Die Krise in Weißrussland und der Fall Nawalny
„Das Ende der Ostpolitik“? 1)
In der deutschen Politik zirkuliert die Auffassung, dass eine Revision der bisherigen Russlandpolitik ansteht. Die Rede ist von einem „Wendepunkt“, einem „Strategiewechsel“, einer Verabschiedung von „verklärter Romantik und der Hoffnung, Wandel durch Handel zu erzeugen“. Als Gründe dafür werden die Zusammenstöße in Weißrussland und die Vergiftung Alexei Nawalnys angeführt, berufen wird sich zudem auf eine lange Liste aus dem Vorrat älterer Vorwürfe. 2) Zur Klärung der Frage, warum und wie das alles in einem großen Zusammenhang miteinander und im Weiteren auch mit Amerika und einer Pipeline in der Ostsee steht, empfiehlt sich eine nähere Besichtigung der beiden aktuellen Fälle. Die sollen ja schließlich als Beweismittel für den deutschen Standpunkt taugen, dass es mit Putins Russland auf dem gemeinsamen Kontinent kaum mehr auszuhalten ist.
I. Die Krise in Weißrussland
Die Proteste gegen die regierungsamtliche Aufrundung der Lukaschenko-Stimmen auf satte 80 % in den Wahlen vom August halten an. Zwar werden die dortigen Wahlen immer schon vom Verdacht auf gewisse Korrekturen des Votums durch den Veranstalter begleitet, dabei ist aber nie in Zweifel gezogen worden, dass der Präsident im Prinzip eine große mehrheitliche Zustimmung in seinem Volk genießt, und dementsprechend marginal sind die Proteste im Land früher auch geblieben. Das hat sich geändert.
Die schlechten Kompromisse mit Kapitalismus und Demokratie fliegen Lukaschenko um die Ohren
Der in der EU als „letzter Diktator in Europa“ beschimpfte Lukaschenko hat sich diese Kennzeichnung dadurch verdient, dass er sich als einzige Figur im gesamten ehemals realsozialistisch regierten Staatengebiet angesichts des durch die Transformation gestifteten Zusammenbruchs aller materiellen Lebensverhältnisse in den 90er Jahren dazu entschlossen hat, sich gegen diese Entwicklung zu stellen. Mit dem Standpunkt, von den Einrichtungen des realen Sozialismus zu retten, was zu retten ist, konnte er sich politisch durchsetzen und regiert seitdem ununterbrochen.
Ein solcher Blick auf die früheren Verhältnisse als „Errungenschaften“ ist auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion alles andere als selten. Nostalgische Beschwerden, Klagen darüber, was es unter der Sowjetmacht alles gegeben hat und heute nicht mehr gibt – von der Kinderversorgung bis zur sicheren Rente wie allen früheren, zwar äußerst bescheidenen, aber grundsätzlich gesicherten materiellen Lebensbedingungen –, waren und sind von den ehemaligen realsozialistischen Staatsbürgern reichlich zu hören. Und billig, denn aus dem Gejammer folgt rein gar nichts, allenfalls einige Wählerstimmen zugunsten der Überbleibsel der früher dominierenden und inzwischen mehr oder weniger geläuterten KPs. Es findet so gut wie nie auch nur eine Befassung mit der Frage statt, warum die Leistungen des alten Systems bei der Volksversorgung vom heutigen einfach nicht zu haben sind, warum das heutige System, in dem sich mit Ausnahme weniger Reicher die Volksmassen an der Kunst des Überlebens abarbeiten dürfen, dennoch das einzig lebenswerte und vernünftige, menschengerechte und anständige sein soll. Die politischen Macher haben sich die Überzeugung zugelegt, dass das kapitalistische Geldverdienen und die demokratischen Techniken der Herrschaft die einzig senkrechten und erfolgversprechenden Mittel ihrer Nation sind; und die Masse der Regierten bewährt sich im Umgang mit den Tücken des modernen Wirtschaftslebens und in der Rolle der in vieler Hinsicht enttäuschten Mitmacher.
Lukaschenko beruft sich dagegen bis heute auf die von ihm in den 90er Jahren eingeleitete Restauration als Auftrag, den er damals von seinem Volk erhalten und erfüllt hat; das ist die Legitimation seiner Herrschaft, jenseits aller demokratischen Formalia, zu denen sich der Chef schon auch bekennt, die in seinem Staatswesen aber realiter nur teilweise erfüllt und im Bedarfsfall missachtet werden. Sein Lebenswerk versteht er als einen einzigen Dienst an seinem Volk, den er geleistet hat, der ihn einwandfrei zu seinen 26 Jahren „Autokratie“ berechtigt hat und eigentlich auch zu ihrer Fortführung. Während der massenhaften Proteste im August versammelt er seine Anhänger auf einem Platz in Minsk, um die – stellvertretend für das Volk – gewissermaßen an die alte Auftragslage zu erinnern:
„Liebe Freunde, damals – Mitte der 1990er Jahre – haben wir, hier auf Kundgebungen und hier im Parlament, zerstört, was Gott uns gegeben hatte: unser großes Imperium, ohne das kein Problem in der Welt gelöst werden konnte. Wir bekamen einen blutigen Stumpf dieses Imperiums. Was wollten diese Leute, was wolltet ihr damals? Ihr habt um ein Stück Brot gebeten. Ihr habt um 20 Dollar Monatslohn gebeten, Ihr habt darum gebeten, die Fabriken zu retten und sie weiterzubetreiben. Ihr habt um einen Traktor, einen Mähdrescher gebeten, um das Dorf zu retten. Damit im Dorf gearbeitet werden kann, auf dass hier in Minsk Milch, Fleisch und Brot in die Regale kamen.
Ihr habt dann darum gebeten, die Fabriken nicht zu privatisieren. Ihr habt darum gebeten, den Bauern das Land nicht wegzunehmen. Ihr habt gebeten, dass das Gesundheitssystem und die Ausbildung kostenlos bleiben. Ihr habt darum gebeten, die Ehre der Offiziere und Soldaten, die Angst hatten, auf die Straße zu gehen, wiederherzustellen. Kurz gesagt, ihr habt mich, einen sehr jungen, unerfahrenen Mann, gebeten, das Volk aus dem Abgrund zu führen. Wir haben das geschafft!“ (Rede am 16.8.20 in Minsk)
Was er geschafft hat, ist eine Rettung von Staat und Nation, bei der Teile des realsozialistischen Erbes weiterleben, einerseits in den Politikmethoden und der Rhetorik des Chefs und andererseits in einem Konglomerat aus Staatsindustrie und Privateigentum, das sich weniger aus einer irgendwie systemtheoretisch begründeten Entscheidung als aus dem staatlichen Bedarf zur Bewältigung des umfassenden Notstands ergeben hat, den die kapitalistische Umwälzung der 90er Jahre gestiftet hatte. 3) Was in gewissen Hinsichten ziemlich gut gelungen ist, wie sogar westliche Instanzen vermerken. 4)
Die gebremste Transformation
Der Vater dieses Wirtschaftswunders steht der Systemfrage äußerst undogmatisch gegenüber: Das von der ersten Wenderegierung beschlossene Programm der Privatisierung von Industrie und Landwirtschaft und andere vom ersten Präsidenten geplante Reformen sind zwar zurückgenommen worden, aus dem staatlichen Bedürfnis heraus, entscheidende Elemente der Kontrolle über die Ökonomie, das Kommando über den Kern der Industrie, die Großbetriebe, in der Hand zu behalten, um das soziale Leben wieder in einen geregelten Gang zurückzubefördern. Was aber an Privateigentum, Handelsgeschäften und auf eigene Faust betriebenen Gewerben mittlerweile eingerissen war, durfte weiterbestehen und hat sich über die Jahre immer weiter ausgedehnt. Auch gegen Niederlassungen auswärtiger Geschäftemacher und Kapitale gibt es in Weißrussland keine Vorbehalte.
Im Resultat verfügt das Land über eine gewissermaßen dreigeteilte Wirtschaft: auf der einen Seite die ererbten staatlichen Großbetriebe im Maschinen-, Fahrzeug-, Landmaschinenbau und in der Rohstoffverarbeitung wie Belaruskalij, einen der größten Kaliproduzenten der Welt, der ca. 15 % des Weltbedarfs an Kalidüngemitteln bedient, sowie Raffinerien und Betriebe der Petrochemie, die mit der Verarbeitung von russischem Öl den gewichtigsten Teil der Nationalökonomie und die entscheidende Devisenquelle darstellen. 5) An einigen Stellen hat sich westliches Kapital in Sonderwirtschaftszonen niedergelassen und benutzt die verhältnismäßig preiswerte weißrussische Arbeitskraft; als das Erfolgsmodell gilt dabei der „Hightech-Park“, in dem Unternehmen aus dem Bereich IT-Technik und -Dienstleistungen besonders günstige Konditionen offeriert werden. Drittens schließlich hat sich daneben eine umfangreiche Grauzone von sogenannten SMEs (‚small and medium enterprises‘), Zulieferbetrieben, Händlern und sogenannten Selbständigen etabliert.
Aus diesem Ensemble will die Regierung die sozialen Garantieleistungen herauswirtschaften, die Lukaschenkos Modell dem Volk verspricht – anstelle der erwünschten Harmonie zum Wohle des Volkes erwachsen daraus aber Interessengegensätze und Konflikte, die auf ihre Weise den Gegensatz der von Lukaschenko schöpferisch vereinten politökonomischen Rechnungsweisen demonstrieren und den wachsenden Dissens zwischen Volk und Führung bewirken, der in der jetzigen politischen Krise eklatiert.
Entzweiung von Volk und Führung durch eine „Nichtstuersteuer“
Die weißrussische Obrigkeit, die ihrer Ökonomie, die sie teils unmittelbar kommandiert, teils vor sich hin handeln und wirtschaften lässt, mit dem Standpunkt staatlicher Geldbeschaffung gegenübertritt, ist vor einigen Jahren gegenüber ihrem ausgedehnten „informellen Sektor“ auf den Verdacht verfallen, dass dort allerhand Geldflüsse außerhalb ihres Zugriffs abgewickelt, also dem Staat entzogen werden:
„Lukaschenkos Idee, die durch Schwarzarbeit erzielten Einkünfte im Rahmen einer ‚Nichtstuersteuer‘ zur Finanzierung der Sozialversicherung heranzuziehen, löste 2017 die ersten großen Sozialproteste in Belarus seit 1991 aus.“ (junge Welt, 7.1.19) 6)
Mit dem 2015 verfassten Erlass „zur Verhinderung sozialen Schmarotzertums“ stiftet der Präsident erheblichen Unmut im Volk, weil sowohl eine beachtliche Anzahl wirklich zahlungsunfähiger Figuren davon erwischt wird 7) als auch der Anteil der Zahlungsfähigen sich sein Recht auf Schattenwirtschaft nicht so einfach nehmen lassen will.
„Die Unzufriedenheit begann 2016 sich herauszubilden, als in unserem Land das ‚Dekret über die Nichtstuer‘ herauskam. Wenn du im Verlauf eines halben Jahres keine Arbeit finden kannst, dann musst du dem Staat dafür Geld bezahlen. Die Besonderheit war die, dass dieses Dekret am Höhepunkt der Wirtschaftskrise herauskam. In den Regionen begannen die Leute die Arbeit zu verlieren, aber der Staat wollte, dass wir ihm dafür noch etwas zahlen.“ 8)
Der Erlass ist zwar nach der Ausdehnung der Proteste zurückgenommen worden, eine gewisse Verbitterung im Volk ist allerdings verblieben.
Auf der entgegengesetzten Position in der sozialen Stufenleiter der weißrussischen Gesellschaft hat sich Lukaschenko ebenfalls Gegner herangezogen, und das aufgrund von deren Ausnahme- und Besserstellung.
Unternehmerischer Geist im weißrussischen Silicon Valley
Auf das Wachstumsmittel Auslandskapital hat auch Lukaschenko nicht verzichten wollen und diverse Sonderwirtschaftszonen mit besonderen Konditionen für auswärtige Investoren eingerichtet; das Angebot wird auch wahrgenommen, aber nur in bescheidenem Umfang. 9) Wenn schon, dann sind Niederlassungen im benachbarten Russland mit seinem unvergleichlich größeren Markt eine lohnendere Perspektive, und der weißrussische Markt lässt sich im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) ja auch problemlos von Russland aus benutzen.
Eine Wirtschaftszone gilt allerdings als Erfolgsmodell: der bereits erwähnte sogenannte Hightech-Park (PWT), gegründet durch einen ehemaligen weißrussischen Botschafter in den USA, Walerij Zepkalo, der inspiriert vom Silicon Valley die besonderen Potenzen auf dem Gebiet der Software-Produktion, über die die Nation aufgrund ihrer Herkunft aus der Ex-Supermacht Sowjetunion ebenso verfügt wie die Nachbarn Estland und Russland, für das nationale Wachstum weitergehend nutzbar machen wollte. Das Modell hat sich bewährt:
„Der PWT trug von 2006 bis 2016 dazu bei, dass die belarussischen Dienstleistungsexporte im IT-Bereich in dieser Zeit auf das Zwanzigfache angestiegen sind. Der Anteil von Computerdienstleistungen am belarussischen Gesamtexport von Dienstleistungen stieg auf das Siebenfache, nämlich auf 14 Prozent.“ 10)
Nicht zuletzt deshalb, weil die Regierung mit weitreichenden Konzessionen in Gestalt von „Steuervergünstigungen und Vergünstigungen bei den Beiträgen für den Fonds zur sozialen Sicherung der Bevölkerung (FSSN)“ 11) behilflich war sowie mit weiteren Bedingungen, „die den Residenten dort eine Betätigung wie unter exterritorialen Bedingungen ermöglichen“ (Boltochko, a.a.O.). Das sind weitgehende Ausnahmen von der weißrussischen Gesetzlichkeit bis hin zur Zulassung von Aktivitäten auf Grundlage ausländischen Rechts. 12)
Gerade wegen des Erfolgs, den die dortigen Unternehmen lieber auf ihren Konten als auf denen des Staats verbucht sehen wollen, wozu sie dank der Konstruktion auch alle Möglichkeiten haben, entwickeln sich Streitigkeiten zwischen der Staatsführung und ihrem Hightech-Düsenantrieb, vor allem deshalb, weil
„die Residenten des Hightech-Parks auch angesichts Vergünstigungen und Vorzugsbehandlung dem belarussischen System nicht vertrauen und ihre Geldmittel in Offshore-Gebieten horten – und eben nicht bei belarussischen Banken. Das sorgte für eine gewisse Verstimmung bei der Staatsführung, da die hundert Millionen Dollar potenziell das Bruttoinlandsprodukt des Landes hätten erhöhen können. Dieses Gefühl verstärkte sich angesichts der schlechten Lage der belarussischen Wirtschaft nach den Krisenjahren 2011 und 2014... Bereits 2015 hatte die Regierung damit gedroht, den Residenten einen Teil der Steuervergünstigungen zu streichen, und dabei darauf verwiesen, dass die Arbeitsbedingungen für alle Unternehmen des Landes angeglichen werden müssten.“ (Boltochko, a.a.O.)
In dem Streit gibt die Regierung letztlich nach:
„Vor drei Jahren seien die Gesetze für das steuerliche Sonderregime des Hightech-Parks sogar noch einmal verbessert worden. Man habe gute Gehälter zahlen können: Mit 2000 bis 3000 Euro netto im Monat verdient man in der IT-Branche ein Vielfaches des Durchschnittslohns in Belarus.“ (FAZ, 28.8.20)
Was die Protagonisten dieses Geschäfts aber offensichtlich nur zu weiteren Forderungen bezüglich der vom Staat zu genehmigenden Freiheiten anspornt:
„Lukaschenka, sagt Montik, habe wohl nicht verstanden, dass die IT-Branche ‚keine reine Cashcow‘ ist, sondern aus Leuten besteht, die international vernetzt sind, um die Welt reisen und deshalb anders denken‘.“ (Ebd.)
Nämlich vor allem an ihr Bankkonto. Inzwischen haben sich nicht nur die Geldflüsse, sondern auch deren Nutznießer, die weißrussischen IT-Genies und Firmengründer globalisiert und aus der Reichweite von Lukaschenkos Zugriff entfernt. 13) Sie tummeln sich auf dem Weltmar...