Gesundheit – ein Gut und sein Preis
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Gesundheit – ein Gut und sein Preis

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Gesundheit – ein Gut und sein Preis

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Über dieses Buch

Gesundheit – ein Gut und sein PreisDie vorliegende Schrift– erklärt, warum man so viel für seine Gesundheit tun muss, nämlich wodurch sie dauernd gefährdet und geschädigt wird.– bestimmt den Fehler, den sich die medizinische Wissenschaft in der theoretischen Behandlung der gar nicht unbekannten gesellschaftlichen Krankheitsursachen leistet; sie benennt die affirmative Stellung zum System der Konkurrenz, die diesem Fehler zugrunde liegt, und zeigt die Konsequenz, mit der dieser Fehler in eine moralische Begutachtung der populärsten Krankheiten und ihrer Ursachen einmündet. Sie befasst sich außerdem speziell mit der Logik der wissenschaftlichen Pathologie des Seelenlebens sowie mit dem paradoxen Erklärungsmuster der Alternativ- oder "Komplementärmedizin".– befasst sich mit der medizinischen Praxis und dem vertrackten Verhältnis zwischen privatem Bedürfnis nach medizinischer Hilfe und allgemeinem Interesse an funktionstüchtigen Bürgern, also mit dem herrschenden Zweck, dem das von Staats wegen institutionalisierte Gesundheitswesen dient.– würdigt das Geschäft mit der Gesundheit und das ebenso absurde wie erfolgreiche Bemühen des modernen Gemeinwesens, die Gesundheitsversorgung eines ganzen Volkes als Geschäftsfeld zu organisieren, dessen Finanzierung die Versorgten überfordert, also Nachhilfe durch staatliche Gewalt benötigt.

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Information

II. Die großartigen Leistungen
des Medizinbetriebs

Grundlage des modernen Gesundheitswesens einschließlich der medizinischen Wissenschaft, in Theorie wie Praxis, ist eine sozialpolitisch institutionalisierte, gesellschaftlich durchgesetzte und akzeptierte, moralisch gefestigte – nichtsdestotrotz verkehrte Abgrenzung. Da gibt es die gesellschaftliche Welt mit ihren Angeboten und Ansprüchen an Physis und Psyche der Menschen, in der, wie auch immer, Schädigungen und Krankheitskarrieren entstehen, irgendwie auch ihren Grund haben. Diese Welt, „die Realität“, ist einfach da und als gegebene Voraussetzung hinzunehmen. Die Regeln, nach denen sie funktioniert, fallen grundsätzlich nicht in den Kompetenzbereich des Medizinbetriebs, der Wissenschaft so wenig wie der ärztlichen Kunst. Sorgeobjekt ist hier die gestörte oder geschädigte Funktionstüchtigkeit der Insassen dieser Welt; Ziel ist ihre Wiederherstellung, soweit möglich, auch die Vorsorge gegen zu erwartende Schädigungen und die Nachsorge nach eingetretenen irreversiblen Störungen und Zerstörungen von Körper und Geist. Worum es geht, ist jedenfalls der vom gesellschaftlichen Lebensprozess und dessen Anforderungen abgehobene, daraus abstrahierte Bereich der physischen und psychischen Defekte.
In theoretischer wie praktischer Hinsicht hat diese Abstraktion, mit der die Medizin sich als eigene Sphäre etabliert, jeweils eine gute und eine weniger gute Seite. Praktisch fungiert der Betrieb als Hilfsdienst am leidenden Individuum. An dem wird „behandelt“, im besten Fall repariert, was an ihm kaputtgegangen ist. Die Zerstörung, der Grund des Leidens, hat bis dahin ihr resp. sein Werk getan. Von der Wirkung geht die medizinische Praxis aus, ebenso wie ihre Patienten. Was die krank macht, das wissen oder ahnen zumindest beide Seiten. Doch das hilft den einen in ihrem Leiden nicht weiter, und für die andere Seite endet hier ihre Zuständigkeit. Die „Realität“, die etliche hochpotente Krankheitsursachen bereithält, wird dabei keineswegs einfach ausgeblendet, hinsichtlich ihrer an so vielen Einzelfällen greifbaren „pathogenen“ Wirkungen vielmehr durchaus in den Blick genommen. Aber das ist es dann auch: Die Notwendigkeit der Belastungen, die so gesundheitsschädliche Wirkungen haben können, ist nicht mehr Sache der Medizin. Diese dem medizinischen Hilfsstandpunkt eigene Abstraktionsleistung macht den ganzen Betrieb bedingungslos funktional für das politökonomische System, das sein Menschenmaterial notorisch überfordert und damit einem Verschleiß unterwirft, der ohne permanente Betreuung und ständige Reparaturmaßnahmen schlecht längerfristig auszuhalten und insofern fürs System selber kontraproduktiv wäre. Sein eigener Stellenwert in den herrschenden Verhältnissen geht das Gesundheitswesen nichts an. Das trägt zu seinem Dienst an diesen Verhältnissen wie zur selbstbewussten Dienstbarkeit seiner Akteure nicht wenig bei.

1. Theoretische Glanzleistungen

Der Erkenntnisweg der modernen wissenschaftlichen Humanmedizin

Die medizinische Wissenschaft ist und versteht sich heutzutage als Naturwissenschaft. Als solche beschäftigt sie sich mit dem Organismus des Menschen, mit seiner Physiologie, im Allgemeinen und mit seinen organischen Leiden, der Pathologie, im Besonderen. Sie hat auf beiden Gebieten viel geleistet: Was die Physiologie anbelangt, hat sie sich von den menschlichen Organen, deren Anatomie und Funktionsweise zu den Zellen, dort zu den Organellen und Transportvorgängen, den Proteinen und deren Untereinheiten, weiter zur DNA und ihren funktionellen Einheiten bis zu deren genetischen und epigenetischen Regulationsmechanismen vorgearbeitet; neue Erkenntnisse kommen laufend hinzu. Das Wissen, das sie sich auf diesem Feld erarbeitet, hat für die Medizin den Charakter von Grundlagenwissen. Auf ihm baut die Pathologie, die Lehre von den krankhaften Veränderungen am Körper, mit ihren Unterabteilungen, auf: Die Ätiologie befasst sich mit den Krankheitsursachen, Pathogenese und Pathophysiologie behandeln die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten im Organismus. Denn die medizinische Wissenschaft will nicht nur den biologisch, biochemisch oder genetisch determinierten Ablauf natürlicher Prozesse im Organismus ermitteln, auf denen das Funktionieren des Stoffwechsels, des Bewegungsapparates, der Wahrnehmungs-, Atmungs- und sonstiger Organe beruht. Sie will ergründen, warum Menschen krank werden bzw. welche Faktoren den Krankheitsablauf bestimmen und wo demzufolge für ein heilendes, vorbeugendes oder linderndes Eingreifen Ansatzpunkte gefunden werden können.
Auch da hat sie viel erreicht. Was die Krankheitsursachen betrifft, weiß sie manche körperlichen Gebrechen und Funktionsstörungen auf genetische Defekte zurückzuführen, welche sie auch in der DNA identifizieren kann. Bei Infektionskrankheiten kennt sie das Virus oder das Bakterium, das da am Werk ist; sie hat das Erbgut der meisten „Keime“ entschlüsselt und weiß mittlerweile auch sehr viel darüber, wie ein Virus wo an welcher Zelle andockt und was es in der Zelle anrichtet. Und in der Erforschung der Krankheitsursachen macht die medizinische Wissenschaft nicht Halt bei den „äußeren Umständen und Bedingungen“, die einen natürlichen Ursprung haben. Sie fasst durchaus auch und gar nicht zuletzt jene „äußeren Umstände“ als Krankheitsursachen ins Auge, die gesellschaftlich bedingt sind – logischerweise, weil die Masse der Krankheiten, an denen der moderne Mensch leidet, ja hier ihren Ursprung hat. Auch auf dem Feld hat sie sehr viel Wissen akkumuliert: Sie weiß nicht nur – wie den oben unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse dieser Wissenschaft dokumentierten Krankheitsbildern zu entnehmen ist –, dass ein ursächlicher Zusammenhang besteht zwischen den verschiedenen Formen der Überforderung, die der Mensch aushalten muss, und der jeweiligen „Zivilisationskrankheit“, mit der dann die Patienten reihenweise in der Praxis erscheinen. Sie hat bis ins Detail auch den allgemeinen Mechanismus der jeweiligen Erkrankung entschlüsselt, weiß, wie die chronische Überforderung der Atemwege, des Muskelapparats oder permanente Anspannung den Menschen krank machen, was diese Überbeanspruchungen am Organismus anrichten, welche Veränderungen sie wodurch an Organen, Gefäßen oder Zellen bewirken und wie diese Veränderungen schließlich zur Folge haben, dass der Körper oder ein Organ seine Dienste versagt.
Und doch begeht die medizinische Wissenschaft hier eine unverzeihliche theoretische Fehlleistung, ihre erste und grundsätzliche. Immerhin redet sie selber in dem Zusammenhang von äußeren Umständen. Was sie da als Krankheitsursache ins Auge fasst, ist also jedenfalls nicht auf dem Feld der Physiologie angesiedelt, die sie als Naturwissenschaft zum Gegenstand hat. Es bewegt sich auch nicht auf dem Feld der Natur im weiteren Sinn, auf dem z.B. Viren und Bakterien beheimatet sind, gehört damit auch nicht zu den Angelegenheiten, bei denen es der Sache entspricht, wenn man sie naturwissenschaftlich erforscht. Das, was sie im Hinblick auf die „Zivilisationskrankheiten“ als Krankheitsursachen am Wickel hat, ist – das weiß schon auch sie irgendwie – gesellschaftlichen Ursprungs. Mit der Art der Betrachtung, die sie diesen Krankheitsursachen zuteil werden lässt, wird sie denen jedoch in keiner Weise gerecht. Sie würdigt die gesellschaftlichen Bedingungen, an denen die Leute so regelmäßig und massenhaft erkranken, gar nicht für sich, sondern betrachtet sie von vornherein und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkungen auf die menschliche Physiologie, d.h. vom Standpunkt der Physiologie aus, die für sie eben nicht nur Gegenstand im theoretischen Sinn ist, Objekt ihrer naturwissenschaftlichen Forschung, sondern zugleich Sorgeobjekt, für das sie sich praktisch zuständig weiß. Dieser Standpunkt der praktischen Sorge ums Funktionieren des Körpers – bzw. der Zuständigkeit dafür und auch nur dafür – bestimmt ihren Blick auf die „gesellschaftlich bedingten“ Krankheitsursachen. Sie hält von ihnen nur fest, was an ihnen im Hinblick auf ihre Wirkung auf die Physis relevant ist, worin sie physiologisch wirksam sind: Tatbestände wie Feinstaubgehalt – nach Korngröße sortiert und in ppm nachgezählt –, Zeitdruck – an möglichst objektiven Parametern nachgemessen –, einseitige Belastung – spezifiziert nach Gelenken und Muskelgruppen, die beansprucht werden –, Anspannung durch Zwang zu andauernder Aufmerksamkeit und dergleichen. Was dabei völlig aus dem Blick gerät, ist die gesellschaftliche Notwendigkeit dieser Krankheitsursachen. Die medizinische Wissenschaft erspart sich so jede Einsicht, wie die krankmachenden Umstände in den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen begründet sind. Sie begreift sie nicht als diesen Verhältnissen notwendig zugehörige Krankheitsursachen.
Ihr von der Sorge ums Funktionieren der Physiologie und vom Willen zum heilenden Eingreifen bestimmter Forscherdrang setzt sich in eine ganz andere Richtung fort: Es wird nach immer genaueren Erklärungen der Pathomechanismen moderner Zivilisationskrankheiten gesucht. Es wird der physiologische Prozess untersucht, der zur Erkrankung führt, und es werden in der Physiologie die Bestimmungsgründe ermittelt, die den Verlauf der Krankheit bestimmen. Da hat die medizinische Wissenschaft sehr viel herausgefunden und hat immer noch viel zu tun; auch in Bezug auf die Krankheiten, bei denen sie den allgemeinen Zusammenhang zwischen den ungesunden Anforderungen des modernen Lebens und den Gebrechen, die sich die Menschen deswegen an Land ziehen, kennt und bei denen auch der Prozess, der von der Belastung zur Schädigung führt, grundsätzlich kein Rätsel mehr für sie ist. Diesem Prozess gilt ihr Interesse: Wenn sie ermittelt hat, dass Magengeschwüre auf chronische Entzündungen der Magenschleimhaut zurückzuführen sind oder dass Herzinfarkte ihre Ursache in einer Verkalkung der Herzkranzgefäße haben, dann will sie wissen: Wie genau läuft das im Organismus ab? Mit dieser Problemstellung eröffnet die medizinische Wissenschaft sich ein Forschungsfeld, auf dem individuelle Unterschiede eine wichtige Rolle spielen – schließlich erkrankt nicht jeder und nicht jeder in derselben Weise, der einer bestimmten als Krankheitsursache erkannten äußeren Bedingung ausgesetzt ist. Also stellt sich die Frage, warum ein bestimmter äußerer Einfluss – ein Infektionserreger, eine berufsbedingte Dauerbelastung oder ein Umweltgift – bei dem einen Individuum gesundheitsschädliche oder gar lebensbedrohliche Wirkungen zeitigt, während ein anderes ihn unbeschadet übersteht. Die näheren Gründe dafür liegen in der Physiologie des Einzelnen, in der unterschiedlichen körperlichen Ausstattung, Verfassung und Befindlichkeit der betreffenden Menschen. Ganz in diesem Sinne versucht die medizinische Wissenschaft, pathogenetisch und pathophysiologisch sämtlicher Faktoren habhaft zu werden, die an der Entstehung einer Krankheit ursächlich mitwirken und die ihren Verlauf bestimmen. Sie entschlüsselt immer mehr Details und Zusammenhänge und verbessert so laufend ihr Verständnis für die physiologischen Abläufe im Organismus.
Neben dem Zuwachs an Wissen und den immer genaueren Kenntnissen über die pathophysiologischen Prozesse stellt sich bei dieser Sorte Forschung allerdings noch ein ganz anderes bemerkenswertes Resultat ein: Die Medizin entfernt sich im Zuge ihrer Forschungen immer weiter von der Notwendigkeit der Krankheiten, die sie erforscht. Die Krankheitsursachen geraten ihr im Zuge dieser Forschungen immer mehr zu bloßen Auslösern, zur nur äußerlichen Veranlassung eines Geschehens, das im Wesentlichen im Organismus vonstattengeht und seinen eigenen, ihm immanenten Notwendigkeiten gehorcht, die es zu erforschen gilt. Und weil man für den Ablauf dieses Geschehens alle möglichen Faktoren verantwortlich weiß, nicht zuletzt auch solche, die in den physiologischen Besonderheiten des einzelnen Individuums begründet sind, werden die Auslöser im weiteren Fortgang der Forschungen dann auch noch zu Faktoren neben anderen herabgesetzt, die möglicherweise oder vielleicht auch wahrscheinlich am Zustandekommen der Krankheit und ihrem speziellen Verlauf beteiligt sind oder sein können. Dass die Wissenschaft so immer weiter abkommt von der Notwendigkeit der untersuchten Krankheiten, ist natürlich nicht das Ergebnis oder gar die logische Folge der immer genaueren Einblicknahme in die physiologischen Prozesse. Die Degradierung der Krankheitsursachen zu Auslösern ist eine weitere theoretische Fehlleistung und alles andere als folgerichtig. Es ist wissenschaftlich betrachtet ein Unding und sachlich genommen völlig daneben, Krankheit als ein Geschehen zu behandeln, das allenfalls nur ganz äußerlich etwas mit seiner Ursache zu tun hat, im Wesentlichen aber getrennt von ihr zu betrachten ist. Und der Verweis darauf, dass neben dieser Ursache noch andere Faktoren eine Rolle spielen und auch nicht jeder an dieser Ursache erkrankt, ist auch kein guter Grund, der Ursache ihre Ursächlichkeit abzusprechen und sie im Reich der Möglichkeiten zu verorten. Die Existenz von noch anderen Faktoren relativiert den allgemeinen Zusammenhang nämlich gar nicht, den die Wissenschaft erkannt hat und von dem sie weiß, wie er funktioniert. Dieses Wissen ist vielmehr der Ausgangspunkt und bleibt die positive Grundlage für ihre Suche nach weiteren Faktoren, die gerade in diesem Zusammenhang zum Tragen kommen.
Auch diese Fehlleistungen verdanken sich dem praktischen Interesse an Forschungsergebnissen, die möglichst unmittelbar nutzbringend in Hebel der praktischen Einflussnahme umgesetzt werden können. Für die Medizin stellt sich die Sache so dar, dass sie mit der Ermittlung von allen möglichen Faktoren, die am Krankheitsgeschehen beteiligt sind und seinen Ablauf bestimmen, überhaupt erst dem eigentlich interessanten Feld näher kommt, nämlich den Stellen möglichen Eingreifens in den physiologischen Prozess, während sie mit dem ihren so gearteten Ermittlungen zugrundeliegenden Wissen um den ursächlichen Zusammenhang zwischen den diversen Formen der Überbeanspruchung, die in der kapitalistischen Gesellschaft endemisch sind, und dem massenhaften Erkranken daran praktisch nicht allzu viel anfangen kann. Schließlich erstreckt sich ihre Zuständigkeit nicht aufs Ändern der in vielen Hinsichten ungesunden Zivilisation. Ihre praktische Kompetenz richtet sich auf den Organismus, auf das in ihm ablaufende Geschehen; ihr Ziel ist es, durch Einflussnahme auf dieses Geschehen das Eintreten einer gesundheitsschädlichen Wirkung nach Möglichkeit zu verhindern, sie nach ihrem Eintreten zu bekämpfen oder wenigstens zu lindern – alles auf der Grundlage, dass die Ursache dieser Wirkung in Kraft ist, und in der Gewissheit, dass sie in Kraft bleibt. Ihr praktisches Interesse zielt also darauf ab, das Bestehen der Ursache, so gut es geht, von der mit ihr verbundenen Wirkung zu trennen, und mit diesem Interesse im Kopf wirft sich die medizinische Wissenschaft auf den Ursache und Wirkung vermittelnden physiologischen Prozess, auf die einzelnen Glieder der Wirkungskette, an denen sich mit Medikamenten und anderen medizinischen Mitteln im Sinne der Trennung von Ursache und Wirkung eingreifen ließe.
Diesem praktischen Standpunkt verdankt sich in der theoretischen Betrachtung die Verwandlung der Krankheitsursachen in bloße Auslöser und die mit ihr beschlossene Hinwendung zur Physiologie als dem eigentlichen Ort des Geschehens. Mit dem sehr beliebten Argument, dass ja nicht jeder gleich gesundheitlich ruiniert ist oder vom Hocker fällt, der einer bestimmten Strahlendosis ausgesetzt worden ist oder die Belastungen eines Arbeitslebens hinter sich gebracht hat, geht die medizinische Wissenschaft dazu über, dort, im jeweils betroffenen Organismus, die eigentlichen Gründe für die Krankheit zu suchen. Sie lässt den allgemeinen Zusammenhang von Ursache und Wirkung hinter sich und wendet sich den individuellen Gründen zu, deretwegen der eine krank wird und der andere nicht. Für sie, das liegt in der Logik ihrer Argumentation, müssen die Gründe für die Erkrankung in der Besonderheit des betreffenden Organismus liegen: in einer Disposition zum Krankwerden.
Diese Gewissheit steht fest vor jeder Untersuchung; sie gibt den Leitfaden für die weitere Forschung vor. Gesucht wird nach einer „ererbten oder erworbenen Bereitschaft des Organismus, auf bestimmte Schädlichkeiten außergewöhnlich – i. S. einer Krankheit – zu reagieren“ (Roche-Lexikon Medizin, 2004) nach einer Bereitschaft also, von der man noch nicht einmal weiß, ob sie im Erbgut oder in den schlechten Angewohnheiten eines Patienten begründet ist, von der man aber auf jeden Fall schon mal weiß, dass es sich um eine Eigenschaft des betreffenden Organismus handelt. Was die medizinische Wissenschaft darüber hinaus an dieser Stelle auch noch weiß, ist, dass sich die Krankheit ganz bestimmt nicht den „bestimmten Schädlichkeiten“ verdankt, die offenbar unterwegs sind, also wohl auch ihr Werk tun, sondern der „außergewöhnlichen Reaktion“ auf sie. Als wäre das die größte Selbstverständlichkeit, geht sie hier davon aus, dass die normale Reaktion des Körpers auf diese „Schädlichkeiten“ darin besteht, gesund zu bleiben, d.h. sie auszuhalten. Den Grund der „außergewöhnlichen Reaktion“ einer Erkrankung will sie ermitteln, und mit diesem Vorhaben landet sie bei einer vorerst völlig unbestimmten Bereitschaft zum Krankwerden. In der muss der Grund für die Erkrankung liegen, sonst wäre der Patient ja nicht krank geworden: ein „Schluss“, der das Phänomen als seine Ursache ausdrückt und diese Tautologie im Begriff der Disposition als Tatsache behauptet.
Wenn sich die medizinische Forschung, ausgestattet mit solch einer famosen heuristischen Idee, entschlossen von den Belastungen, die auf die Physis und Psyche der Menschen einwirken, ab- und der Physiologie des belasteten Organismus zuwendet, um in der die Gründe einer Erkrankung zu lokalisieren, ist eine Verwechslung unvermeidlich: Sie nimmt sich dann nicht einfach der individuellen physiologischen Unterschiede an, die zweifelsohne ihre Rolle spielen, wenn es um die Klärung der Frage geht, warum eine Krankheit im einen Fall so, im anderen anders verläuft, sondern sie untersucht den Organismus in der Gewissheit, dass im Bereich der Physiologie auch der allgemeine Grun...

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort
  2. I. Die „modernen Volksseuchen“
  3. II. Die großartigen Leistungen des Medizinbetriebs
  4. III. Gesundheit als Ware
  5. PS. Der Patient