Kursbuch 209
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Ausnahmezustand Normalität

  1. 152 Seiten
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Ausnahmezustand Normalität

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Über dieses Buch

Die Unterscheidung zwischen Ausnahmezustand und Normalität wird immer schwieriger. Oder sagen wir, ist kaum mehr möglich. Ist die COVID-Pandemie noch Ausnahmezustand oder schon längst Normalität? Grenzen verschwimmen. Wahrnehmung zerfasert. Alles könnte auch anders sein. In diesem Kursbuch geht es um das Verhältnis von Normalität und ihrem Gegenüber, über das Verhältnis von Ausnahmezustand und Normalität, um den Ausnahmezustand Normalität.Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie sich nicht auf das Spiel einlassen, den Ausnahmezustand durch eine wie auch immer geartete Normalität heilen zu wollen. Horst Bredekamp etwa pocht auf den Ausnahmezustand, den das ästhetische Erleben hervorbringen kann, Carolin Müller-Spitzer macht deutlich, dass die Herstellung sprachlicher Normalzustände eine Machtfrage ist, Leonhard Schilbach zeigt am Beispiel des Autismus, wie kontingent Vorstellungen sozialer Normalität sind, Sibylle Anderl macht auf den revisionsfähigen Status aller normalwissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten aufmerksam. Und Levi Israel Ufferfilge beschreibt an jüdischen Schulen einen drastischen Fall eines Ausnahmezustands Normalität als Insel in permanentem Anderssein. Die sieben Intermezzi beantworten schließlich die Frage: »Wann wurde für Sie aus einem Ausnahmezustand Normalität?« Antworten von Gerhard Roth bis Ethel Matala de Mazza.

Häufig gestellte Fragen

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Carolin Müller-Spitzer
Der Kampf ums Gendern
Kontextualisierung der Debatte um eine geschlechtergerechte Sprache
Wir alle sind derzeit Zeug*innen einer besonderen Form von Sprachwandel, nämlich der Diskussion rund um Sprache und Geschlecht. Verfolgt man die Debatte um geschlechtergerechte Sprache, ist ein wiederkehrendes Argument, dass sich Sprache »natürlich« entwickele, und solch ein »schwerer Eingriff« 1 – wie es geschlechtergerechte Sprache sei – in das organische System der Sprache unangemessen und vielleicht sogar »gefährlich« sei. Es klingt so, als seien solche »Eingriffe« noch nie da gewesen. Allerdings sind politisch motivierte, bewusst her­beigeführte Sprachwandelprozesse weder ungewöhnlich noch neu. Doch wie verliefen sie in der Vergangenheit und was kann man daraus für die Debatte um geschlechtergerechte Sprache lernen? Um diesen Fragen nachzugehen, werde ich zunächst exemplarisch einen kurzen Blick auf zwei sprachpolitisch motivierte Sprachdiskussionen der Vergangen­heit werfen, und zwar den Kampf gegen Fremdwörter, vor allem im Kontext der Rechtssprache, und die Selbstbezeichnung schwuler und lesbischer Menschen.
Der Kampf gegen »Fremdwörter«
Nach Gründung des Deutschen Reiches war auch die Sprache ein sehr wichtiger Schauplatz zur Bildung nationaler Identität geworden. Sprach­reformer schlossen sich 1885 im »Allgemeinen Deutschen Sprachverein« zusammen, um das »sprachliche Gewissen im Volke zu schärfen« und »mit dem Aufschwung der Nation auch das Sprachgewissen wieder lebendiger« werden zu lassen.2 Wichtigstes Projekt war die Etablierung von »Ersatzwörtern«, um »Fremdwörter« zu vermeiden. Die Mitglieder des Vereins, eher Nationalbegeisterte aus dem akademischen Bildungs­bürgertum als Fachwissenschaftler*innen, gewannen recht schnell an Einfluss. Führende Köpfe aus Wissenschaft und Kunst sprachen zwar von »sittenwidriger Schnellprägung von Ersatzwörtern«, doch insbesondere in der Sprache des Rechts fand der Verein ein Betätigungsfeld. Das wichtigste Rechtsprojekt war das neue Bürgerliche Gesetzbuch. Die Mitglieder des Sprachvereins forderten die Eindeutschung aller rechtlichen Begriffe und waren damit so erfolgreich, dass es sie »mit Genugthuung erfüllte«, wie sehr in der finalen Fassung des BGB ihren Be­mühungen entgegengekommen wurde. Statt Civilgesetzbuch hieß es nun Bürgerliches Gesetzbuch, statt Domizil Wohnsitz, statt Interessent Be­teiligter, statt Publikation Bekanntmachung, statt Dividende Gewinnanteil oder statt Protest Einspruch. Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Damit war die Eindeutschung des Privatrechts gelungen und Schwung für weitere Bemühungen vorhanden. So wurden auch die Mitar­bei­ter*in­nen des Reichsjustizministeriums der Weimarer Zeit noch als »Wort-Graveure« gerühmt.3
Warum war diese Bewegung so erfolgreich? Die Idee einer »nationalen« Sprache war eingebettet in die Zeit nach der deutschen Reichsgründung: Das neu gewonnene nationale Selbstbewusstsein fand im Bemühen um eine möglichst »reine« deutsche Sprache ein ideales Anwendungsfeld. Sprache und Nation wurden zusammen entwickelt und von vielen zusammengedacht. So hieß es auf der Hauptversammlung des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 1890 zum Vorwurf der Sprachplanung (der durchaus immer mal wieder erhoben wurde). Das »bewußte Bemühen um die Hebung der Sprache« dürfe man nicht als »un­natürliches Eingreifen« betrachten. Dezidiert richtete sich der ­Red­ner dabei gegen Entlehnungen aus dem Französischen wie Coupé. Solche Wörter durch Wörter mit deutschem Stamm wie Abtheil zu ersetzen, sei ein »Grundrecht«, »fremde Wörter« seien »Dirnen«, heimische dagegen »Fleisch von unserem Fleische und Blut von unserem Blute«. Überhaupt habe man Sprache nicht »werden lassen«, sondern gestaltet, und zwar »um der Einheit der Nation willen«.4
Bei der Eindeutschung der deutschen Rechtssprache handelt es sich um ein Projekt, das von gut organisierten »Sprachpflegern« der natio­na­­len Bewegung initiiert und von den Institutionen des Staates gestützt wurde und zudem bei der Entwicklung eines maßgeblichen, einflussrei­chen, neuartigen Gesetzeswerkes schnell Kodexcharakter einnehmen konnte. Es war demnach eine sprachpolitisch geplante, gezielte Umwälzung, die im Einklang mit dem Handeln politisch einflussreicher Akteure stand.
Noch heute versucht der »Verein Deutsche Sprache« diese Tradition mit dem »Anglizismenindex« weiterzuführen, in dem Baby durch Kleinst­­­kind zu ersetzen sei, Babysitter durch Kinderhüter, ­Backgammon durch Würfelbrettspiel, Bagel durch Ringsemmel, Bashing durch (öffentliche) Ab­watschung, Blog durch Netztagebuch usw.5 Auch in seinen »Thesen zur deutschen Sprache« greift er die Idee der Sprachplanung auf: »Es besteht dringender Bedarf an professioneller Planung der Entwicklung und Ver­wendung der Sprache.« Man müsse die »Anglisierung des Deutschen« »bekämpfen: Sprachentwicklungen sind in bestimmtem Umfang lenkbar. […] Dies erfordert politischen Willen und professionelle Planung.« 6 Mit Fremdwortkritik oder speziell Anglizismenkritik können Sprach­purist*innen wie der Verein Deutsche Sprache heute anders als der Allgemeine Deutsche Sprachverein Ende des 19. Jahrhunderts bis auf begrenzte Kreise mit wenig Anschlussmöglichkeit in die breite Öffentlichkeit keine große Aufmerksamkeit mehr auf sich ziehen. Das Thema »Gendern« hingegen hat sie wieder in die großen Zeitungen gebracht. Vor einem genaueren Blick auf den feministisch motivierten Sprachwandel ist jedoch ein Blick auf die sprachliche Spiegelung der emanzi­pa­torischen Bestrebungen von »Homosexuellen« hilfreich.
Die »Sprache der Gosse« im Bundestag
Es würde zu weit vom Thema wegführen, die Geschichte und die Erfol­ge der Lesben- und Schwulenbewegung und alle sprachlichen Kämpfe, die diese mit sich brachten, an dieser Stelle historisch nachzuzeichnen. Es sei nur kurz erinnert, dass erst 1990 die WHO offiziell entschied, dass Homosexualität keine psychische Krankheit sei, 1969 zwar die Strafver­folgung von Lesben und Schwulen aufgehoben wurde, aber erst 1994 der berüch­tigte Paragraf 175 ersatzlos gestrichen wurde und gleich­­ge­schlecht­­­liche sexuelle Handlungen mit heterosexuellen rechtlich gleich­gestellt wurden. Schwul und lesbisch, so wie auch das englische gay, waren entsprechend der Diskriminierung von Homosexuellen Stigma­wörter, das heißt Diffamierungs- und Beschimpfungsvokabeln. Relikte finden sich auch heute noch in der Jugendsprache: Wenn etwas »voll schwul« ist, ist es meist nicht wirklich gut. Die Lesben- und Schwulenbe­wegung selbst kaperten aber diese Wörter und nutzten sie zur Selbstbezeichnung, sodass sie heute neutral verwendet werden können.7
Eine konkrete Begebenheit aus dem Jahr 1988 im Deutschen Bun­des­­­tag soll exemplarisch die Sprachdiskussionen um diese ­S­elbstbezeich­nung verdeutlichen.8 Hintergrund waren verschiedene sprachliche Kämp­fe, die vor Gericht verhandelt wurden. Zunächst wollte das »Feministische Frauengesundheitszentrum Berlin« eine Anzeige schalten, in der das Wort »Lesben« vorkam. Die Deutsche Postreklame GmbH lehnte den Druck der Anzeige ab, weil das Wort »Lesben« gegen die »guten Sitten« verstoße. Die Klage des Frauenzentrums wurde vom Amtsgericht Frank­furt mit einer interessanten Begründung abgelehnt: Der Text ver­stoße wegen seiner vulgären Wortwahl gegen die Achtung »derjenigen Frauen, die in ihrem erotischen Empfinden sich zu weiblichen Partnern hinge­zo­gen« 9 fühlen, sei also diskriminierend gegenüber lesbischen Frauen. Das Amtsgericht me...

Inhaltsverzeichnis

  1. Armin Nassehi | Editorial
  2. Jan Schwochow | Eine Quelle, zwei Grafiken. Covid-19 ist nicht normal. Sterben in Deutschland
  3. Levi Israel Ufferfilge | »War nie weg, wird immer sein«. Von den Normalitäten jüdischen Lebens und des Antisemitismus in Deutschland
  4. Intermezzo
  5. Intermezzo
  6. Carolin Müller-Spitzer | Der Kampf ums Gendern. Kontextualisierung der Debatte um eine geschlechtergerechte Sprache
  7. Intermezzo
  8. Armin Nassehi | Sichtbar unsichtbar. Warum der Ausnahmezustand normal ist
  9. Intermezzo
  10. Horst Bredekamp | Kunst und Ausnahmezustand. Kleine Geschichte eines umkämpften Zusammenhangs
  11. Islandtief (2) | Virtuelle Lava. Die Berit-Glanz-Kolumne
  12. Heike Littger | Lagerfeuer. Mitten durch die Prärie
  13. Intermezzo
  14. Sibylle Anderl | Wie normal ist Wissenschaft? Eine kritische Selbstreflexion
  15. Intermezzo
  16. Leonhard Schilbach | Mehr Autismus wagen. Ein Plädoyer für mehr Diversität in der Wahrnehmung des Normalen
  17. Intermezzo
  18. FLXX | Don’t look back. Schlussleuchten von und mit Peter Felixberger
  19. Die Autoren und Autorinnen
  20. Impressum