Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie
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Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie

  1. 128 Seiten
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Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie

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Die systemische Therapie entstand als eigenständiger Ansatz der Psychotherapie zu Anfang der achtziger Jahre als Weiterentwicklung der Familientherapie. Ihre Methoden und Techniken werden jedoch längst auch von anderen therapeutischen Schulen und in den unterschiedlichsten Anwendungsbereichen eingesetzt.Dieser Einführungsband fasst die wesentlichen Grundlagen der systemischen Therapie auf prägnante und verständliche Weise zusammen. Der Autor beschreibt zunächst die biologischen, neurowissenschaftlichen, soziologischen und systemtheoretischen Voraussetzungen systemischen Denkens. Im zweiten Teil werden die Grundlagen der therapeutischen Praxis vorgestellt, die sich aus dem systemischen Denken ableiten."Ich finde, dies ist ein Buch, das in vielfältigen Kontexten verwendet werden kann: In der Lehre an Hochschulen, in den Ausbildungs- und Fortbildungsgängen der Weiterbildungsinstitute, für die eigene persönliche Weiterbildung als systemische Fachkraft und für die Diskussion um die konzeptionelle Fundierung und Weiterentwicklung systemischer Praxis im psychosozialen Feld."Wolf Ritscher/KONTEXTDer Autor gehört zur ersten Generation systemischer Therapeuten und ist der Verfasser mehrerer Grundlagenwerke zur systemischen Therapie.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783849783471

Teil I: Systemisches Denken

Der erste Teil dieses Bandes befasst sich mit dem theoretischen Rahmen, den die systemische Therapie als theoretische Begründung bzw. „Metatheorie“ verwendet: dem systemischen Denken. Der zweite Teil geht dann auf die Grundlagen der Praxis ein. Im Folgenden wird zunächst erläutert, was hier unter „systemisch“ zu verstehen sein wird. In der Folge werden die Kernvoraussetzungen aus Biologie und Soziologie erörtert, die dem systemischen Denken zugrunde liegen. Danach wird ein mit diesem Denken übereinstimmendes „Menschenbild“ erarbeitet und davon ein anthropologisch begründetes „systemisches Prinzip“ abgeleitet. Diesen ersten Teil schließt ein kurzer Abriss über die historische Entwicklung der systemischen Therapie von ihren Anfängen in den Familientherapien bis in die Vielfalt der heutigen Ansätze ab.

1. Was heißt „systemisch“?

Im Kontext der Psychotherapie gibt es auf die Frage, was unter „systemisch“ zu verstehen sei, wohl mindestens so viele Antworten, wie es Gruppen gibt, die dieses Konzept verwenden. Das Spektrum der Definitionen erstreckt sich von einem diffusen Bezug auf Ganzheiten und Systemkonzepte bis hin zu einem elaborierten wissenschaftlichen Programm unter Einbeziehung von erkenntnis- und systemtheoretischen Positionen. In der systemischen Therapie wird „systemisches Denken“ als Kürzel für verschiedene Denkansätze aus den Systemwissenschaften verwendet.
Als Adjektiv von System hat „systemisch“ eine zunächst sehr allgemeine Bedeutung, die, für sich genommen, kommunikativ wenig brauchbar ist, zumal sie sich undifferenziert auf alles bezieht, was mit „System“ zu tun hat. Eine bedeutungsvolle Verwendung dieses Adjektivs erfordert zum einen eine präzise Bestimmung des Systembegriffs und zum anderen eine genau Angabe des Denkhintergrunds, vor dem es verwendet wird. Ohne diese Präzisierungen geht man das Risiko ein, entweder jeden Diskurs über mehr als ein Individuum schon zu einem „systemischen“ zu machen oder den Begriff unnötig zu verwässern.

1.1 Systemisch denken

Systemisches Denken macht sich Grundfragen menschlicher Existenz zum Gegenstand und versucht, diese unter Rückgriff auf systemwissenschaftliche Erkenntnisse zu beantworten. Diese Fragen betreffen im theoretischen Bereich die Probleme des Erkennens und Seins, also Fragen der Epistemologie und Ontologie, und, daran geknüpft, auch der Ethik. Auf der praktischen Ebene geht es dabei unter anderem um Fragen der Politik, Ökologie, Moral und, nicht zuletzt, der Therapie. Im allgemeinsten Sinne bezeichnet systemisches Denken eine Denkkultur, die auf eigenen Interpretationen menschlichen Lebens und Erkennens aufbaut und, damit übereinstimmend, Folgerungen für die Praxis ableitet.
Das Hauptziel systemwissenschaftlichen Denkens ist es, mit komplexen Phänomenen gegenstandsgerecht umzugehen. Folgt man dem Bielefelder Soziologen und Schüler Luhmanns, Helmut Willke (1982), lässt sich sagen, dass Systemtheorien im Wesentlichen von „organisierter Komplexität“ – also von Systemen bzw. System-Umwelt-Verhältnissen – handeln. Unter Theoretikern der systemischen Therapie dürfte trotz der vielen Wandlungen in den letzten Jahrzehnten eine weitgehende Einigung darüber herrschen, dass eine systemische Praxis zum Hauptanliegen hat, mit Komplexität schonend umzugehen. Man leistet, mit den Worten des Heidelberger Psychosomatikers und Pioniers der systemischen Therapie in Deutschland, Helm Stierlin (1983), komplexitätserhaltende Komplexitätsreduktion. Diese gewiss zungenbrecherische Formel weist bereits auf die zwei Wissensgebiete hin, auf die systemisches Denken zurückgreift: explizit auf Systemtheorie als Wissenschaft von Komplexität und implizit auf die Prozesse, die Systeme als „organisierte Komplexität“ hervorbringen, nämlich auf die Prozesse des Beobachtens. Systemisches Denken steht gewissermaßen auf zwei Säulen, einer erkenntnistheoretischen und einer systembezogenen. Die meines Erachtens bestgelungene Illustration dieses Zusammenhangs zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Beobachter und Kommunikation, zwischen Linearität und Rückbezüglichkeit stellt der Cartoon des österreichischen Systemikers, Hannes Brandau, in Abbildung 1 dar.
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Abb. 1: Die Wirklichkeit der Wirklichkeit oder: Die zwei Säulen systemischen Denkens (aus: Hannes Brandau, Supervision aus systemischer Sicht, © Otto Müller Verlag, Salzburg 1996, 3. Aufl.)
Dieser Cartoon stellt zum einen die „Eingeschlossenheit“ des Lebewesens in seiner eigenen Biologie mit all den unvermeidlichen Folgen für Kognition und Wirklichkeit dar, zum anderen die unauflösliche „Eingebundenheit“ des Menschen in soziale Interaktionen und Kommunikation. Diesen konstitutiven Doppelcharakter menschlichen Seins als zugleich biologisches Individuum und sprachliches Sozialwesen formulierte der österreichische Physiker und Erkenntnistheoretiker, Heinz von Foerster (1985), als das komplementäre Verhältnis von Selbstständigkeit und Einbezogenheit. Beobachter sind als lebende Organismen autonom und unausweichlich selbst-ständig, zugleich aber als beobachtende Organismen immer Teil ihrer Beobachtungswelt, also einbezogen. Auf eine Kurzformel gebracht: cogitamus ergo sumus. Auf diese Thematik kommen wir noch einmal und ausführlicher im nächsten Abschnitt zurück.
Was macht systemisches Denken aus? Dieses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rasch expandierende Denken steht im Einklang mit Auffassungen, die in der Geschichte des Denkens seit der griechischen Antike immer wieder aufgetreten sind, im Bereich aber der herrschenden Naturwissenschaften bis vor kurzem wenig Beachtung erhielten. Erst im 20. Jahrhundert findet dieses Denken Eingang in die Naturwissenschaften und wird seitdem vor allem von Biologen und Physikern vorangetrieben.
In kognitionstheoretischer Perspektive lässt sich der Kern dieses Denkens unter Rückgriff auf den chilenischen Neurobiologen und Anthropologen Humberto Maturana wie folgt zusammenfassen:
  • Das operational und funktional geschlossene Nervensystem des Menschen unterscheidet nicht zwischen internen und externen Auslösern; Wahrnehmung und Illusion, innerer und äußerer Reiz sind für das Nervensystem im Prinzip nicht unterscheidbar.
  • Menschliches Erkennen ist als biologisches Phänomen nicht durch die Objekte der Außenwelt, sondern durch die Struktur des Organismus determiniert: man sieht, was man sieht.
  • Menschliche Erkenntnis ist als Leistung des Organismus grundsätzlich subjektgebunden und damit unübertragbar.
Mit Blick auf kommunikationstheoretische Belange lässt sich ergänzen:
  • Der Gehalt kommunizierter Erkenntnisse richtet sich nach der biologischen Struktur des Adressaten und nicht nach ihrem Inhalt: man hört und versteht, was man hört und versteht.
Neben den erwähnten kognitionstheoretischen Grundlagen gibt es einen weiteren wichtigen Aspekt, der schon an dieser einleitenden Stelle eingeführt werden soll. Es handelt sich um eine Haltung, die das Denken und Handeln zur Bescheidenheit mahnt. Dadurch soll jene häufige Verirrung des Denkens vermieden werden, die Humberto Maturana in der Einleitung zum Buch Der Baum der Erkenntnis (Maturana y Varela 1984, dt. 1987) die „Versuchung der Gewissheit“ genannt hat. Zum einen bietet systemisches Denken keine Gewissheiten, auf die man sich beziehen könnte, um den Wahrheitsgehalt der eigenen Aussagen endgültig zu belegen, zum anderen beschränkt sich dieses Denken bewusst auf die Ergebnisse menschlichen Beobachtens, ohne auf darüber hinausgehende metaphysische Letztbegründungen zurückzugreifen. Systemisches Denken mahnt uns in diesem Sinne, „bei dem eigenen Leisten zu bleiben“ und so im Hinblick auf den zeitüberdauernden Wert unserer Aussagen Bescheidenheit zu üben.
Diese Mahnung trifft im besonderen Maße auf Angehörige helfender Berufe. Egal ob als Psychologe, Arzt oder Sozialarbeiter neigen wir angesichts einer Situation, die uns bedrohlich erscheint und uns unumgänglich zum Handeln auffordert, unsere Entscheidungen normativ zu begründen und so zu tun, als wären sie indiskutabel. Ein solches Vorgehen schützt zwar den Helfer vor eventuell nagenden Zweifeln und Selbstvorwürfen, es birgt jedoch die Gefahr, dem betroffenen Hilfeempfänger jede Alternative zu nehmen. Sich gegen Behauptungen aus professionellem, „berufenem“ Munde zur Wehr zu setzen erfordert viel Selbstbewusstsein, und daran mangelt es unseren Anvertrauten häufig. Das Anliegen eines systemisch orientierten Helfers dürfte sein, trotz aller notwendigen Handlungsfähigkeit dennoch eine Haltung bescheidenen Wissens zu bewahren. Dies kann ihm zwar den Handlungsdruck nicht ersparen, es kann aber ihm und seinen Anvertrauten helfen, genügend offen für Alternativen zu bleiben. Angesichts von Handlungsdruck bietet sich an, nach Möglichkeit eine Position des Sowohl-als-auch einzunehmen, die sowohl für selbstkritische Abwägung offen als auch bereit ist, Handlung und Verantwortungsübernahme zu ermöglichen.

1.2 Systemische Praxis

Systemisches Denken bietet der Psychotherapie einen Denkrahmen, innerhalb dessen die Probleme, die sich im menschlichen und zwischenmenschlichen Leben ergeben, verstanden und so Möglichkeiten zu ihrer Überwindung erarbeitet werden können. Systemische Therapie hat sich mittlerweile weltweit, speziell aber in den meisten Ländern Europas und Amerikas etabliert und wird fast überall wissenschaftlich, professionell und daher auch gesetzlich anerkannt. „Systemisch“ wurde dieser Ansatz zu Beginn der 1980er-Jahre, als er mit dem erklärten Ziel entstand, die Möglichkeiten des systemischen Denkens für die Psychotherapie in Theorie und Praxis zu sondieren und eventuell fruchtbar zu machen. In den zweieinhalb Jahrzehnten seit Beginn dieses Projekts sind neben einer ansehnlichen Praxis der Psychotherapie als systemischer Einzelpsychotherapie, Paartherapie, Familientherapie und Gruppentherapie systemische Ansätze auch in anderen Bereichen erarbeitet worden, unter anderem in Beratung, Supervision, Pädagogik und Organisationsentwicklung. Zusammengefasst kann man von einer „systemischen Praxis“ sprechen. Einige dieser Entwicklungen werden im zweiten Teil dieses Buches thematisiert. Einen prägnanten Überblick über Definition, konzeptionelle Probleme und Lösungen systemischer Praxis bietet Abbildung 2.
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Abb. 2: Grundlagen systemischer Praxis: Definition, Probleme, Lösungen
Die in Abbildung 2 vorgelegte Definition von systemischer Praxis deckt sich zwar zum großen Teil mit Definitionen aus anderen Schulen, ihre Besonderheit liegt jedoch in den drei kursiv markierten Worten in der ersten Zeile von Absatz 1: Nutzung systemischen Denkens. Diese drei Worte verweisen auf den speziellen Denkhintergrund, vor dem diese Praxis geplant, durchgeführt, reflektiert und bewertet wird. Der Gegenstand einer systemischen Theorie der Praxis wird hier anhand der drei wichtigen konzeptionellen Probleme zusammengefasst, die diese Theorie zu lösen hat, um eine in sich kohärente Form zu finden. Diese sind:
  • Die biologische Autonomie des Menschen; sie macht ihn für bestimmende Interventionen aus der Außenwelt unzugänglich.
  • Die Rückwirkung der eigenen normativen Konstrukte auf den Menschen; sie stimmt gegenüber medizinisch begründeten Forderungen nach ätiologisch begründeter, exakter Diagnostik und kausaler Therapie skeptisch.
  • Das Verständnis von Kommunikation als offenem, jederzeit veränderbarem Prozess; es erfordert ein verändertes Konzept von psychosozialer Hilfestellung, ohne auf Störungs- und Heilungskonzepte zurückzugreifen.
Diese drei Aspekte folgen unmittelbar auf das Prinzip der Strukturdeterminiertheit von Systemen (vgl. 1.2.1, Stichwort „Autopoiese“). Beim Bewahren der eigenen Struktur (und so des Lebens) ordnen sich Lebewesen intern infolge der eigenen Gesetzlichkeit; das macht sie prinzipiell autonom. Aus der Binnensicht des Nervensystems schließen die Operationen der eigenen Bestandteile immer und nur auf Operationen anderer Bestandteile des gleichen Systems (Prinzip der operationalen Abgeschlossenheit). Das macht sie für eine äußere, kausal determinierende Einwirkung unzugänglich, jedoch nicht für Einwirkungen, die für die Funktionsweise des Organismus passend sind. Wesentlich ist hierbei, dass es das Lebewesen ist, das bestimmt, welche Einwirkungen auf welche Weise wirksam sein können, und nicht die Einwirkungen selbst. Einwirkungen können die Struktur eines Lebewesens (ver)stören bzw. perturbieren, sie jedoch nicht determinieren (Verstörungsprinzip). Selbst bei destruktiven Einwirkungen ist es die Struktur des Lebewesens, die bestimmt, welche Einwirkungen in der Lage sind, die kompensierenden und integrierenden Fähigkeiten des Systems zu überfordern und eventuell zu zerstören.
Der zweite Aspekt legt es nahe, die tradierten Vorgaben aus Naturwissenschaft und Medizin zu überwinden. An die Stelle einer ohnehin anzweifelbaren, möglichst genauen Diagnostik, die das zu behandelnde Problem in allen relevanten Aspekten zu erfassen habe, tritt ein vermehrtes Interesse an den vorhandenen Ressourcen und an der Förderung günstiger Alternativen. Menschliche und zwischenmenschliche Probleme sind weder „behandelbar“ noch „heilbar“ oder, im eigentlichen Sinne, „lösbar“, sondern vielmehr „auflösbar“ oder durch günstigere Alternativen ersetzbar.
Bezüglich der Offenheit von Kommunikation werden wir später sehen (vgl. 2.1.1), dass eine phänomengerechte Auffassung von Kommunikation als temporalisiertem, nichträumlichem Geschehen diese grundsätzlich von andersartigen Phänomenen unterscheidet. Anders als zum Beispiel physikalische und biologische Phänomene, die räumlichen Bestand haben, kommt Kommunikation als Prozess nur in der Zeitdimension vor und nicht im physikalischen Raum. Als Prozess muss sie darüber hinaus zu jedem Moment erneuert werden, sonst hört sie auf. Kommunikation findet nur im sozialen Phänomenbereich statt. Bedingungen wie Kausalität, die für physikalische Phänomene gelten, treffen für Kommunikation nicht zu. Wir werden später sehen, dass Kommunikation daher zu jedem Moment für Veränderung offen ist.
Bei der Formulierung einer Theorie der Praxis musste zusätzlich zu einer Neubestimmung des Gegenstands eine dazu passende methodologische Position erarbeit werden. Der Verzicht auf Kausalitätsannahmen erfordert Alternativen. Interventionen in psychische und soziale Systeme können, ohne dass ihnen Kausalität zugeschrieben werden könnte, nur als Einflussnahme auf die Randbedingungen der Strukturen konzeptualisiert werden, die das Problem tragen. Veränderungen der Randbedingungen können wiederum eine Veränderung der betroffenen Strukturen und so auch des Problems zur Folge haben, allerdings nur in der Art und Weise, die von der Struktur selbst bestimmt wird. Als Hilfestellung für die Erarbeitung solcher Interventionen habe ich drei Kriterien aufgestellt: nützlich, passend, respektvoll. Darüber mehr im zweiten Teil dieses Buches.

2. Denkvoraussetzungen systemischen Denkens

Systemisches Denken betrachtet den Beobachter als Ursprung jeden Erkennens und so auch jeder Realität. Demzufolge muss eine theoretische Auseinandersetzung mit diesem Denken mit einer Beschreibung des Beobachtens beginnen. Das setzt wiederum eine Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen lebendiger Existenz voraus. Da aber Beobachter soziale Lebewesen sind, müssen ebenfalls die Bedingungen seiner sozialen Existenz einbezogen werden. Dazu gehören vor allem Sprachlichkeit und Kommunikation. Die im Folgenden zu erörternden Denkvoraussetzungen systemischen Denkens betreffen im Wesentlichen die zwei im vorigen Abschnitt angesprochenen Säulen, auf denen dieses Denken steht. Es handelt sich nämlich um die biologischen Voraussetzungen von Kognition und Sprache und um die kommunikativen Voraussetzungen des sozialen Lebens. Eine Zusammenfassung der Kernvoraussetzungen systemischen Denkens gibt Abbildung 3 wieder. Daran orientiert sich der Text der Abschnitte 2.1 und 2.2.
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Abb. 3: Kernvoraussetzungen systemischen Denkens

2.1 Biologische Voraussetzungen

Beobachten setzt Beobachter voraus, und Beobachter setzen Beobachten voraus. Diese geradezu typisch rekursive Setzung liegt bei dieser Denkart an oberster Stelle der Ableitungsreihe. Beobachten heißt Unterscheiden. Nichtunterschiedenes kann es nicht geben. Beobachten lässt zwischen Beobachter und Beobachtetem unterscheiden; dadurch entsteht erst der Beobachter als zugleich Quelle und Ergebnis des Beobachtens, als eine Einheit der Beobachtung. D...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Teil I: Systemisches Denken
  7. Teil II: Klinische Theorie
  8. Literatur
  9. Über den Autor