Heimkehr nach einem Highschool-Jahr
Die Geschichte von Joachim Meyerhoff, aus: Alle Toten fliegen hoch, Teil 1: Amerika, KiWi Verlag,
Ein Gastbeitrag
Hätte mir jemand am Flughafen in Denver gesagt, dass ich nicht zurück nach Deutschland fliegen könne, denn es gäbe einen Streik, einen unabsehbaren, vielleicht einjährigen Streik, dann wäre ich glücklich zu [meinen Gasteltern] Stan und Hazel ins Auto gestiegen und zurück nach Laramie gefahren. War das wirklich so? Oder war es nur deshalb ein verlockender Gedanke, weil ich mir sicher war, dass es nicht so kommen würde? Ich wollte dableiben und wollte weg. Ich dachte: Why do I have to go right now? […] I like the view from my room over the Rocky Mountains. I have my own horse. I like Stan and Hazel. I found friends. How shall I live without basketball? God damned, why do I have to leave right now?
Als ich nach Deutschland zurückkam, wog ich zehn Kilo mehr, war durchtrainiert, und diesmal war die Heimkehr so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Meine Eltern und mein Bruder holten mich ab. Ich rannte, als ich sie sah, einfach los. Mein Vater war, das spürte ich sofort, als ich ihn an mich drückte, wieder genauso dick, wenn nicht noch dicker als früher. Meine Mutter war eindeutig geschrumpft. Mein Bruder umarmte mich, griff an meine Oberarme, drückte sie, sagte »Bitte, bitte tu mir nichts!« und umarmte mich wieder.
Auf dem Rückweg vom Hamburger Flughafen fuhr mein Bruder. Ich saß bequem auf dem Beifahrersitz. Mein Vater hatte sich neben meine Mutter nach hinten gezwängt. Wir kamen auf die Autobahn. Plötzlich roch es köstlich. Ich drehte mich um. Da saß mein Vater und schmierte mir ein frisches Schwarzbrot mit meiner Lieblingsleberwurst von Schmale, dem besten Schlachter unserer Stadt. In mehreren Briefen hatte ich von meinem Heißhunger auf Schwarzbrot mit Leberwurst geschrieben. Eigentlich hatte ich diesen Heißhunger gar nicht, aber ich wollte meinen Eltern eine Freude machen. Andauernd hatte ich von Dingen geschrieben, die ich vermissen würde, aber eigentlich gar nicht vermisste, über Entbehrungen, die keine waren.
Mein Vater reichte mir das dick abgeschnittene Leberwurstschwarzbrot nach vorn. Ich biss hinein, machte »Mmmmmhhh! Ohhhh!« und schwärmte: »Ist das lecker!«. Dabei taten mir die Zähne weh vom Kauen der ungemahlenen Körner, und auch der Geschmack war mir zu intensiv. Die letzten zwölf Monate hatte ich mehr oder weniger alle Speisen gelutscht oder maximal ein wenig mit den Backenzähnen zerquetscht. So richtig gekaut hatte ich schon lange nicht mehr. Mein Gott, war das mühsam! Als ich dieses feuchte, verdichtete Schwarzbrot kaute, ahnte ich bereits, wie steinig der Weg werden würde, mich in mein altes Vollkornleben zurückzubeißen.
Nach zwei Stunden fuhren wir in die Stadt ein. Kreuzten den verschlafenen Gottorf-Knoten. Alles unverändert. Die Leuchtschrift des Dani Grills war repariert. Ein neues G. Aber sonst? Mein Vater sagte: »Nach Hamburg hin und zurück an einem Tag, das ist wirklich eine Weltreise!« Ich antwortete: »I was … Ich bin mal mit Hazel 146 miles, das sind about 230 Kilometers, nach Denver gefahren and wieder zurück, to get, ihre Brille vom Optiker zu holen.«
Meine Freunde erwarteten mich auf dem Parkplatz vor unserem Haus mit bemalten »Welcome Home«-Bettlaken, und, ich hatte nicht mehr damit gerechnet, meine Freundin war auch da. Ich ging auf sie zu. Sie kam mir ein wenig ungepflegt vor, so ungeschminkt und unfrisiert, wie sie da vor mir stand. Wir umarmten uns, und alle machten: »Ohhhhh!« Unser Hund rannte um mich herum, freute sich aber eindeutig mehr, meine Mutter und meinen Vater wiederzusehen, was mich sehr enttäuschte. Zwei Stunden später legte ich mich zu ihm auf den braunen Teppichboden, kraulte ihn hinter den Ohren und flüsterte: »He, sag mal, warum freust du dich denn eigentlich gar nicht, du stupid dog? Schau mal, wer da ist!« Er sah mich an, mit seinen vom Alter schon leicht trüb gewordenen Augen, und plötzlich sprang er auf, stürzte sich auf mich und wedelte und bellte. Meine Mutter kam: »Was ist denn mit Aika los?« Der Hund war außer sich vor Freude. Rannte jaulend durch das ganze Haus, sprang an mir hoch und rammte mich mit seinem bulligen Kopf. »I think, äh … ich glaube«, sagte ich, »die hat erst jetzt geschnallt, dass ich bin back!«
Am Abendbrottisch erzählte ich von meiner luxuriösen Heimreise. Direktflug Denver–Frankfurt. Und wie Hazel beim Abschied geweint hatte und Stans Stimme ganz wackelig geworden war, als er sagte: »Was so good to have you here with us. I will miss you. Oh boy, I surely will!« Hazel hatte mich lange umarmt. Ihr Kreuz verhakte sich mit meinem Brustbeutelband. Wir standen eng beieinander, und Stan musste uns trennen. Lächelnd flüsterte er: »Little sign from above.« Meine Mutter klatschte entschieden in die Hände, so als müsste sie ihre eigene kleine Eifersucht verscheuchen, und rief: »Aber hier zu sein, das ist doch jetzt auch schön!«
Mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, alle bombardierten mich mit Fragen, und mir schwirrte der Kopf. Ich wusste nicht, was ich sagen, wo ich anfangen sollte. Ich dachte auf Englisch und sprach gebrochen Deutsch. Meine Eltern strahlten mich an. Meine Mutter sah so glücklich aus, und doch lag über ihrem Gesicht ein hauchdünner Schleier unendlichen Kummers. Mein Vater schwitzte, seine Glatze glänzte. Seine Wohlgenährtheit hatte etwas Todtrauriges. Aus dem Gesicht meines übrig gebliebenen Bruders war ein Erwachsenengesicht geworden. Sie sahen mich an. Sie hatten so auf mich gewartet. Ich musste etwas erzählen. Ich holte meine Geschenke. Für jeden einen Kaffeebecher mit einem Rodeoreiter darauf und jede Menge amerikanische Lebensmittel. Maccaroni and Cheese, meine Toastscheiben mit Fruchtfüllung, eine Backmischung für Pancakes, dazu Ahornsirup, und sogar zwei Dosen Mountain Dew. Aber was sollte ich erzählen. Womit sollte ich anfangen? Ich sagte: »In der Highschool, da hab ich Sachen erlebt. Incredible! Da laufen lauter schwangere Mädchen rum. Here I never … hab ich noch nie ein schwangeres Mädchen in school gesehen. Da ist das ganz normal – nor-mal. In dem year da ich da on the Highschool war, da haben sogar welche geheiratet. Die heiraten mit seventeen. She was pregnant, und er musste maybe sie auch heiraten. Und ich habe gesehen, wie zwei Mädchen miteinander gekämpft haben. Sich richtig geprügelt haben. Jesus Christ! So und so and so. Voll in die Fresse haben die sich gehauen. Sich gegen die Locker – Locker na … gegen diese Schränke sind die geknallt. Die eine pulled a knife. Haben beide geblutet und geflucht!«
Mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, alle bombardierten mich mit Fragen, und mir schwirrte der Kopf.
In der ersten heimatlichen Nacht schlief ich, obwohl ich sterbensmüde war, schrecklich. Diese deutsche Matratze ließ keinen Zweifel mehr daran, dass ich wieder zu Hause war. Kein Schwanken, keine Wellen, kein: Leinen los. Fest vertäut lag ich da. Mehrmals wurde ich in dieser Nacht wach, wurde wach mit dem eigenartigen Gefühl, an Händen und Füßen auf den Boden gedrückt zu werden, und nebenan meinte ich, Don im Bad zu hören.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es still im Haus. Neben meinem Frühstücksteller ein Zettel meiner Mutter: »Ich bin so glücklich, dass du wieder da bist! Ruh dich aus. Ich komme so um eins, und dann gibt es Hühnerfrikassee!« Ich ging durchs Haus. Die Kerze vor dem Bild meines Bruders brannte. Aus seinem Zimmer war ein Gästezimmer geworden. Ich legte mich auf sein Bett und dachte an ihn. Und mir fiel etwas ein, das wir zusammen erlebt hatten. Ein richtiges Abenteuer. Ich hatte lange nicht mehr daran gedacht. Wie ich überhaupt während des ganzen Jahres in Amerika selten zurückgeblickt hatte. Meine Gedanken waren monatelang nur nach vorn geprescht. Dankbar hatte ich mich diesem Sog hingegeben, mich aus meiner eigenen Vergangenheit, und letztlich auch aus der Trauer, fortreißen lassen.
Ich hatte lange nicht mehr daran gedacht. Wie ich überhaupt während des ganzen Jahres in Amerika selten zurückgeblickt hatte.
[…]
Mit meiner deutschen Freundin war plötzlich alles ganz einfach und aufregend. Kein »Eins nach dem anderen!« mehr. Hatte sie so wie ich während meiner Abwesenheit Erfahrungen gesammelt? Wir sprachen nicht darüber. Einmal sagte ich, während wir miteinander schliefen, »Move!« und behauptete später auf ihr Nachfragen hin steif und fest, ich wüsste nicht, wovon sie spräche.
»Ich hab es doch gehört. Ich bin doch nicht bescheuert. Du hast ›Move!‹ gerufen.«
»So ein Quatsch. Warum soll ich denn bitte schön ›Move!‹ rufen?«
»Woher soll ich denn das wissen? Aber gehört habe ich es!«
»Vielleicht habe ich Huuove gemacht oder Ahhhhve! Irgendwie gestöhnt halt.«
»Na ja, ich weiß nicht. Also für mich klang es wie ›Move!‹.«
[…]
Gleich nach Beginn des Schuljahres hatte ich an mehreren gut sichtbaren Punkten und am sogenannten Schwarzen Brett Zettel aufgehängt. Zettel, die bekannt gaben, dass von nun an zweimal die Woche am Nachmittag ein Basketballtraining in der Turnhalle stattfinden würde. Unter meiner Leitung. Ich hätte gern wesentlich mehr Einheiten absolviert, doch die anderweitige Nutzung der Turnhalle ließ dies nicht zu. Auf meinen Vorschlag, dreimal die Woche vor der Schule, ganz früh am Morgen, von 6 Uhr bis 7:45 Uhr zu trainieren, wurde mit Unverständnis und Ablehnung reagiert. Der Hausmeister, den ich aufsuchte, um ihn zu bitten, die Halle so früh aufzuschließen, sagte nur trocken: »Um halb sechs? Ich bin doch kein Milchmann!« Ich hätte gern die Spieler knallhart auf ihre Fähigkeiten hin geprüft und anschließend ausgesiebt. Doch zum ersten Training erschienen nur acht Interessierte. Acht! Das war bitter für mich, da ich mir in vielen Stunden ausgemalt hatte, wie ich dem Basketballsport in meiner abgelegenen Heimat auf die Sprünge helfen würde. Doch das, was sich da in der Turnhalle versammelt hatte, war ernüchternd. Mich selbst sah ich in einer Doppelfunktion. Nicht nur als Trainer, sondern auch als Führungsspieler wollte ich meiner Mannschaft dienen. Ich hatte in Laramie alle Trainingspläne gesammelt und fein säuberlich abgeheftet. Gegenüber den acht Schülern, die immerhin gekommen waren, vergriff ich mich vom ersten Moment an fatal im Ton. Ich schimpfte, fluchte auf Englisch und brüllte rum. Ungeduldig und besserwisserisch korrigierte ich Fehler beim Wurf und passte einem schmächtigen Jungen den Ball so scharf zu, dass er ihn nicht fangen konnte und voll auf die Brust bekam. Er rang nach Luft, krümmte sich auf dem Boden, und ich stand neben ihm und sagte, ohne mich hinunterzubeugen: »Next time I would catch it!«
Jedes Mal, wenn jemand nur eine einzige Minute zu spät zum Training erschien, bekam ich unglaublich schlechte Laune und strafte den Schuldigen mit Nichtachtung oder ein paar Extraeinheiten Linienlauf. Nach vier Wochen waren noch drei Schüler übrig. Drei! Zwei von ihnen waren unter eins siebzig und so ungeschickt, dass ich es als persönliche Beleidigung empfand, wie sie zu dribbeln und zu werfen versuchten. So viel Unvermögen konnte es nicht geben, so blöd konnte sich kein Mensch freiwillig anstellen! Sie waren gekommen, um mich zu quälen, mich mit ihrem Antitalent zu strafen. Mir ist bis heute nicht ganz klar, wie ich in der Lage war, diesen Schwund so rigoros zu ignorieren. Mit mir waren wir nur noch vier. Wir waren nicht einmal mehr genug für eine vollständige Mannschaft. Doch ich trainierte eisern weiter und schwang pathetische Reden über den Zusammenhang von Ballbeherrschung und Sprungkraft: »Das ist so super«, schwärmte ich, »wenn du abspringst und in der Luft den Ball zugepasst bekommst. Du fängst den Ball. Um dich herum der Lärm der Zuschauer, die Musik, das Geschrei der Cheerleader. Du hast den Ball! Du bist immer noch in der Luft. Siehst den Korb. Und du steigst und steigst. Setzt zum Wurf an, und du weißt hundertprozentig, dass du triffst. Das ist so super, wenn du todsicher bist, dass du den Ball ohne den Ring zu berühren im Netz versenken wirst. Wisst ihr, ihr müsst jetzt endlich mal damit aufhören, euch darüber zu wundern, dass ihr TREFFT! Wundert euch, wenn ihr NICHT trefft!«
Ich hatte mir ausgemalt, wie ich dem Basketballsport in meiner Heimat auf die Sprünge helfen würde.
Zum Abschluss jeden Trainings beorderte ich meine völlig geräderte Rumpfmannschaft an die Freiwurflinie. Jeder hatte zehn Würfe. Am Ende der Saison hatte meine Quote in Laramie bei fast neunzig Prozent gelegen. Auch jetzt traf ich von zehn Würfen sieben oder acht. Aber etwas hatte sich in meinen Bewegungsablauf eingeschlichen, das mich irritierte. Was war los? Etwas hakte. Die fein abgestimmte Koordination war aus unerfindlichen Gründen dahin. Auch ertappte ich mich dabei, wie ich beim Werfen hin und wieder auf den Ball sah und nicht, wie ich es schon zur Gänze verinnerlicht hatte, immer nur auf das Ziel, »the target«, den Korb. Von den drei Schülern traf einer keinmal, einer einmal und einer zweimal. Ich rief: »That’s ridiculous! Was sind das für Gurkenwürfe? Ihr macht alles falsch, was man nur falsch machen kann! Konzentriert euch doch mal. I can’t believe it. What a crap!« Da sagte der Jüngste von den dreien – er war im Grunde der Einzige gewesen, der ganz gut war und der immer sein Bestes gegeben hatte – ohne mich anzusehen: »Oh Mann, jetzt hör mal auf, dich so aufzuspielen. Wir haben darauf echt keinen Bock mehr. Wir wollen einfach nur ein bisschen auf den Korb werfen und Spaß haben. Ich mein, du bist echt gut und so, und wir können ’ne Menge von dir lernen, aber du führst dich hier auf wie der komplette Vollarsch!« Die beiden Kleinwüchsigen nickten, und einer von ihnen fügte hinzu: »Und dass du andauernd auf Englisch rumlaberst, ey, das nervt total!« Ich nahm den Ball, meinen echten, von Jerry überreichten, vielfach signierten Lederball, ging zum Ausgang, drehte mich um und rief, nein brüllte: »Für euch scheiß Luschen ist mir meine Zeit echt zu schade!« Während ich mich umzog, hörte ich in der Halle vereinzelte Lacher, Zurufe und wie die Bälle gegen den Basketballring schepperten. »Oh Mann«, dachte ich, »what the f...