Rumänien – das unwürdige EU-Mitglied
Ein Produkt der europäischen Inbesitznahme, von dem man im Prinzip nicht mehr zu wissen braucht, als dass dort die „Korruption“ herrscht
Rumänien hat turnusmäßig den Vorsitz in der EU übernommen, eine Ehre, die nach europaweitem Urteil dem Staat mit dem Merkmal einer „politischen Dauerkrise“ nicht zusteht. Mit Hilfe alberner Übertreibungen, was der Vorsitz alles leisten soll – wie soll dieses Rumänien den Brexit bewältigen können?! –, wird die Katastrophe beschworen, dass das Schicksal der EU nun in den Händen einer unmöglichen Regierungsmannschaft liegt. Kommissionschef Juncker begrüßt die künftigen Vorsteher Europas mit einer ungewöhnlich undiplomatischen Misstrauenserklärung. Er glaube,
„dass die Regierung in Bukarest noch nicht in vollem Umfang begriffen habe, ‚was es bedeutet, den Vorsitz über die EU-Länder zu führen‘. Für ein umsichtiges Handeln brauche es auch ‚die Bereitschaft, anderen zuzuhören und den festen Willen, eigene Anliegen hintenanzustellen‘. Da habe er mit Blick auf Rumänien ‚einige Zweifel‘. Zudem sei der interne Zustand Rumäniens derzeit so, dass das Land nicht als ‚kompakte Einheit‘ in Europa auftreten könne.“ (ntv, 29.12.18)
Statt die eigenen Anliegen hinter die offensichtlich sehr viel wichtigeren Anliegen Europas und seiner Führer zurückzustellen und endlich denen zuzuhören, die ihr seit Jahren ohne großen Erfolg gute Ratschläge in Sachen ‚good governance‘ und Rechtsstaatlichkeit geben, meint die rumänische Regierung, bloß weil sie zufällig beim EU-Vorsitz an die Reihe gekommen ist, Europa vorstehen zu können – und das, obwohl sie noch nicht einmal ihr eigenes Land uneingeschränkt hinter sich hat, sich also auch in dieser Hinsicht als ernstzunehmende Regierung disqualifiziert. In den Augen des EU-Chefdiplomaten hat sie offenbar jeden Anspruch auf Respekt verspielt – und die aufgeklärte Öffentlichkeit weiß schon, was mit Junckers „Zweifel“ gemeint ist: Die regierende Partei ist ein Hort von „Korruption“, ihr geht es nur um die Revision der einschlägigen Antikorruptionsgesetze und die Amnestierung ihres verurteilten Vorsitzenden. Womit hat sich die Regierung dieses Urteil verdient?
Rumänien bildet gemeinsam mit Bulgarien eine besondere Kategorie von EU-Mitgliedern: erst in der zweiten Runde der Osterweiterung zugelassen, aber gleichzeitig als wenig tauglich eingestuft und mit lauter Vorbehalten versehen. Dass die beiden Staaten trotz expliziter Zweifel an ihrer EU-Reife überhaupt zu Mitgliedern befördert worden sind, haben sie allerdings weniger der Blauäugigkeit des Bündnisses zu verdanken, wie die nachträgliche Selbstkritik der EU lautet. Federführend war vielmehr das Erweiterungsbedürfnis der europäischen Führer, die damit sich die Zuständigkeit für den Ostbalkan gesichert haben 1) – nützlich z.B. für die Einkreisung und Isolierung Serbiens. Des Weiteren zahlt sich die Eingemeindung der Länder darin aus, dass die EU nunmehr auch als Schwarzmeer-Anrainer auftreten kann, an die Südwestgrenzen Russlands vorgerückt und somit dazu befugt ist, sich um entsprechende „Sicherheitsfragen“ im Schwarzen Meer zu kümmern.
Gegenüber den dort beheimateten Staaten haben die europäischen Führer auch nach deren Aufnahme in die EU den Standpunkt beibehalten, dass sie wegen „struktureller Defizite“ besondere Kontrollmaßnahmen der EU benötigen,2) und aus demselben Grund wird ihnen die Aufnahme ins Schengen-Abkommen von Mal zu Mal verweigert. Von der kontinuierlichen Auseinandersetzung um die richtige Art, Staat zu machen, ist die ganze Karriere der beiden Staaten in der EU bestimmt, wobei Brüssel den Erfolg verzeichnen kann, dass in Bulgarien vorwiegend willfährige Führungsfiguren die Macht ausüben, was den Staat in materieller Hinsicht auch nicht erfolgreicher gemacht hat. Im Unterschied dazu bestimmt in Rumänien im Wesentlichen eine widerspenstige Partei die Politik, die sozialdemokratische PSD.
Um dieses unhandliche Mitglied auf den richtigen Weg zu bringen, haben die EU-Behörden ihre Methoden. Anhand der jährlichen Länderberichte, die in „länderspezifische Empfehlungen“ einmünden, wird überprüft, ob und wie weit das Land denen nachkommt, was regelmäßig das zwiespältige Urteil eines nur „beschränkten Fortschritts“ erbringt.3) Zwecks Herstellung von „Fortschritt“ wenden die Brüsseler Aufseher eine leicht erpresserische Konditionalitätspolitik an, die Zuteilungen aus den EU-Fonds an die Erfüllung von Bedingungen knüpft und öfter auch zurückhält. Die Zustände im Land werden dabei an einem Kriterienkatalog, den Maßstäben der EU-Verwaltung für ein gut funktionierendes Staatswesen gemessen und danach beurteilt, was alles „noch nicht“ in Ordnung ist; als Grund der leidigen „Rückstände“ werden regelmäßig Versäumnisse der zuständigen Regierung ausgemacht. Die analytische Rücksichtslosigkeit dieser Berichte entspricht dem praktischen Umgang der europäischen Behörden mit dem Land: Man erfährt aus ihnen durchaus, wie weit es der Staat Rumänien unter dieser von Europa ausgehenden wohlmeinenden Erziehungsdiktatur gebracht hat, bekommt Einblick in die politische Ökonomie dieses Landes – aber immer in der Weise, dass Mängellisten aufgestellt werden, mit denen die rumänische Regierung auf ihre Pflicht festgelegt wird, das Land zu einem brauchbaren Mitglied hinzuregieren.
I. Ein Kapitalismus, der Volk und Staat nicht ernährt
„Armut“ wird als eine hervorstechende Eigenschaft des Landes gewürdigt: „Das Armutsniveau bleibt unter den höchsten in der EU.“ 4) Die Armut „bleibt“ also, anstatt zu verschwinden; wo sie herkommt und warum sie „bleibt“, ist uninteressant. Des Weiteren wird vermerkt, dass es vor allem auf dem Land viel Armut gibt – „Die Kluft zwischen arm und reich und zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten bleibt groß“ –, wo sie auch oft mit „Inaktivität“ einhergeht: „Hohe Armutsrisiken treten häufig in Verbindung mit einem hohen Grad von Inaktivität auf.“ (CR 18, S. 8) Andererseits kommt Armut aber auch verbunden mit Aktivität vor, nämlich als Arbeit mit einem Einkommen von „beinahe Null“:
„Der Anteil von Armut in Arbeit ist einer der höchsten in der EU, mit 18,9 % ist er doppelt so hoch wie der EU-Durchschnitt, darin schlägt sich der große Prozentsatz der Individuen nieder, die ein nahezu Null-Einkommen haben, obwohl sie die ganze Zeit arbeiten.“ (CR 18, S. 26)
So wird registriert, dass in dem Land große Teile eines Volks nachhaltig getrennt sind von jeder Möglichkeit, sich mit Arbeit eine brauchbare Reproduktion zu sichern. Dabei wird gar nicht verheimlicht, dass dieser Zustand das Werk der Transformation ist, die man im Sinne des Fortschritts für unbedingt richtig hält, auch wenn sie für das Land und seine Bewohner erst einmal einen ökonomischen Kahlschlag bedeutet hat. In einer älteren Studie heißt es dazu:
„Die Größe der nationalen Ökonomie mit ihrer Mehrheit von schlecht mechanisierter Landwirtschaft auf der einen Seite und heruntergewirtschafteten überflüssigen Industriekomplexen auf der anderen hat die Transformation besonders schwierig gemacht.“ (bti2003.bertelsmann-transformation-index.de)
Bei der nationalen Ökonomie, über die Rumänien immerhin mal verfügt hat, handelt es sich aus Sicht der europäischen Transformationsexperten also um Ballast, den es zu beseitigen galt und von dem immer noch viel zu viel vorhanden ist. In der Größe dieser Ökonomie sehen sie deswegen eine besondere Schwierigkeit – für die Transformation dieses Landes. Der Befund spart sich den Hinweis auf den Maßstab, an dem gemessen die überkommene rumänische Industrie „überflüssig“ ist: Dass da eine ganze Ökonomie einer Konkurrenz ausgesetzt worden ist, der sie nicht gewachsen war, weil sie dafür auch nicht eingerichtet war, und dass sie an dieser Konkurrenz zugrunde gehen muss, ist den Forschern ebenso selbstverständlich wie die Überlegenheit des Siegers in dieser Konkurrenz, des auswärtigen Kapitals, das sich den Standort Rumänien angeeignet und dabei sehr viel überflüssig gemacht hat.
In den mittlerweile 29 Jahren dieser „besonders schwierigen“ Transformation ist viel rumänisches Volk von seiner vorhergehenden Reproduktion freigesetzt worden und in den Zustand unproduktiver Armut geraten, der in den EU-Länderberichten in der Perspektive des „immer noch“ besichtigt wird, als wäre er eigentlich dazu da, im Rahmen der EU zu verschwinden – die Schwundstufe des für die Angliederung der Oststaaten verwendeten Versprechens, dass im Bündnis unweigerlich alle auf das europäische Wohlstandsniveau befördert werden würden.
Doch die Armut „bleibt“, wie die Berichte immer wieder konstatieren müssen – natürlich nicht wegen der im Rahmen der EU in Kraft gesetzten Kriterien für Beschäftigung und für den Einsatz der Produktivkräfte überhaupt, sondern wegen einer Regierung, die sich nicht entschieden genug für die Transformation ihres Landes einsetzt.
Die Umwälzung der produktiven Basis
Die entscheidenden Subjekte der Kapitalisierung des Landes sind einerseits die Vertreter hauptsächlich des EU-Kapitals – das hat in den überkommenen Produktionssphären gründlich aufgeräumt anhand des Kriteriums, was es da für lohnend erachtet, und gewissermaßen die Herrschaft über den Standort übernommen.5) Andererseits ist es die EU, die den rumänischen Staat auf die Prinzipien des Binnenmarkts verpflichtet hat, d.h. darauf, sein Inventar der übermächtigen Konkurrenz der kapitalkräftigen Unternehmen aus dem Ausland auszusetzen und sich marktwidriger Rücksichtnahmen auf einen nationalen Besitzstand und nationale Reproduktionsnotwendigkeiten zu enthalten. Dass die rumänischen Regierungen den europäischen Direktiven nicht vorbehaltlos und ohne Rücksicht auf das Inventar ihrer Nation nachkommen, hat dem Staat die Etikettierung als „schwieriger Fall“ eingebracht:
„Der Rückstand im Transformationsprozess und die Defizite in seinem Management im Vergleich mit anderen ost- und zentraleuropäischen Staaten ist im Großen und Ganzen durch den Mangel an Konsens bezüglich Transformationsstrategien und eine politische Neigung bedingt, eine Transformation ohne soziale Kosten und Schwierigkeiten vorzuschlagen... Der eigentliche Grund für die ambivalenten wirtschaftlichen Aussichten ist das politische Zögern, mit den sozialen und politischen Kosten einer bestimmteren Restrukturierung und Privatisierung umzugehen.“ (bti2003.bertelsmann-transformation-index.de)
Insofern ist auch die rumänische Staatsgewalt an der Umgestaltung ihres Landes zu einer Abteilung des europäischen Kapitalstandorts beteiligt. Teils widerstrebend – siehe die zitierten Vorwürfe –, aber letztlich unter dem stummen Zwang des neuen Geldregimes folgt sie der Einsicht in die Notwendigkeit, ihre ökonomische Basis zu Geldquellen hinzureformieren. Die ererbten Unternehmen sind dabei entweder an ihrem systembedingten Mangel an Kapital zugrunde gegangen, aufgekauft und gesundgeschrumpft worden 6) oder werden unter Staatsregie irgendwie aufrechterhalten und tragen mit ihren Defiziten zur Staatsverschuldung bei. Jedenfalls hat sich das Land dabei ziemlich gründlich „transformiert“.
Wie ein agrarisch außerordentlich produktives Land zum Nettoimporteur von Lebensmitteln und die Landwirtschaft zum Auffangbecken für überflüssiges Volk gemacht worden ist
Da kommt einiges zusammen. Erstens haben die staatstragenden Kräfte der kommunistischen, später in die sozialdemokratische PSD verwandelten Partei, nachdem sie den nicht mehr zeitgemäßen Conducător samt seinem System beseitigt hatten, schnellstmöglich ihren Respekt vor dem Prinzip des Eigentums bekundet, die damit nicht mehr vereinbaren landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften aufgelöst und deren Ländereien „restituiert“, d.h. unter deren Mitgliedern und früheren Eigentümern aufgeteilt. Mit durchschlagendem Erfolg:
„Das große Potential der rumänischen Landwirtschaft wird schwach genutzt... Rumänien hat im EU-Vergleich den größten Anteil an in der Landwirtschaft tätiger Bevölkerung (30 %), rangiert bei der durchschnittlichen Hofgröße (3 ha) allerdings am Ende der EU-Skala.“ (Germany Trade&Invest, 18.6.13, Jahreswirtschaftsbericht Rumänien 2013) 7)
Die Privatisierung auf dem Land hat Kleineigentum geschaffen, das gerade einmal fürs notdürftige Überleben der Eigentümer taugt – und das ist aus der Sicht der EU-Transformateure von Übel, nicht weil die in diesen Zustand versetzte Landbevölkerung ziemlich am Arsch gepackt ist, sondern weil sie in diesem Zustand kapitalistisch unproduktiv ist:
„Insbesondere ländliche Armut, verbunden mit der Deckung des Eigenbedarfs durch die Landwirtschaft [ein schöner Ausdruck für Subsistenzwirtschaft], ist ein negativer Faktor im sozioökonomischen Zusammenhang. Das Ungleichgewicht in der branchenspezifischen Verteilung von Bruttoinlandsprodukt und Arbeitskraft spricht Bände: Die Landwirtschaft macht fast 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus und beschäftigt 40 Prozent der Arbeitskräfte.“ (bti2003.bertelsmann-transformation-index.de)
Das sogenannte „Ungleichgewicht“ beruht auch darauf, dass die massenhaft von der realsozialistischen Industrie Freigesetzten aufs Land zurückgekehrt sind und sich dort ebenfalls mit Subsistenzwirtschaft über Wasser halten, was auch das Rätsel von oben erklärt, wie es zu einem „Einkommen von beinahe Null trotz Vollzeitarbeit“ kommt, nämlich „besonders in der Subsistenz- oder Halb-Subsistenz-Landwirtschaft“ (CR 18, S. 26).
Zweitens hat das Prinzip der EU-Agrar-Subventionen, dass sich die Förderung auch lohnen muss, diesen Zustand befestigt: Alles an landwirtschaftlichem Getriebe, was unter ein bestimmtes Maß an Ertrag oder Fläche fällt, ist schon einmal von EU-Beihilfen ausgeschlossen. Dazu kommen die EU-Anforderungen an Produktionsbedingungen, angefangen von Hygienebestimmungen bis zur Reglementierung des Saatguts, die nur mit einem entsprechenden Kapitalaufwand zu erfüllen sind.
Drittens leistet auch das europäische Handelskapital seinen Beitrag zur Zementierung der Armut auf dem Land: Mit ihren Kapitalmassen besetzen die Handelskonzerne die Märkte und ziehen die nationale Zahlungsfähigkeit auf sich, drücken die Preise der lokalen Kleinproduzenten oder werfen sie mit ihren großformatigen Lieferbeziehungen ganz aus der Konkurrenz.8...