1 | Am Feuer sitzen WIE ALLES BEGANN |
„… wird es zu kalt, zünde ich ein Feuer an, denn ich habe eine Feuerstelle; der Mensch braucht das Feuer. Die Menschen in Europa sehen nur dann ein Feuer, wenn ihr Haus brennt. Ihre Seelen verkümmern, weil sie kein Feuer sehen. Wie oft brennt schon ein Haus, und wer nimmt sich dann die Zeit, friedlich in die Flammen zu schauen?“
Janosch,
aus Merian >>Kanarische Inseln<<
Das Fell am Höhleneingang bebte vom Schneesturm, der draußen durch die Bäume fegte. Wir rückten näher um die Feuerstelle, spürten die wohltuende Wärme. Unsere Nasen wurden warm, doch noch lange spürten wir die Kälte am Rücken. Wir waren durch die Nacht geirrt. Die Alten und Kinder unseres Clans hätten nicht mehr lange durchgehalten. Urak, unsere Heilerin, hatte ihren Medizinbeutel geholt. Er enthielt die duftenden Kräuter, Harze und Samen, die sie im Sommer sorgfältig gesammelt hatte. Sie murmelte Gebete für die Ahnen und die Geister dieser Höhle. Dann warf sie eine Handvoll der Mischung auf die heißen Steine am Feuer. Der Rauch stieg auf und erfüllte die Höhle mit geheimnisvollem Duft. Er breitete sich aus und wir spürten alle, daß wir froh waren, hier zu sein. Die Anspannung wich einem wohligen Gefühl. Mit dem duftenden Rauch waren wir angekommen. Jetzt wurde die Höhle unser Besitz, die Geister waren gnädig gestimmt worden. Urak war zufrieden.
vom Geruch am Feuer
Die Geschichte des Räucherns beginnt mit der Geschichte des Feuers. Schon vor Millionen von Jahren saßen die Menschen am Feuer. Es wärmte, schützte und spendete Licht. In der Höhle, im Zelt oder in der Hütte schenkte es Ruhe und Wärme nach anstrengenden Tagen in oft gefährlichen Zeiten. Zahllose Geschichten wurden am Feuer erzählt, unzählige Lieder gesungen und Tänze getanzt. Das Feuer brachte den Menschen Nähe, da es sie miteinander verband. Wenn ein harzreiches Rindenstück oder eine aromatische Pflanze aufs Feuer geworfen wurde, veränderte sich die Stimmung: Die Menschen bemerkten, daß der duftende Rauch wohltuend war. Er diente auch der Begleitung von Ritualen. Die Bitte für erfolgreiche Jagd, gefälliges Wetter und Gesundheit trug der duftende Rauch als Botschafter zu den Wesen der anderen Welt.
Schon die afrikanischen Frühmenschen scheinen das Feuer für sich entdeckt zu haben. Funde in einer Höhle in der Nähe von Johannesburg zeigen, daß vor ein bis eineinhalb Millionen Jahren der Homo erectus das Feuer für sich nutzte. Damals konnten es die Menschen jedoch noch nicht selbst entfachen und beherrschen. Erst vor etwa 400 000 Jahren lernten sie, mit Steinen Funken zu schlagen oder durch das Reiben von Hölzern ein Feuer zu entfachen. Vielleicht war dies die größte Entdeckung, die wir Menschen je machen sollten. Sie war eng verbunden mit unserer uralten Liebe für das Räuchern.
Auf den Spuren des Beginns der Räucherkultur werden wir an diese alten Feuerstellen der Urzeit der Menschheit geführt. Dort liegen unsere ersten bewußten Dufterfahrungen. Die Nasen waren damals noch sensibler, denn vom Geruchssinn hing das Überleben ab. Man kannte den Geruch vom Wetterwechsel, vom Herannahen wilder Tiere, von Gefahr und Sicherheit, von guten und giftigen Nahrungsmitteln. Mit der sensiblen Nase der Frühmenschen, mit deren Hilfe überlebenswichtige Entscheidungen getroffen werden konnten, sogen sie den Duft am Feuer ein. Sie speicherten ihn in ihrem Erfahrungsschatz, so daß er bis heute auch in uns mit archetypischem Erleben verbunden ist.
Die Menschen begannen, Pflanzen nach ihren Düften zu sammeln. Irgendwann hatten sie entdeckt, daß bestimmte Pflanzenteile ganz eigene Düfte verströmen, der Duft von verbrennenden Wacholderästen eine angenehme Atmosphäre schafft, Tannen-Harz die Luft reinigt, Samen von Datura Visionen auslösen. Vielleicht hatten die damaligen Menschen dies durch Zufall entdeckt. Oder haben die Pflanzen damals noch zu den Menschen gesprochen und ihnen ihre inneren Kräften mitgeteilt? Ob vielleicht in dem damals größeren Gehirn der Neandertaler, die in der Zeit zwischen 90 000 und 35 000 v. Chr. lebten, mehr Bereiche für Dufterfahrungen vorgesehen waren? Wie paläonthologische Forschungen zeigten, kannten die Neandertaler bereits rituelle Handlungen, die in Verbindung mit Pflanzen standen. Im heutigen Irak, in Skanidar, wurden Ausgrabungen in Wohnhöhlen aus der Neandertalerzeit gemacht, die etwa 60 000 Jahre vor unserer Zeit bewohnt wurden. Die Gräber im Höhlenboden waren mit vielen verschiedenen Pflanzen ausgelegt, die den Toten wahrscheinlich auf ihrer Seelenreise helfen sollten. Einige dieser Pflanzenarten werden noch heute zum Räuchern verwendet.
schamanen-wissen
Damals, als die Menschen noch in steinzeitlichen Höhlen oder Zelten an Feuern lebten, entstand die schamanistische Kultur. Die Medizinfrauen und -manner haben die Dufterfahrungen mit aromatischen Räucherpflanzen gesammelt und sie genau spezifiziert. Ein uraltes Wissen entstand und verbreitete sich. Zum ersten Mal wurde eine ganz eigene Lebenskultur entwickelt. Man konnte den Geruch der Höhle, eines Zelts, auch den eigenen ganz bewußt bestimmen und verändern. Das Feuer wurde als ein Geschenk der Götter betrachtet. Sein Rauch stieg sichtbar in himmlische Bereiche und wurde dazu benutzt, um den Göttern Botschaften zu überbringen, ihnen Dankbarkeit zu erweisen, Gebete und Bitten an sie zu richten. Das Unfaßbare wurde mit Rauch und Duft verehrt. Schamaninnen und Schamanen hüteten ihr Wissen darüber, welches Räucherwerk für welche göttlichen Wesen bestimmt sei. Rituelle Handlungen sollten helfen, die Gebete mit dem Rauch hinauf in den Himmel zu den Göttern steigen zu lassen. Die Menschen hatten gelernt, mit verschiedenen Harzen und Pflanzenteilen Duftmischungen zu komponieren und verbanden Räucherungen mit Ritualen als Botschaft an den Himmel. Von Generation zu Generation wurden die Räucherweisheiten weitergegeben bis zu den Zeiten, von denen wir eindeutigere Funde besitzen.
Einer der ältesten Funde, der auf eine noch differenziertere Räucherkultur hinweist, läßt sich auf die Zeit 7200 v. Chr. datieren. In Dänemark und Südschweden wurden Räucherkuchen entdeckt, die beim Verbrennen an den Duft von Weihrauch und Myrrhe erinnern.
In den Händen der Wissenden der früheren Zeit lag auch das Geheimnis der Pflanzen, die den Menschen die Pforten des Bewußtseins öffnen können und die Wahrnehmung für andere Welten schärfen. In frühzeitlicher, schamanistischer Zeit wurde die Kraft halluzinogener Pflanzen entdeckt, die man als Geschenke der Götter verehrte. Sie dienten für Reisen in andere Wirklichkeiten und als Brücke in einen mystischen Raum jenseits der Zeit. Die Schamaninnen und Schamanen gebrauchten den aufsteigenden Rauch bestimmter Pflanzen wie Stechapfel (Datura), Alraune, Bilsenkraut, Mohn usw., um sich in Trance zu versetzen und so die Götter in Visionen durch sich sprechen zu lassen oder Heilzeremonien auszuführen. Wahrscheinlich fanden die ersten gemeinsamen Gottesdienste der Menschen um den aufsteigenden Rauch heiliger, magischer Pflanzen statt. Mit dem Räuchern verbindet sich ein Urwissen der Menschen, das in jedem von uns schlummert.
Feuerholzbogen zum Entfachen von Feuer
Eng mit dem Räuchern verbunden entwickelten sich Heilungszeremonien. Sicher haben schon die frühesten Menschen ein schmerzendes rheumatisches Glied über heilsamen Rauch gehalten oder eine Erkältung mit Harzräucherungen gelindert. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wurden dazu Harze der Nadelbäume, wie auch Zweige von Wacholder, Zeder oder Thymian verwendet.
vom rhythmus der natur
Auch heute, nach Tausenden von Jahren, fasziniert uns das Feuer. Noch immer ist damit das Wahrnehmen von Gerüchen verbunden. Kein Sinn berührt uns so tief wie das Riechen. Es könnte stimmen, was Janosch uns über die Feuerstelle sagt: Unsere Seelen verkümmern ohne das Erleben der Elemente.
Wir sitzen auch heute noch nach getaner Arbeit vor einer Lichtquelle. Doch es ist kein prasselndes, duftendes Feuer mehr, sondern das fahle, elektronische, geruchlose Licht des Fernsehers. Die heilsame Verbindung zum Feuer, zu der uns umgebenden Natur, ist abgebrochen. Räucherungen mit dem Harz der Bäume, mit getrockneten aromatischen Pflanzen, so, wie es unsere ersten Vorfahren machten, können uns mit den Schwingungen der uns umgebenden Natur wieder verbinden. Es ermöglicht uns, den Wechsel der Jahreszeiten, der Vegetationsphasen, der Schwingungen, der uns umgebenden Natur, bewußt nachzuvollziehen und in uns selbst zu erleben. Dieses Orientieren am Kreislauf der Natur kann eine innere Balance in uns stärken und uns dabei helfen, die Orientierungslosigkeit und Anonymität des modernen Lebens aufzuheben. Es kann also heilsam sein, sich den Rhythmus der Natur zu vergegenwärtigen.
Die archaischen Räucherungen, sei es mit Einzelpflanzen, Harzen oder Ta...