WIE WIR DIE WELT VERÄNDERN WOLLEN
Nicht legal, aber legitim: unser ziviler Ungehorsam
Von Julia, Leo und Marc
»Am Wochenende vom 14. bis 16. August 2015 werden wir gemeinsam mit vielen anderen Menschen in einer Aktion zivilen Ungehorsams den dreckigsten und größten CO2-Verursacher Europas – die Tagebaue im rheinischen Braunkohlerevier – lahmlegen.«18
Das war im Frühjahr 2015 eine durchaus gewagte Behauptung eines bislang unbekannten Bündnisses, denn eine derartige Blockadeaktion in einer Kohlegrube mit so vielen Menschen hatte es bis dahin noch nicht gegeben. Doch die Aktion gelang. Trotz massivem Polizeieinsatz gelangten rund 1.000 Menschen in die Grube – Förderbänder und Bagger standen still. Im Westdeutschen Rundfunk (WDR) war in den folgenden Tagen zu hören, was als Mobilisierungsparole zu dieser ersten Ende-Gelände-Aktion bereits behauptet worden war: »Das Rheinland ist das neue Wendland!« Da »das Wendland« für eine Tradition von vielfältigem Protest inklusive zivilem Ungehorsam gegen Atomkraft in Deutschland steht, wurde Ende Gelände damit in die lange Geschichte des zivilen Ungehorsams als Aktionsform sozialer Bewegungen eingeordnet. Die Parole verweist zugleich auch auf die Anti-Atom-Bewegung als Vorläuferin unserer Aktionen.
In zahlreichen Aktionen zivilen Ungehorsams haben wir mit Ende Gelände seitdem an verschiedenen Orten Bagger zum Stillstand gebracht und Kohleinfrastruktur blockiert. In weißen Anzügen sind Aktivistinnen zu Tausenden in Kohlegruben gegangen, haben auf Kohletransportschienen geschlafen, vor riesigen Kohlebaggern getanzt und große Transparente von Baggern herabhängen lassen. Sie haben damit Bilder erzeugt, die um die Welt gingen. Sie haben sich der fossilen Industrie in den Weg gestellt und auf die Klimakatastrophe aufmerksam gemacht, die droht, wenn wir mit unserer Wirtschaftsweise weiterhin Treibhausgase ausstoßen. Ziviler Ungehorsam vor Ende Gelände
Die Aktionen im Wendland und die bundesweiten Blockaden der Castor-Atommülltransporte sind für viele jüngere Aktivistinnen heute keine eigenen Erinnerungen mehr. Stattdessen wird zunehmend Ende Gelände zum Muster einer Aktion massenhaften zivilen Ungehorsams. Ohne Kampagnen wie X-tausendmal quer, BlockG8, Castor? Schottern! sowie eine lange politische Debatte und Praxis rund um zivilen Ungehorsam hätte es Ende Gelände jedoch niemals in dieser Form gegeben. Daher wollen wir hier an unsere Vorläuferinnen erinnern. Zwei historische Beispiele, die das Bild von zivilem Ungehorsam prägen, sind die Aktionen der indischen Unabhängigkeitsbewegung und der → Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Nach dem Salzmarsch 1930 beginnen Zehntausende Inderinnen, selbst Salz aus Meerwasser zu gewinnen und steuerfrei weiterzugeben und verstoßen damit gegen das Salzmonopol der britischen Kolonialmacht. Die US-Amerikanerin Rosa Parks weigert sich 1955, ihren Sitzplatz in einem Bus für → weiße Passagiere zu räumen. Ihre Verhaftung löst den einjährigen Montgomery-Bus-Boykott aus, der mit vielen anderen Protesten zum Ende der formellen rassistischen Diskriminierung in den USA führte. In Deutschland findet 1968 eine erste Aktion massenhaften zivilen Ungehorsams statt, die sich auf das Vorbild einer britischen Kampagne bezieht: Tausend Studierende setzen sich vor die Vertretung des griechischen Militärs in Berlin, um gegen die Diktatur in Griechenland zu protestieren. Vorbereitet wird die Aktion mit öffentlichen Absichtserklärungen. Auch bei Ende Gelände kündigen wir unsere Aktionen vorher öffentlich an.
In der Anti-Atom-Bewegung werden ab den 1970er Jahren Bauplätze besetzt und Hüttendörfer errichtet. Die Besetzung am Standort eines geplanten Atomkraftwerks in Wyhl/Baden-Württemberg inspiriert wiederum die US-amerikanische Anti-Atom-Bewegung. Die dortige Clamshell-Alliance übernimmt die Aktionsidee der massenhaften Besetzung für die Proteste gegen den Bau des Atomkraftwerks Seabrook, führt Aktionstrainings durch und entwickelt das Entscheidungssystem von Bezugsgruppen, Sprecherinnenräten und Konsens für eine Aktion mit Hunderten Teilnehmenden. Die Platzbesetzung und polizeiliche Räumung in Gorleben 1980 erregen viel Aufmerksamkeit und im Wendland entwickelt sich über die Jahre eine vielfältige ungehorsame Tradition. Die Sitzblockaden gegen die Stationierung von Atomwaffen auf der Schwäbischen Alb übernehmen in den 1980er Jahren wiederum Bezugsgruppensystem, Konsensentscheidungen, Aktionskonsens und Aktionstrainings aus den USA und verankern diese damit in der deutschen Protestkultur. Bis heute sind alle diese Elemente weit verbreitet in sozialen Bewegungen und zentrale Bestandteile der Ende-Gelände-Aktionen. An der Sitzblockade der Kampagne X-tausendmal quer nehmen 1997 im Wendland 7.000 Menschen teil. Aktive von X-tausendmal quer entwickeln in den folgenden Jahren die so genannte 5-Finger-Taktik, mit der Aktivistinnen sich durch Polizeiketten bewegen, ohne sich auf Auseinandersetzungen einzulassen. X-tausendmal quer perfektioniert auch die Aktionslogistik und Versorgung der Blockadeteilnehmenden mit Essen, Toilettenhäuschen und Strohsäcken; später bringen X-tausendmal-quer-Aktivistinnen diese Erfahrungen bei Ende Gelände ein. Die weißen Anzüge, die später Kennzeichen von Ende Gelände sind, tragen zum ersten Mal in Deutschland Hunderte von Teilnehmenden bei Aktionen zivilen Ungehorsams während der Kampagne Castor? Schottern! 2010 und 2011 im Wendland. Im Rahmen der Kampagne Gendreck weg! wird in den Jahren 2005 bis 2009 öffentlich angekündigte Sachbeschädigung massenhaft praktiziert: Nachdem die Aktivistinnen, die sich als Feldbefreierinnen bezeichnen, sich durch Polizeiketten bewegt haben, dringen sie auf Felder mit gentechnisch verändertem Mais vor und reißen die Pflanzen aus, bis sie verhaftet werden. Der Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm führt 2007 zur bis heute größten Aktion zivilen Ungehorsams in Deutschland (siehe dazu ausführlicher im Artikel Wo wir herkommen: die Geschichte von Ende Gelände).
Aus dem Schwung von BlockG8 entsteht 2008 in Hamburg auch das erste Klimacamp in Deutschland – nach dem Vorbild der Klimacamps in Großbritannien. Am Ende des Camps versuchen Hunderte Aktivistinnen, auf das Gelände des Kohlekraftwerks Moorburg zu gelangen, um es zu blockieren. Im Vorfeld des UN-Klimagipfels in Kopenhagen 2009 entsteht eine breite internationale Vernetzung der Klimabewegung. Die Aktionen zivilen Ungehorsams während des Gipfels scheitern aber an geringer Beteiligung und massiver Polizeirepression. Gleichzeitig wird der Ansatzpunkt, internationale Gipfeltreffen als Hebel für politische Veränderungen zu sehen, zunehmend kritisch bewertet. Es findet eine Umorientierung statt, hin zu den Orten, wo Zerstörung unmittelbar sichtbar wird und direkt eingegriffen werden kann.
Sowohl im Rheinland als auch in der Lausitz finden ab 2010 im Kontext der dort inzwischen regelmäßig stattfindenden Klimacamps Blockaden von Kohlebahnen und Kohlekraftwerken statt. An den ersten Aktionen nehmen eine Handvoll Aktivistinnen teil, bald schon sind es hundert und mehr (siehe dazu ausführlicher im Artikel Wo wir herkommen: die Geschichte von Ende Gelände). Und schließlich machen sich an einem frühen Morgen im August 2015 etwa 1.300 Aktivistinnen, nach Vorbereitung in gemeinsamen Aktionstrainings, organisiert in Bezugsgruppen und Sprecherinnenräten, gekleidet in weiße Anzüge und ausgerüstet mit Strohsäcken, in einer abgewandelten Form der 5-Finger-Taktik vom Klimacamp aus auf den Weg in die Grube und auf die Bagger von Garzweiler II im Rheinland. Ziviler Ungehorsam von Ende Gelände
In den Vorbereitungstreffen für die erste Aktion von Ende Gelände kommen Menschen aus unterschiedlichen dieser Traditionen zusammen. Sie bringen Erfahrungen aus den Klimacamps und der Besetzung des Hambacher Forstes im Rheinland mit, von BlockG8 in Heiligendamm, den Gipfelprotesten in Kopenhagen oder Castor? Schottern! So können viele Erfahrungen und Ansätze der Bewegungen vor uns aufgegriffen und zusammengebracht werden. Doch es wird auch viel gerungen – um unterschiedliche Zielsetzungen der Aktion, verschiedene Vorstellungen gesellschaftlicher Veränderung oder politischer Kulturen. Auch die Bezugnahme auf den Begriff des zivilen Ungehorsams wird anfangs kontrovers diskutiert. Akteurinnen aus dem Anti-Atom-Widerstand befürchten zum Beispiel, dass sich der Spielraum für ihre als besonders friedlich und familientauglich bekannten Aktionen einenge, wenn Ende Gelände den Begriff für Aktionen benutzen sollte, die dynamischer werden könnten. Letztlich einigen sich die Anwesenden auf die Verwendung des Begriffs. Die Debatten machen jedoch deutlich, dass er umkämpft ist und historischen Veränderungen unterliegt. Um unser Konzept von zivilem Ungehorsam zu verstehen, werfen wir einen Blick auf unterschiedliche Verständnisse des Begriffs:
Als ziviler Ungehorsam gilt, wenn sich Menschen zusammenschl...