Kapitel 1
Die Höhle im Mythos
Hinterglasmalerei:
Die Gottheit Guan Jin übergibt der Menschheit ein Geschenk. Foto: Ingrid Kusch
In allen alten Kulturen dieser Welt und auch in den Weltreligionen scheint das Phänomen auf, dass unterirdische Anlagen oder Naturhöhlen als Zugänge zu einer anderen Welt, der „Unterwelt“, angesehen werden. Diese Deutungen sind vielfältig zu interpretieren, beschreiben aber immer das Gleiche, nämlich ein Reich unter der Erdoberfläche. Im Klartext handelt es sich bei der „Unterwelt“, eine bei Naturhöhlen überaus reale Dimension (Abb. 3), die sich aber für Personen, die in ihrem Leben noch nie in einer Höhle waren, mit Worten nur sehr schwer beschreiben lässt, weil die unterirdischen Räume, bedingt durch ihre primär vorgegebene Anordnung im Gesteinskörper (z. B. Kluft- oder Schichtfugen) und die sekundär erfolgten Erosions- und Korrosionsprozesse, unterschiedlich dimensioniert sind (Abb. 4). Gerade jene Berichterstatter, die keinen Bezug zu Höhlen hatten, waren in ihren Gedanken sehr kreativ, wenn sie unterirdische Hohlräume beschreiben mussten, und erschufen oft eine Fantasiewelt, die mit der Realität sehr wenig oder gar nichts zu tun hatte (Abb. 5). Es wurden aus dem eigenen kulturellen Umfeld jeweils Bestandteile entnommen, die letztlich in die Geschichtserzählungen mit einflossen. Wir finden solche Vorstellungen in den unterschiedlichsten Kulturkreisen unseres Planeten, egal ob bei Naturvölkern bzw. Eingeborenenstämmen oder bei den sogenannten frühen Hochkulturen bis in unsere heutige Zivilisation vor. Viele Erzählungen, die die Unterwelt betreffen, haben nachstehende Themen gemeinsam, sie berichten von Orten, an denen beispielsweise die Seelen der Toten zuhause sind, von einer Welt, die oft pauschal im religiösen Bereich „Hölle“ genannt wird, wo Feuer, Hitze und Qualen vorherrschen, von Orten, an denen sich dämonenhafte Wesen aufhalten, oder von paradiesischen Welten, wo Menschen sehr alt werden und ohne Sorgen leben können bzw. Götter ihren Wohnsitz haben. Nehmen wir den durch das Wort „Hölle“ negativ belegten Teil aus dem letzten Satz heraus, so erkennen wir, dass hier durch religiöse Machteinflüsse in der westlichen Welt bewusst seit vielen Jahrhunderten mit gezielter Manipulation versucht wird, etwas zu verschleiern, das der breiten Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden soll! Stellt sich heute die Frage: Was wird uns da vorenthalten?
Aber in alten regionalen Überlieferungen können diese unterirdischen Plätze auch Wohnorte von Geistern, Elfen, Zwergen, Riesen, von Drachen, Schlangen und anderen Fabelwesen sein. Nicht zu vergessen, sind Höhlen letztlich auch Bereiche, in denen sich Götter aufhalten können oder wo sich Menschen bei früheren Katastrophen auf unserem Planeten in das Erdinnere zurückgezogen haben. Wie beispielsweise laut Legenden in Amerika ein ausgewählter Personenkreis von den Bewohnern der „Unterwelt“ aufgenommen wurde, um überleben zu können. In einigen Sagen und mythischen Überlieferungen aus Nord-, Süd- und Mittelamerika wird auch davon berichtet, dass Überlebende der Menschheit nach solchen Katastrophen wieder aus dem Erdinneren zurück an die Oberfläche dieser Welt gekommen sind.
In einigen Weltreligionen werden Höhlen auch zu Geburtsorten der Religionsgründer selbst oder zu Plätzen, in denen Wissen an auserwählte Personen übermittelt worden ist. Ein Beispiel dafür ist Buddha, der nicht nur unter dem Bodhi-Baum meditierte, sondern, was weniger bekannt ist, in einer Einsiedlerhöhle, die zu einer alten vorgeschichtlichen Felsenklosteranlage in Indien gehörte, seine Erleuchtung empfangen hat, oder ein weiteres Beispiel ist die „Geburtsgrotte“ von Jesus Christus in Bethlehem (Palästina). Eine andere Situation finden wir im Iran vor, wo dem altiranischen Religionsgründer des Zoroastrismus „Zoroaster“ (630–553 BC = vor Christus) angeblich in einer Höhle, in die er sich zur Meditation als Einsiedler zurückgezogen hatte, durch den Engel Vohu Manah die prophetische Sendung des Ahura Madza erhielt. Zoroaster wurde später dann in Europa unter dem Namen „Zarathustra“ bekannt. Wir können an diesen wenigen Beispielen erkennen, dass Religionsgründer entweder mit Höhlen in Verbindung gebracht wurden oder offenbar bewusst unterirdische Räume aufsuchten und dort ihr Wissen empfingen, das in weiterer Folge laut Überlieferung zur Religionsgründung beitrug.
Wohl zu den eindrucksvollsten Schriftdokumenten, die eine Höhle im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Religionsgründer beschreibt, ist der Koran. Die Legende über die Herkunft des Korans besagt, dass im Jahre 610 der damals rund 40 Jahre alte und dem Lesen und Schreiben nicht mächtige Muhammad seine erste Offenbarung durch einen überirdischen Boten in der „Ghar Hira“ auf dem Hira-Berg bei Makkah (Mekka) in Saudi Arabien empfing. In diese Höhle hatte sich Muhammad/Mohammed öfter zu Betrachtung und Gebet zurückgezogen. Während der nachfolgenden Jahre kam es zu vielen weiteren göttlichen Offenbarungen, die letzte empfing er kurz vor seinem Tod im Jahre 623. So wurde Muhammad unter dem Eindruck der Offenbarungen und der damit verbundenen Autorität eines Gesandten Gottes heute zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der islamischen Welt- und Religionsgeschichte.
Abb. 3 Gangpassage der Simud-Hitam in den Gomantong-Höhlen in Sabah, Kalimantan, Malaysia. Die aus Lianen geflochtenen Leitern dienten einst den Schwalbennestersammlern als Aufstiegshilfe zu den Nistplätzen der Salanganen (Schwalben), um dort die begehrten Vogelnester von der Höhlendecke zu holen.
Abb. 4 Tropfstein- und Sinterbildungen im Hauptgang der Tham Kung Lawa im Changwat Kanchanaburi, Westthailand.
Abb. 5 Darstellung einer unterirdischen Stadt (?) in einem Kupferstich (Altcoloriert) von Friedrich Justin Bertuch aus dem Jahre 1799. Gut erkennbar ist die damalige Befahrungstechnik von Hohlräumen im 18. Jahrhundert, in der die Menschen mit einem Korb in die Tiefe gelassen und wieder heraufgezogen wurden.
Im Koran wird in der Sure 18 al-Kahf (= Die Höhle), welche bei Makkah offenbart worden sein soll, gleich am Anfang ein Bereich angesprochen, der uns nur allzu bekannt vorkommt und im weiteren Sinne eine signifikante Parallele zur „Siebenschläferlegende“ in Europa darstellt. Hier steht geschrieben, dass Jünglinge in eine Höhle flüchteten, um Schutz zu suchen. Diese Höhle war von Leuten bewohnt.
Im 11. Absatz heißt es: „Da verhüllten Wir ihre Ohren in der Höhle für viele Jahre.“
12. Absatz: „Dann weckten Wir sie auf, um wissen zu lassen, wer von den beiden Parteien die Zeitdauer ihres Verweilens am besten zu erfassen vermochte.“
13. Absatz: „Wir berichten dir ihre Geschichte der Wahrheit gemäß …“
Auf solche dokumentierten Zeitanomalien stoßen wir auch bei einigen Überlieferungen, wo Menschen in eine Unterwelt gebracht wurden und sie beim Verlassen dieser feststellen mussten, dass an der Oberfläche wesentlich mehr Zeit vergangen war. Dieses Phänomen ist weltweit bekannt, denn in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts hat die amerikanische Weltraumbehörde NASA in europäischen Höhlen zahlreiche bis zu einem Jahr andauernde Untersuchungen im Rahmen des Weltraumprogrammes durchgeführt, um das Zeitgefühl jener Speläologen (= Höhlenforscher) zu testen, die sich ohne Zeitmesser in Schachthöhlen freiwillig isolieren ließen. Diese Testpersonen verloren das Zeitgefühl bereits nach kurzer Zeit, sodass sie annahmen, sie wären erst mehrere Wochen im Berg, tatsächlich waren aber in der Zwischenzeit an der Erdoberfläche bereits viele Monate vergangen. Diese Erfahrungen konnten wir selbst auch im Rahmen von über 10-tägigen Großexpeditionen in Höhlen machen, wo der Schlaf- und Arbeitsrhythmus sich ohne Zeitmesser manchmal um mehr als das Doppelte verlängerte. Wenn als Orientierung keine Sonne oder Uhr vorhanden ist, aus der man eine Information über den zeitlichen Ablauf erkennen kann, scheint es für den menschlichen Geist unmöglich zu sein, ein korrektes Zeitgefühl in einem abgeschlossenen Hohlraum zu entwickeln.
Abb. 6 Sintertrommel in einer der längsten Höhlen im Karstgebiet von Gang Weon-Do in Südkorea, der Baegryong-Gul am Nam-Hang-Fluss bei Ma-Ha-ri.
Wir sehen allein schon an diesen kurz gefassten Beispielen, die bei Weitem nicht alle möglichen Ursachen aufzeigen, wie breit gestreut die Auslegung der Bezeichnung „Unterwelt“ in den einzelnen Kulturen sein kann. So gesehen, darf man sich nicht wundern, wenn Höhlen mit ihren oft fantastischen Tropfsteinbildungen oder künstlich geschaffene unterirdische Anlagen weltweit zu mystischen Orten wurden, die Geheimnisse verbargen und so für viele Menschen einfach unerreichbar und daher unheimlich waren (Abb. 6). Dazu kommt, dass in den tropischen Regionen speziell in Karstgebieten das Landschaftsbild oft bizarre Formen annehmen kann, die dazu beitragen können, die menschliche Fantasie anzuregen (Abb. 7). Der asiatische Kontinent ist wie der europäische, afrikanische, australische und amerikanische voll mit solchen Überlieferungen aus der Vergangenheit, die zum großen Teil auf wahren und nachvollziehbaren Geschichten beruhen. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass es nicht einfach ist, den wahren Kern aus den schriftlich aufgezeichneten oder mündlich überlieferten Erzählungen heraus zu selektieren. Eine Annäherung an die Wahrheit kann nur vor Ort durch Feldforschung erfolgen. Denn nur die Kenntnis der Örtlichkeiten, des kulturellen Rahmens des betreffenden Gebietes, der schriftlichen Quellen und eine gezielte mehrfache Überprüfung der daraus resultierenden Informationen können vielleicht zum Erfolg führen.
Gerade in Asien finden wir Tausende Überlieferungen in alten Quelltexten und Abschriften, die von unterirdischen Anlagen und großen Reichen unter der Erde, aber ebenso von unterirdischen Wohnsitzen von Gottheiten und anderen Wesen berichten. Auch bei der ansässigen Bevölkerung finden wir Hunderte mündlich tradierte Geschichten und Sagen vor, die so gar nicht in unser Weltbild passen, weil sie aus einer uns fremden Welt und Kultur zu entstammen scheinen. So finden wir im indischen Raum den Sanskritbegriff „Pātāla“, der direkt mit der Unterwelt in Zusammenhang gebracht wird und in den hinduistischen Puranas als eine der 14 Welten gilt, in denen Götter und Dämonen leben. Von diesen Orten gehören sieben den „Tala-Welten“ an, die sich unter der Erdoberfläche befinden sollen. Sie sind die Wohnorte von Gottheiten (z. B. Todesgott Yama), von Dämonen (Rakshasa) und von Schlangenwesen (Naga). Pātāla, so wird in den indischen Mythen berichtet, soll ein riesiges unterirdisches Netz sein, das aus Tunneln, Städten und Höhlen besteht, die sich von Benares (Indien) aus bis auf die Hochfläche des Himalaya-Massivs beim Bergsee Manasarovar erstreckt. Es soll...