Zur Kritik der Geschichtswissenschaft *)
Die verkehrte Logik und der weltanschauliche Sinn des historischen Denkens
Was immer das Interesse eines Historikers erregt, als Erstes interessiert ihn das Datum des Geschehens. Drei, drei, drei, bei Issos Keilerei. Solche EselsbrĂŒcken zum Pauken von historischen Daten mögen mittlerweile etwas aus der Mode gekommen sein. Das, was man sich mit ihrer Hilfe hat merken sollen â die Jahreszahl â, gilt immer noch als grundlegend fĂŒr jede historische Betrachtung. Deswegen erfreuen sich auch Nachschlagewerke wie der âGroĂe Ploetzâ oder der âdtv-Atlas zur Weltgeschichteâ, in denen alle wichtigen Daten der Vergangenheit chronologisch geordnet verzeichnet sind, nach wie vor groĂer Beliebtheit â auch wenn die Datierung von Geschehnissen zur Erkenntnis derselben wenig beitrĂ€gt, könnte man meinen. Mit einer Jahreszahl versehen lĂ€sst sich das einzelne Ereignis lediglich chronologisch einordnen; mehr als Bestimmungen wie âvorherâ, ânachherâ oder âgleichzeitigâ gibt eine Chronologie der Ereignisse nicht her.
Gerade diese zeitlichen Bestimmungen aber betrachten Historiker als grundlegend fĂŒr die Erkenntnis in ihrem Fach. Ganz in diesem Sinne gibt ein Ahnvater der modernen Geschichtswissenschaft zu Protokoll, dass âuns [in den Erscheinungen] das Nacheinander, das Moment der Zeit als das maĂgebende [gilt]â. 1) Das historische Erkennen und ErklĂ€ren zeichnet sich demnach dadurch aus, dass es sich auf die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse stĂŒtzt â und zwar in der Weise, dass man in dem zeitlich Vorhergehenden die GrĂŒnde fĂŒr das Nachfolgende dingfest macht. Von Seiten moderner Vertreter dieser Wissenschaft heiĂt es dazu: âDie Geschichtswissenschaft grĂŒndet auf der Ăberzeugung, dass die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgeht.â 2) Das BemĂŒhen der Geschichtswissenschaft richte sich darauf, âdie gegenwĂ€rtige Welt als historisch gewordene zu erklĂ€renâ. 3) âGeschichte versteht sich als Studium der Gegenwart durch das Studium der Vergangenheit.â 4) Die Besonderheit der Geschichtswissenschaft liegt all diesen programmatischen Aussagen zufolge nicht einfach darin, dass sie Geschehnisse aus vergangenen Zeiten zum Gegenstand hat, sondern darin, dass sie ihre GegenstĂ€nde â vergangene wie gegenwĂ€rtige â historisch erklĂ€rt. Es ist der Modus ihrer ErklĂ€rungen, der sie auszeichnet: Sie erklĂ€rt ihre GegenstĂ€nde durch das Geschehen, das ihnen zeitlich vorausgegangen ist; rekurriert auf die Vergangenheit, um mit ihr die Gegenwart, d.h. das, was heute passiert, verstĂ€ndlich zu machen. Der schon zitierte Altmeister des Fachs erlĂ€utert dieses Programm noch einmal so:
âUnter den bedingenden Momenten fĂŒr das in der Gegenwart praktisch Vorhandene ist auch das Gewordensein dieses Einzelnen, ist dessen Vorgeschichte... Daher ist es unzweifelhaft sehr wichtig, die menschlichen GeschĂ€fte auch nach den Vorbedingungen ihres Wirkens, nach ihrem Gewordensein zu betrachten und in den GeschĂ€ften der Gegenwart nur die letzten Spitzen, das zutage Stehende der Vergangenheit, zu sehen.â 5)
Nachdem er zunĂ€chst nur darauf hinweist, dass fĂŒr die ErklĂ€rung des âin der Gegenwart praktisch Vorhandenenâ âauchâ dessen Vorgeschichte von Belang ist, pocht er im nĂ€chsten Satz bereits darauf, dass fĂŒr das VerstĂ€ndnis des heute Gegebenen dessen âGewordenseinâ âunzweifelhaft sehr wichtigâ ist, um schlieĂlich kategorisch darauf zu bestehen, dass die âGeschĂ€fte der Gegenwartâ ĂŒberhaupt ânurâ als Wurmfortsatz der Vergangenheit zu begreifen sind. Aus der BanalitĂ€t, dass alles Existierende âauchâ entstanden sein muss, zieht er den Schluss, dass alles, was uns heute begegnet, seine ErklĂ€rung in der Vergangenheit, in den âVorbedingungenâ, den Bedingungen seiner Entstehung findet. Ein moderner Kollege vertritt denselben Standpunkt, indem er die Vergangenheit kurzerhand zum âSchlĂŒssel zum VerstĂ€ndnis der Gegenwartâ 6) erklĂ€rt.
1. Das Prinzip Vorgeschichte: Ein Quidproquo zwischen Chronologie und KausalitÀt
Wenn sich der Historiker mit der Frage nach dem âGewordenseinâ seines Gegenstandes der Vorgeschichte zuwendet; wenn er sich mit der Frage, wie die betreffende Sache zustande gekommen ist, auf deren Voraussetzungen verwiesen sieht, so ist fĂŒr sich genommen weder diese Frage noch die Konsequenz ein Fehler. Die Frage nach der Entstehung einer Angelegenheit kann durchaus von wissenschaftlichem Interesse sein, und eine Befassung mit den UmstĂ€nden und Bedingungen ihres Zustandekommens ist dann nur konsequent. Die RĂŒckbesinnung auf die Bedingungen, die zur Entstehung dieser Sache gefĂŒhrt haben, klĂ€rt darĂŒber auf, warum es sie gibt; man weiĂ dann, welchen UmstĂ€nden sich ihre Existenz verdankt.
Ein Fehler ist es allerdings, sich von der KlĂ€rung dieser Frage Aufschluss ĂŒber die IdentitĂ€t der betreffenden Sache zu versprechen. Wer sich vornimmt, eine Sache mit ihrer Vorgeschichte, GegenwĂ€rtiges mit der Vergangenheit zu erklĂ€ren, leistet sich einen Widerspruch. Er wendet sich von der Sache ab, die zur ErklĂ€rung ansteht, und besteht darauf, dass die ErklĂ€rung der Sache nicht in den Bestimmungen liegt, die an ihr zu finden sind, sondern jenseits der Sache in etwas anderem zu suchen ist â eben in Geschehnissen, die ihr vorhergehen. Der Grundfehler allen historischen Denkens und ErklĂ€rens besteht darin, dies beides â die Frage nach der Entstehung einer Sache und die Frage nach ihrer IdentitĂ€t â in eins zu setzen. Indem sie die ErklĂ€rung eines Gegenstandes in die ErklĂ€rung seiner Entstehung hineinverlegt, abstrahiert die Geschichtswissenschaft komplett von der Natur der Sache, zu deren VerstĂ€ndnis sie beitragen will.
Dies hat Konsequenzen. Die erste besteht darin, dass mit der Abstraktion von der IdentitĂ€t der Sache auch jeder bestimmte Zusammenhang zwischen der Sache und ihren Entstehungsbedingungen negiert ist. Dies ist fĂŒr einen Historiker allerdings kein Mangel, sondern damit öffnet sich fĂŒr ihn das weite und ausgreifende Feld der historischen ZusammenhĂ€nge, auf dem er sich von Berufs wegen wie ein Fisch im Wasser bewegt. Fragt einer dieser Gelehrten nach den Entstehungsbedingungen eines Gegenstandes, kann man sich fast schon sicher sein, dass er nicht bei den nĂ€heren UmstĂ€nden stehenbleibt, unter denen dieser Gegenstand zustande gekommen ist. Ein Vertreter dieser Zunft, der z.B. ĂŒber die Parteien und Standpunkte aufzuklĂ€ren verspricht, die in der Französischen Revolution gegeneinander angetreten sind, lĂ€sst als Erstes hören: âWenn wir genauer wissen wollen, was der Jakobinismus âeigentlichâ ist, können wir auf der Leiter der Kenntnisse oder Informationen weiter zurĂŒckgehen.â 7) Wir lernen daraus: Wenn ein Historiker etwas âgenauerâ wissen will, geht er immer âweiterâ von seinem Gegenstand weg. Macht sich ein Geschichtswissenschaftler ĂŒber Willy Brandts Ostpolitik her â die Beispiele sind zufĂ€llig gewĂ€hlt und interessieren hier nur hinsichtlich der in ihnen deutlich werdenden historischen Sicht- und Vorgehensweise â, so hĂ€lt er sich nicht lange mit der Frage auf, welche politischen Zwecke diese Politik verfolgt, welcher StaatsrĂ€son sie gedient und in welcher Lage die BRD auf sie gesetzt hat. Er macht die Vorgeschichte zum Thema und vermeldet ĂŒber die erst einmal, dass sie sehr weit zurĂŒckreicht: âWer sich mit den OstvertrĂ€gen 1970 nĂ€her befasst, steht sehr schnell vor der Notwendigkeit, die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen bis ins Mittelalter zurĂŒckzuverfolgen.â 8) In diesen fernen Zeiten landet auch, wer etwas ĂŒber die wahren GrĂŒnde fĂŒr die Machenschaften des europĂ€ischen Imperialismus erfahren will: âSicher ist es in der neuzeitlichen Entfaltung des europĂ€ischen Expansionismus zu vielen neuen Facetten gekommen, die entscheidenden Weichenstellungen dieser Sonderentwicklung finden sich jedoch schon im Mittelalter.â 9) Und im Mittelalter ist noch lange nicht Schluss. Eine althistorische Schrift klĂ€rt darĂŒber auf, dass der âAnfang Europasâ in den âgriechischen AnfĂ€ngenâ 10) zu suchen ist. Und eine âGeschichte des Westensâ landet mit dem Prinzip Vorgeschichte endgĂŒltig in der grauen Vorzeit: Die âUrsprĂŒnge des Okzidentsâ liegen im 14. Jahrhundert vor Christi Geburt bei Pharao Echnaton und seinen ersten Gehversuchen in Sachen Monotheismus: âOhne ihn ist der Westen nicht zu erklĂ€ren.â 11)
Wo mit dem Prinzip Vorgeschichte Ernst gemacht wird, gibt es offensichtlich kein Halten mehr. In ihren Schriften greifen Historiker auf alles Mögliche aus der langen Weltgeschichte zurĂŒck, das sich allein dadurch als Beitrag zur ErklĂ€rung der GrĂŒnde und Ursachen empfiehlt, die zum Zustandekommen einer bestimmten Angelegenheit gefĂŒhrt haben, dass es vor dieser auf der Welt war. Die angefĂŒhrten Beispiele zeigen, dass sich die historischen Gelehrten um den Zusammenhang zwischen einer Sache und ihren Entstehungsbedingungen keinen Deut scheren und einfach dem Prinzip Vorgeschichte folgend nach Belieben alles, was vor dieser Sache existent war â und zwar bloĂ, weil es vorher existent war â, als Bedingung oder Faktor ihrer Entstehung aufmarschieren lassen.
Das VerhĂ€ltnis, in dem das aus der Vorgeschichte herbeizitierte Geschehen zu dem Gegenstand steht, der in seiner Vorgeschichte seine ErklĂ€rung finden soll, besteht der Sache nach nur in dem Ă€uĂerlichen Zusammenhang, der im zeitlichen Neben- und Nacheinander der Ereignisse gegeben ist. Aus diesem Ă€uĂerlichen Zusammenhang machen Historiker etwas anderes, wenn sie eine Sache aus ihrer Vorgeschichte, die Gegenwart aus der Vergangenheit erklĂ€ren. Sie mĂŒnzen ihn um in einen Zusammenhang, der eine innere Notwendigkeit und Folgerichtigkeit hat. Das der Sache zeitlich Vorhergehende wird von ihnen, bloĂ weil es vor ihr stattgefunden hat, in den Rang einer Ursache erhoben, welche das SpĂ€tere hervorgebracht hat; das SpĂ€tere wird umgekehrt, bloĂ weil es spĂ€teren Datums ist, als Wirkung dieser Ursache, als deren Produkt gefasst. Deswegen â wegen dieses theoretischen Schwindels â kommt âdas Moment der Zeitâ in der Geschichtswissenschaft zu so groĂen Ehren. Wo mit ihm argumentiert wird, geht es stets darum, die Chronologie der Ereignisse fĂŒr eine KausalitĂ€t sprechen zu lassen, die sich in ihr offenbaren soll.
Eine Sozialgeschichte des sich etablierenden Kapitalismus, die sich u.a. um eine ErklĂ€rung der nationalistischen Exzesse bemĂŒht, die damals die Szene beherrscht haben, demonstriert beispielhaft, wie ein Historiker das zeitliche Neben- und Nacheinander von Begebenheiten in ein VerhĂ€ltnis der Notwendigkeit verwandelt:
âIm Kaiserreich war der sich in kĂŒrzester Zeit durchsetzende Ăbergang zur kapitalistischen Marktwirtschaft und Marktgesellschaft mit harten individuellen und kollektiven UmstellungszwĂ€ngen verbunden. Sie fĂŒhrten zu traumatischen SchĂ€den, die einen zugespitzt radikalisierten Nationalismus hervorbrachten...â 12)
In nur wenigen Zeilen fĂŒhrt er ökonomische, soziale, psychologische und politische PhĂ€nomene auf. Warum und auf welche Weise all diese verschiedenartigen und disparaten Erscheinungen in Verbindung stehen und inwiefern sie in dieser Verbindung fĂŒr die genannten schrecklichen Folgen verantwortlich zu machen sind, wird sachlich nirgendwo begrĂŒndet. Der Zusammenhang der UrsĂ€chlichkeit, der mit allen möglichen rhetorischen Formeln zum Ausdruck gebracht wird â der Ăbergang war mit ZwĂ€ngen âverbundenâ, diese âfĂŒhrten zuâ SchĂ€den, welche den Nationalismus âhervorbrachtenâ â wird allein durch den zeitlichen Zusammenhang nahegelegt, in dem all diese Erscheinungen stehen.
Dank dieses ErklĂ€rungsschemas legt allein schon die Nummerierung von Weltkriegen historische ZusammenhĂ€nge zwischen dem ersten und dem zweiten offen. Das ist jedenfalls die ganze Logik, wenn der Historiker den Ersten Weltkrieg âals Vorgeschichte und determinierende Kraft des Zweiten Weltkriegsâ 13) bestimmt. So beginnt eine Studie ĂŒber die Zeit des Nationalsozialismus âmit dem Ersten Weltkrieg, dem Zeugungsakt fĂŒr die meisten weiteren Katastrophen und GrĂ€uel des zwanzigsten Jahrhunderts. Es war dieser Krieg und seine vertrackten Nachwirkungen...â 14) Dieser Wissenschaftler braucht gar nicht zu erlĂ€utern, inwiefern der Erste Weltkrieg der Grund fĂŒr den zweiten gewesen sein soll. Er war schlieĂlich der erste und das weist ihn zureichend als âZeugungsaktâ fĂŒr den Zweiten Weltkrieg aus. Und mit seinen ihm zugeschriebenen âvertrackten Nachwirkungenâ fungiert dieser Krieg dann â wiederum allein aufgrund der zeitlichen Reihenfolge â auch gleich noch als Urspr...