. In mehr und mehr amerikanischen Staaten und Ländern Osteuropas werden eine Vielzahl von Verordnungen zum Thema vorgeschlagen. Zum Beispiel haben die Abtreibungsgegner/innen der „Americans United for Life“ 2015 innerhalb der ersten fünf Monate mehr als 300 Verordnungen in 45 US-Staaten initiiert20. Die neue US-Regierung plant derzeit überhaupt die Abschaffung der Straffreistellung.
Die in den 1970er-Jahren begonnene Diskussion um die Abtreibung führte zur Einführung einer liberalisierten Gesetzgebung in ganz Westeuropa (Tazi-Preve/Roloff 2002). Diese neue Gesetzeslage brachte aber keineswegs ein Ende der Diskussion, wie Frauen damals hofften; im Gegenteil erfolgte bald ein Backlash, und die Opposition durch christliche Gruppen wird seit zwei Jahrzehnten durch militante Organisationen (Human Life International u.a.) abgelöst. Und seit 1989 wird auch in Osteuropa die bereits in den 1950er-Jahren legalisierte Abtreibung heftig bekämpft.
[41] Die zweite Debatte dreht sich um die niedrigen Geburtenraten in Europa seit den 1980er-Jahren. In Süd- und Osteuropa sind diese besonders niedrig und auf bis zu ein Kind pro Frau geschrumpft. Die deutschsprachigen Länder liegen seit einiger Zeit auf dem gleichbleibend niedrigen Niveau von ca. 1,4 Kindern pro Frau. Müttern wird seither nahegelegt, „ihren Pflichten“ nachzukommen. Die Entwicklung führte zu einer neuen Bevölkerungspolitik, die aber nicht als solche benannt wird.21 Politik, Medien und Ökonomie pochen auf die Norm der Zwei-Kind-Familie. Eine höhere Produktion von „Menschenmaterial“ soll Staat und Wirtschaft stärken.
Zum dritten hat sich im Kontext der reproduktiven Technologien das Sprechen über den mütterlichen Körper und ihre Zeugungsfähigkeit in den letzten Jahrzehnte dramatisch verändert. Der neoliberale Zugang, der alles als Ware ansieht, wurde zum Allgemeinverständnis und führte dazu, dass Frauen auch den eigenen Körper als Ware begreifen und die Sprache der Reproduktionstechnologien auf sich selbst anwenden. Dann ist die Rede von „Rechten“ (ein Kind zu haben) und „Wahlmöglichkeiten“ (eines in Besitz zu nehmen):„by using the reproductive liberal language“22 (R. Klein 2015, 163) wurde der Weg bereitet, aus Frauen „body shops“ zu machen. Auch hat die Technologisierung der Mutterschaft ein komplett neues Verständnis des mütterlichen Körpers hervorgebracht, mit dem Ziel, ihn durch künstliche Zeugung (In-vitro-Fertilisation) und unabhängiges Austragen des Kindes (Leihmutterschaft etc.) zu ersetzen.

Meine These und die feministische Forschung zur Mutterschaft

Meine These ist, dass die heutige Mutterschaft, die ich „patriarchale Mutterschaft“ (Tazi-Preve 2004) nenne, auf dem historischen Muttermord basiert (Tazi-Preve 1992) und ein Kunstprodukt ist, dessen Ziel die technologische Abschaffung der Mutter ist. In meinen frühen Arbeiten habe ich gezeigt, dass die Mutter in Mythologie, Religion und Psychologie sowie durch die Instanzen und Vertreter/innen der Medizin, Rechtsprechung und Politik abgeschafft wird und der Vater sich als angeblicher Schöpfer an ihre Stelle setzt. Wichtig zum [42] Verständnis ist es, dass die (patriarchale) Mutter (noch) am Leben ist, da sie als Schwangere, als Betreuungsperson und als Arbeiterin weiterhin gebraucht wird. Die Bedingungen und Zwänge aber, denen sie unterliegt, sind Resultat eines historischen Verwandlungsprozesses. Die patriarchale Mutter befindet sich in der „Mutterfalle“, in der sich jede Option als nur vermeintliche entpuppt.
Je länger ich mich mit der patriarchatskritischen Herangehensweise an die Mutterschaft befasste, desto klarer wurde die Erkenntnis, dass die Geschlechter-/Genderforschung nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist. Mehrere Trends haben das heutige Bild der Mutter produziert. Der eine ist der Kurs, den der Feminismus in der Theorie genommen hat. Als das postmoderne Konzept, mit Michel Foucault an der Spitze, in die feministische Theorie Einzug hielt, wurde die feministische Sozialwissenschaft völlig ausgehebelt. Judith Butler (1990) hat die Theorie der Gender-Performativität entwickelt, die jegliche Naturhaftigkeit des weiblichen Körpers bestreitet und so das kollektive Verständnis von Frau verunmöglicht. Meines Wissens gibt es keine parallele Entwicklung, die gleichermaßen die Abschaffung der Männer zum Ziel hat. In der universitären Forschung ist seither der Trend zu verzeichnen, das „Frauenproblem“ zu individualisieren, die systemische Sichtweise abzublocken und keine Fragen zum Machtungleichgewicht, also zu den sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen mehr zu stellen. In einer geschlechtsneutralen Welt wird der politische Aktivismus gegen strukturelle Ungerechtigkeit und Gewalt verunmöglicht, die „Frauenfrage“ wird zum rhetorischen Problem und der Feminismus verliert seine transformative Kraft.
Der praktische politische Diskurs wiederum, also die nationale Frauenpolitik der einzelnen Länder, wird von liberalen und sozialdemokratischen Feministinnen dominiert. In beiden Ansätzen wird die Berufstätigkeit als Garant für Freiheit propagiert und die Mutterschaft bleibt Privatsache. Dass sich die Frauen seit 40 Jahren unausgesetzt anstrengen, hat sich aber immer noch nicht gelohnt – sie verfügen weder über dieselbe Einkommenshöhe noch über dieselben Positionen wie Männer und sind daher in Sachen Finanzen, Macht und Einkommen unverändert benachteiligt. Langsam wird dies auch manchen Gleichheits-Anhängerinnen klar. In einem Time-Artikel schreibt Kristin van Ogtrop, Anne-Marie Slaughter (2016) zitierend: „I see that system itself as antiquated and broken“23 und kommt zu der Einsicht, dass es doch [43] etwas anderes geben müsse als das „Männerklüngeln am Abend und am Golfplatz“24. Solche Schlussfolgerungen tun den Gender-Mainstreaming-Politiken der EU aber keinen Abbruch. Im Gegenteil.
In einer unheiligen Allianz liberaler, sozialdemokratischer und gendertheoretischer Ansätze dominieren Themen zu „Intersektionalität“ und „Identitätstheorie“ den akademischen und politischen Diskurs. Frauenforschung wurde ersetzt durch Gender Studies und neuerdings durch „Sexuality Studies“, die sich mit der sexuellen Orientierung beschäftigen. Durch diese Veränderung wird die feministische Bewegung entschärft und zersplittert. Gelder fließen nun in apolitische Forschung zur „Gender-Frage“ und Themen der sexuellen Identität. Die laufenden Debatten um die Ehe für homosexuelle Paare fungieren dabei als Ablenkungsmanöver von den sich real verschärfenden Entwicklungen für Frauen im Patriarchat.
Das Mutterbild war historisch immer mit der herrschenden Wirtschaftsordnung verknüpft. Wenn eine Welt kreiert wird, in der jegliche soziale Verantwortung, Gegenseitigkeit und Solidarität verlorengeht, kommen auch die Bereiche unter Druck, wo Frauen das Zentrum eines Netzes sozialer Beziehungen sind. Diese mütterliche Kultur entsteht ab dem Tag der Geburt des Kindes, indem Zeit miteinander verbracht wird, wo gekocht und miteinander gegessen wird, durch Handarbeit und Handwerk, durch das Kreieren von Zirkeln und Räumen. All dies soll dem Verständnis einer Welt der Profitmaximierung weichen, indem die Mutter auf ihre Funktion der Menschenproduktion und -betreuung reduziert wird. Wie zu sehen sein wird, stellt die Mutter in der neoliberalen Welt den essentiellen Teil der zur Familien-Maschine transformierten privaten Welt dar.

Mütter in der Falle

Das Patriarchat als allumfassende Zivilisationstheorie zu verstehen, bedeutet, die Moderne mit neuen Augen zu sehen, nämlich als „Mordende“ (Werlhof). Der gemeinhin positiv konnotierte Fortschritt entpuppt sich als mörderische Kreation einer künstlichen mutter- und naturlosen Welt. Es geht also gerade nicht um eine Verbesserung oder um eine Anpassung des Menschen an die bestehenden natürlichen Verhältnisse, wie zum Beispiel im Weltbild indigener [44] Gesellschaften, sondern um die Zerstörung des Mutterkörpers und der mütterlichen Kultur. Das heißt, die „Mutter muss verschwinden“ – wie es als Überschrift in einem Artikel zum Muttertag hieß25; sie soll buchstäblich ausgemerzt werden. Die (noch) existierende Mutter bedeutet lediglich einen Zwischenschritt bis zu ihrer kompletten „Mortifizierung“.

Was geschieht mit der betreuenden Mutter?

Die Mutter wird also immer noch gebraucht, daher wird sie behandelt wie eine Institution. Der mütterliche Körper, ihre Arbeit und ihr kreatives Potenzial wurden in eine Art administrative Einheit verwandelt. Indem sie Nahrung, Unterkunft und Fürsorge bereitstellt, „verkörpert sie Ökonomie im wahrsten Sinne des Wortes“ (Werlhof). Das ist die Schattenwirtschaft, auf der die offizielle in „parasitärer Weise“ (Vaughan 2015b) beruht. Die Mutter erfährt das Programm von „Überwachen und Strafen“ (Foucault 1993) in allen ihren Lebensbereichen und in ausgefeiltester Form. Seit dem Beginn der Neuzeit, also seit dem 15. bzw. 16. Jahrhundert, wird die institutionalisierte Mutter bevormundet und ihr Verhalten durch Instanzen der Rechtsprechung, der Medizin, der Psychologie und Pädagogik reglementiert. So haben sich zum Beispiel die Empfehlungen zum Stillen seit der Nachkriegszeit permanent verändert.26
Die Europäische Sozialpolitik wird in den USA, die nicht einmal über den Mutterschutz vor und nach der Geburt verfügt, dafür gepriesen, Mütter zumindest für einen Teil des verlorenen Einkommens zu entschädigen. In Österreich und Deutschland bleiben Mütter nach der Geburt dem Arbeitsplatz weit länger fern als in anderen europäischen Ländern. In der Logik der Arbeitskultur, die ausschließlich auf der Dauer der Erwerbstätigkeit aufbaut, bedeutet die lange Abwesenheit aber einen großen Verlust an Einkommen und Anrechnung für die Rente. Der Europäische Wohlfahrtsstaat fungiert als Ersatz für den – oft abwesenden – Vater27, indem er Familienbeihilfen, Alimentationsvorschüsse und Kinderbetreuungseinrichtungen bereitstellt.
[45] Seit den 1990er-Jahren verändert sich der Charakter des „sorgenden“ Staates. Die alle Regulierungen aushebelnde neoliberale Gesetzgebung erfasst nun auch die letzten Enklaven der Sozialpolitik. Bildung, Gesundheit und Soziales – worein alle finanziellen und institutionellen Unterstützungsleistungen für Mütter fallen – werden nun „privatisiert“. D.h. sie werden Opfer angeblich notwendiger „Einsparungen“ oder sie werden von Konzernen übernommen – was auch Sparpolitik genannt wird (Kailo 2015). Begleitet wird das Zurückfahren des Wohlfahrtsstaates mit Beschuldigungen derer, die angeblich Leistungen „missbrauchen“, speziell Mütter und sogenannte „Arbeitsunwillige“. Die eigentlichen Verursacher der Armut des Staates, also etwa Konzerne, die kaum Steuern abführen, bleiben dagegen ungeschoren (vgl. Kap. 3). Dass gerade die Lebenserwartung von Frauen entscheidend damit zusammenhängt, wie das soziale und politische Umfeld gestattet ist, zeigen Untersuchungen zur stagnierenden Lebenserwartung amerikanischer Frauen28.
Der Rahmen, in dem das mütterliche Leben erlaubt ist, ist die Kleinfamilie, die am Beginn patriarchaler Zeiten ersonnen wurde, um die sexuelle Freiheit der Frauen zu beschneiden und eine vaterlose Mutterschaft zu verhindern. Innerhalb der Ehe wurde die Fortpflanzung zur überwachten Pflicht. Die nichtverheiratete Mutter wurde zur Schande, die verheiratete ein Segen. Die Kindeswegnahme des „illegitimen“ Kindes war bis in die 1970er-Jahre eine übliche Praxis.29
Die patriarchale Mutter muss dem Ideal der heterosexuellen Beziehung (vgl. Kap. 7) folgen, am besten in der Ehe, die angeblich für sie und ihre Kinder der sicherste Ort ist. Diese Lebensform wird als natürlich hingestellt, da Kinder von einem Mann und einer Frau gezeugt würden. Mit dem Bezug auf die „Natur“ werden Frauen und Männer in die Kleinfamilie gezwungen, indem die patriarchale Frau glauben gemacht wird, eine dauerhafte romantische Beziehung sei die Normalität. (Tazi-Preve 2012a). Die Wahrheit widerspricht dem aber deutlich: Zum einen ist die Familie der gefährlichste Ort für Frauen und Kinder überhaupt, die dort der Gefahr des physischen und psychischen [46] Missbrauchs und/oder des gewaltsamen Todes ausgesetzt sind (Kapella et al. 2011a). Zum andern ist die lebenslange Liebesbeziehung nicht die Regel, sondern sie ist ganz im Gegenteil die Ausnahme. Unglückliche Beziehungen, Scheidungen und Trennungen sind dagegen die Norm.
Und trotzdem bleibt das europäische und nordamerikanische Mutter- und Kleinfamilienideal als Exportgut in nicht-westliche Gesellschaften ein Dauerbrenner. Seit der Kolonialzeit wird es verbreitet, gepredigt oder aber gewaltsam erzwungen. Dies geschieht und geschah in allen nichtpatriarchalen Gesellschaften – in Vergangenheit und Gegenwart – durch Missionare, also religiös begründet, oder durch die Einführung des Privateigentums und der Erwerbsarbeit auf der ökonomischen Ebene und politisch, indem durch das Familie...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Zitate
  5. Inhalt
  6. Vom Leiden an der Kleinfamilie. Eine Einführung
  7. Was hat die Liebe damit zu tun. Grundbegriffe und Theorie
  8. Kapitel 1: Die Mutterfalle
  9. Kapitel 2: Politik und Familie. Die kleinste Zelle des Staates und das Tabu der Gewalt
  10. Kapitel 3: Die Vereinbarkeitslüge
  11. Kapitel 4: Die Wirtschaft mit der Familie
  12. Kapitel 5: „Neue“ oder „alte“ Väter?
  13. Kapitel 6: Die Sache mit der Sexualität
  14. Kapitel 7: Familie als matrilineare Verhältnisse
  15. Kapitel 8: Warum versagt das System Kleinfamilie wirklich?
  16. Und was sollen wir jetzt tun, fragen meine Freundinnen und Freunde
  17. Nachwort. Mein Familienname. Vom Exil durch Patrilinearität
  18. Danksagung
  19. Literatur
  20. Anmerkungen