Geleitwort zur 1. Auflage
Der Bundesverband autismus Deutschland e. V. engagiert sich seit über vier Jahrzehnten für Menschen mit Autismus. Die Vision einer inklusiven Gesellschaft ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit und echte Teilhabe von Menschen mit Autismus unser Ziel.
Durch die Verabschiedung und Ratifizierung der UN-Behindertenrecht-konvention ist der Begriff »Inklusion« nun auch in Deutschland von der abstrakten Ebene der Politik in der Praxis angekommen. Der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ist bereitet. Nun müssen Politik und Praxis darüber verhandeln, wie Inklusion ausgestaltet wird, damit Menschen mit Autismus in Kindergarten, Schule, Ausbildung, etc. in vollem Umfang und tatsächlich »dabei« sein können.
Autismus Deutschland hat sich von Beginn an politisch in der Inklusions-debatte engagiert. Gerade für Menschen mit Autismus, deren Andersartigkeit im Verhalten und in der Wahrnehmung (ihre) gesellschaftliche Teilhabe behindert und damit auch den Besuch der Regelschule oder des Regelkindergartens in Frage stellt, müssen besondere Rahmenbedingungen geschaffen werden, die nicht allein etwa durch bauliche Veränderungen erreicht werden können.
Am Anfang steht die Aufklärung über die Besonderheiten autistischer Menschen und ihre sich daraus ableitenden Bedürfnisse an autismusge-rechten Strukturen in ihrem Lern- und Lebensumfeld. Das Wissen über und das Verständnis der Notwendigkeit, spezifisch zu denken, ist unabdingbar. Am Ende dieses auch immer individuell zu beschreibenden Aufklärungsprozesses kann jedoch auch die Erkenntnis stehen, dass die Gemeinschaft die besonderen Bedürfnisse eines Menschen mit Autismus durch spezifisches Eingehen allein nicht kompensieren kann und gesonderte bzw. »exklusive« Betreuungsformen und -maßnahmen nötig sind, um diesem Menschen (s)ein Mindestmaß an Teilhabe zu ermöglichen.
Bei allem politischen und fachlichen Enthusiasmus über Inklusion darf daher der einzelne Mensch mit seinen Möglichkeiten nicht außer Acht gelassen werden. Er bestimmt die Möglichkeiten von Inklusion. Die Gesellschaft sollte die Bedingungen und das Bewusstsein hierfür schaffen. Gleichzeitig ist aber auch zu jedem Zeitpunkt das Wunsch- und Wahlrecht der Eltern zu berücksichtigen, (gerade) für Kinder und Jugendliche mit erhöhtem Betreuungs- und Förderbedarf, sonderpädagogische Förderung bzw. entsprechende Einrichtungen vorzuhalten.
Das vorliegende Buch »Vielfalt leben« hat in vieler Hinsicht Pioniercharakter, da die Themen »Autismus« und »Inklusion« miteinander verknüpft und bezogen auf Kindergarten, Schule und Berufsleben in dieser thematischen Breite und derart vielschichtig so noch von keiner Autorin/keinem Autor bearbeitet wurden.
Mit diesem Buch leisten die Autorinnen, Nicole und Ute Schuster, wichtige Beiträge zu Aufklärung über Autismus und tragen gleichzeitig zur Bewusstseinsbildung für Inklusion in Kindergarten, Schule und Ausbildung bei. Es ist eine wirklich rundum gelungene und hervorragend strukturierte Sammlung von Fachwissen gepaart mit nachdenklich stimmenden Alltagserfahrungen.
Ein bemerkenswertes Buch, auf das sicher viele Leser bereits gewartet haben werden.
Hamburg, im Mai 2013
Maria Kaminski, Vorsitzende des Bundesverbandes autismus Deutschland e. V.
Vorwort
Mit behinderten Menschen wurde lange ähnlich verfahren, wie in einer griechischen Sage der Riese Prokrustes mit seinen Gästen umgegangen ist. Prokrustes hatte stets alle Reisende willkommen geheißen und in seinem Haus aufgenommen. Er bot ihnen eine Mahlzeit und auch ein Bett zum Schlafen an. Das Problem: Die Menschen, die zu Prokrustes kamen und bei ihm nächtigten, waren nicht alle gleich groß. Bei manchen hingen die Füße über den Bettrand, andere füllten mit ihrer kleinen Größe nur ein Teil des Bettes aus. Prokrustes gefiel das nicht und er griff zu einer grausamen Methode: Bei langgewachsenen Menschen, bei denen Körperteile überstanden, hakte er diese ab. Sehr kleine Personen teilte er in Stücken und verteilte diese so im Bett, dass der Kopf am oberen Ende und die Füße am unteren Ende lagen. Anstelle das Bett passend für den Menschen zu machen, machte er also den Menschen passend für das Bett.
Ähnlich ging die Gesellschaft in den letzten Jahren mit Menschen mit Behinderungen um. Anstelle die Strukturen des sozialen, wirtschaftlichen und schulischen Lebens passend für die Menschen zu machen, sollten Behinderte in Rahmen gezwängt werden, die ihnen eine Teilnahme ermöglichen sollte. Das ist zwar weniger blutig als das Vorgehen des Prokrustes; den Menschen als Individuum achtet aber dieser Zwang zur Anpassung keineswegs.
Heute glaubt man, darüber hinweg zu sein. Überall wird groß von Inklusion gesprochen, also davon, das Umfeld passend für Menschen mit Behinderungen zu machen. Doch was davon ist Realität? Wie weit sind wir wirklich gekommen und was muss noch getan werden? Wie steht es um die Inklusion im Bereich Früherziehung, Bildung, Studium und Ausbildung, Beruf und Freizeit? Wo gibt es noch Barrieren und wie können diese überwunden werden?
Diesen Fragen wird in diesem Buch nachgegangen. Als kurze Hinführung dient in jedem Kapitel eine kleine Erzählung einer Mutter eines Autisten, nennen wir sie Karla. Karla erzählt in Tagebucheinträgen von ihren Gedanken um ihren autistischen Sohn Ben. Sie berichtet von mangelnder Inklusion, von Mut machenden Erlebnissen und den vielen kleinen Kämpfen im Alltag.
Dieses Buch zeigt, was Inklusion ist und wie sie für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen umgesetzt werden kann. Inklusion ist möglich. Sie muss nur konsequent gewollt werden.
Der Weg, der vor uns liegt, ist noch lang. Es gilt, Ängste und Vorurteile abzubauen. Es gilt, aufzuklären. Das Ziel: Alle Menschen mit Autismus – sofern diese es wollen – in die Gesellschaft aufzunehmen. Sie haben das Recht auf diese Teilhabe.
1 Einführung: Autisten und das Inklusionsgesetz
Um Inklusion für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen umzusetzen, muss klar sein, wo genau die Einschränkungen dieser Menschen liegen und in welchen Bereichen Änderungen erforderlich sind, um sie in die Gesellschaft zu holen. Im Folgenden sollen Hauptmerkmale des Autismus dargelegt werden.
1.1 Vom Syndrom zum Spektrum
Klassisch wird das autistische Spektrum in verschiedene Untergruppen – das Kanner-Syndrom, das Asperger-Syndrom und den atypischen Autismus – unterteilt. Beim frühkindlichen Autismus (auch Kanner-Autismus) treten erste Auffälligkeiten vor dem ersten Lebensjahr auf. Erstmals beschrieben wurde diese Form 1943 durch den US-amerikanischen Kinderpsychiater Leo Kanner. Betroffene Kinder entwickeln sehr oft keine aktive Sprache oder weisen schwere Sprachstörungen auf. Die Intelligenzentwicklung ist häufig beeinträchtigt. Im Gegensatz dazu ist das Asperger-Syndrom dadurch gekennzeichnet, dass sich die Sprachentwicklung in der Regel normal vollzieht und die Intelligenz durchschnittlich bis überdurchschnittlich ist. Die Bezeichnung dieser Autismusform geht auf den österreichischen Kinderarzt Hans Asperger zurück, der dieses Syndrom 1944 erstmals an Knaben feststellte. Beim atypischen Autismus lässt sich das Störungsbild weder mit dem Kanner- noch mit dem Asperger-Autismus ausreichend beschreiben.
Allen Autismusformen gemein sind Auffälligkeiten in drei Kernbereichen: in der sozialen Interaktion, in der Kommunikation und im Verhalten. Des Weiteren können unspezifische Probleme wie Phobien, Schlaf- und Essstörungen und (Auto-)Aggression vorkommen.
Heute spricht man nicht mehr von einzelnen Autismus-Formen, sondern von einem autistischen Spektrum, da sich viele Patienten nicht klar einer der genannten Untergruppen zuordnen lassen. Autismus als Autismus-Spektrum-Störung ist in den psychiatrischen Klassifikationssystemen DSM-5 und ICD-11 (gültig ab 1. Januar 2022) beschrieben. Wie viele Menschen von einer solchen Störung betroffen sind, ist unklar. Für Deutschland gibt es keine aussagekräftigen Zahlen. Studien aus Ländern wie England und den USA lassen auf bis zu 1 % der Bevölkerung schließen.1 Aktuell geben die Centers for Disease Control and Prevention (CDC, englisch für ›Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention‹) in den USA bei Kindern sogar eine noch höhere Prävalenz an. Die Behörde stützt sich auf Untersuchungen aus 2016 und leitet daraus eine Häufigkeit bei Kindern im Alter von 8 Jahren mit 18,5 pro 1.000 ab, was also bedeutet, dass eins von 54 Kindern betroffen ist. Dabei haben Jungen 4,3 Mal so häufig eine Autismus-Spektrum-Störung wie Mädchen.2
Unklar ist bis heute auch, wodurch Autismus genau ausgelöst wird. Als Ursachen werden unter anderem genetische Veränderungen und Veränderungen im Gehirn diskutiert.
1.2 Wo liegen die Beeinträchtigungen?
1.2.1 Blickpunkt soziale Beziehungen
Im Bereich der sozialen Interaktion sind bei vielen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen die stärksten Einschränkungen festzustellen. Eines der Kernprobleme vieler Autisten liegt darin, dass sie die Gefühle anderer Menschen nicht verstehen und sich nicht in diese hineinversetzen können. Infolgedessen können sie nicht angemessen auf die Emotionen ihrer Mitmenschen reagieren. Sie wissen nicht, wann und wie sie jemanden trösten sollen, wie man Freude teilt oder wie sich Angst äußert. Auf den ersten Blick betrachtet mögen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen daher als kalt, gefühllos und gleichgültig gegenüber anderen erscheinen. Dem muss klar widersprochen werden. Autisten haben Gefühle. Teilweise sogar intensivere als andere Menschen. Ihr Handicap liegt allerdings im Umgang mit Gefühlen.
Bei kleinen Kindern macht sich Autismus oft zunächst dadurch bemerkbar, dass der Nachwuchs kein Interesse an den Eltern zeigt. Kleinkinder kapseln sich bereits deutlich ab und beschäftigen sich am liebsten allein. Für Außenstehende erscheinen sie unerreichbar in ihrer eigenen Welt. Im Kindergarten spielen sie am liebsten alleine. Es gibt kaum Bemühungen, zu Gleichaltrigen Kontakt aufzubauen.
Auch die nur leicht von der Störung betroffenen Asperger-Autisten können gleich beim ersten Eindruck als auffällig erscheinen. Viele von ihnen meiden Blickkontakte oder haben einen antrainierten Blickkontakt, der aufgesetzt und unnatürlich wirkt. Manche Betroffene starren ihr Gegenüber auch ununterbrochen an, was in der Regel als sehr unangenehm und unangemessen empfunden wird. Doch nicht nur Blickkontakt, auch körperlichen Kontakt wie Händeschütteln, Umarmungen oder Küssen mögen sehr viele Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen nicht. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Oft ist es das Eindringen einer anderen Person in die eigene Schutzzone, das Angst macht und abgelehnt wird. Auch können sensorische Überempfindlichkeiten dem Zulassen von Berührungen entgegenstehen. Umgekehrt haben jedoch gerade manche Kinder mit Autismus die Angewohnheit, auch fremden Menschen sehr nahe zu rücken, oft unangenehm nahe. Widersprüche im Verhalten autistischer Menschen, wie an diesem Beispiel dargestellt, zeigen, wie unterschiedlich geartet der Autismus sein kann. Bei jedem einzelnen Betroffenen ist er anders ausgeprägt. Das erklärt auch, warum Verallgemeinerungen unmöglich sind und allgemeine Regeln und Hinweise für den Umgang mit diesen Menschen kaum gegeben werden können.
1.2.2 Blickpunkt Kommunikation
Zur Kommunikation gehören sowohl die verbale als auch die nonverbale Kommunikation. In beiden Bereichen treten bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen Auffälligkeiten auf. Im verbalen Ausdruck unterscheiden sich Personen, die mit ihrer Diagnose an unterschiedlichen Stellen auf dem Autismus-Spektrum anzuordnen sind, sehr deutlich. Schwer betroffene Menschen (früher als Kanner-Autisten bezeichnet) weisen oftmals keine oder nur eine sehr rudimentäre aktive Sprache auf. Viele Asperger-Autisten hingegen verfügen über hervorragende sprachliche Fähigkeiten und können sich sehr gut und grammatikalisch einwandfrei ausdrücken. Bei ihnen liegen die Auffälligkeiten mehr in der Art, wie sie mit Menschen kommunizie...