Mythos Mensch
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Mythos Mensch

Eine Anthropodizee

  1. 280 Seiten
  2. German
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Mythos Mensch

Eine Anthropodizee

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Jeder Mensch ist in sich selber ein einziger geschlossener Mythos. Und folglich ist er es auch allen anderen. Die Welt stellt sich ihm dar als eine große, alles Mögliche umfassende Erzählung, worin seine Individualität gar nicht vorkommt, weshalb er sich in das große Weltgedicht erst selbst hineinerzählen muss - und die Fabeln seiner Schöpfung gleich mit. Durch den Willen zur Mythologie wurde der Mensch zugleich das Produkt seiner Mythen; eine Verbindung, die sich immer fester knüpfte, je mehr der Mensch in seinen Geschichten vom Menschen aufging. Denn das Erzählen der Welt fängt die Welt nicht ein, sondern bildet sie nur ab - und sieht ihr hinterher.

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II.

VON DER FREUDE AM MYTHOS

Grundbedingungen des »schönen Lebens«

Genossenschaft. – Wer auch nur ein einziges Mal den Veranstaltungen einer Partei der politischen Klasse oder denen eines Verlages der kulturellen Klasse, etwa auf den Buchmessen – den Parteitagen des Kulturapparats –, beigewohnt hat, begreift recht schnell, wie eng die Szenen der Funktionseliten miteinander verwoben und verwickelt sind, und dass sich beide Milieus fast ununterscheidbar aus ein und demselben Charaktertypus zusammensetzen. Plötzlich wird klar, warum kaum jemand eine Chance hat, sich der einen oder anderen Klasse anzunähern oder dort auch nur geduldet zu werden, der die dazu nötige Begabung und Natur, das dazu nötige »Wesen«, also den erforderlichen Spürsinn für das »richtige Verhalten«, das notwendige Umschaltspiel und die gleichen Reflexe auf bestimmte Erfahrungen, kurz: der die erwarteten Funktionseigenschaften flexibler Anpassungsleistung nicht von vornherein mitbringt und deshalb nirgendwo »dazugehört«, nirgendwo »hineinpasst«. – Doch ist nicht womöglich jeder mit eben einer solchen »Natur« oder »Begabung« ausgestattet, und weiß es nur nicht? Wenn es in der Zivilgesellschaft synthetischer Wirklichkeiten auf nichts mehr ankommt, als auf die unbedingte Teilnahme am »schönen Leben«, kann dann noch als geistig korrupt bezeichnet werden, wer sich die Pforten zum Lebensglück dadurch öffnet, dass er nicht mehr gegen die Regeln der Macht verstößt und nur noch so sein will wie alle? In der »Kultur« war es zuletzt zur moralischen Pflicht geworden, gegen die Regeln der Macht zu verstoßen, um als lebendiger, eigenständiger Geist oder auch nur als »echter« Künstler zu gelten. Denn das »gute und schöne Leben« war noch nicht Maß aller Dinge – oder es definierte sich wenigstens anders.
Besser dastehen. – Alle medial exponierten Philosophen heutiger Provenienz haben sich von Anfang an für das »schöne Leben« entschieden; die Welt ist ihnen nicht Reibefläche, sondern Resonanzkörper; man benötigt sie nicht als geistige Herausforderung, sondern als Bühne für den eigenen Auftritt. Selbst die notorischen Vorzeigepropagandisten eines illusorischen Wohlfühlsozialismus betreiben zuletzt nur billige Pseudokritik, wo sie einen Systemfehler gegen einen anderen auszuspielen versuchen. Beide Varianten, die der Eudämonie wie die der feuilletonistischen Kritik, sind ihrem Wesen nach publikumsorientiert und können sich schon allein deshalb gar keine echte Gegnerschaft leisten. Was ihnen und ihren Darstellern zum Erfolg verhilft, nämlich die Tatsache, massenkompatibel zu sein, erklärt zugleich, warum sich echter philosophischer Widerstand im Hier und Heute so schwertut: er hat keine lebenden Vorbilder, die dazu ermutigten, mit der Welt einmal mehr und gründlich ins Gericht zu gehen. Die intellektuellen Entertainer wollen, können und dürfen nicht dazu aufrufen, da sie sonst ihren gut beleuchteten Logenplatz mit Sicht auf das Zeitgeschehen gegen die schattige Einsiedelei selbstgenügsamer Weltweiser vertauschen müssten. Wo hingegen Realität beinahe ausschließlich über medial generierte Befindlichkeiten erzeugt wird, kann und darf Philosophie nur noch in Kooperation mit den global vernetzten Wirklichkeitsfabriken stattfinden – und muss sich danach ausrichten. Ein unter solchen Bedingungen lebender Philosoph denkt nicht mehr die Welt, sondern wird von der Welt gedacht als ein ihr nützlicher Kollaborateur. Dadurch ist für jeden in die Wirklichkeit eingebundenen Menschen echte Gegnerschaft zum Vorhandenen und Herrschenden gleichsam unmöglich geworden. Denn sie würde den sofortigen Ausschluss aus der großen Verwertungsgemeinschaft moderner Lebensteilnahme bedeuten.
Beinahe unbemerkt ist daher auch die Philosophie zum bloßen Artikel mutiert, der im Sortiment imageträchtiger Weltgebrauchsgegenstände seinen Platz gefunden hat. – Folglich dürfte es im Zustand nach den Kulturen für den echten Philosophen gar keine Kollaboration mit dem Zeitgeistigen mehr geben. Denn nahezu alles, was die post-kulturelle Wirklichkeit dem Menschen abverlangt, richtet sich gegen dessen Fähigkeit zur Eigenkreativität, zur Selbstbildung und also gegen jede Form von Eigentümlichkeit. Wer nun dennoch mit dem Zeitgeist gemeinsame Sache macht, um im Leben besser dazustehen, schließt gewissermaßen einen modernen Teufelspakt: er verkauft sein exklusivstes Gut, seinen Willen zur Wahrheit und seine Gabe zur Autonomie um des sofortigen Ertrags willen; er wird für die Versprechen hellhörig, die das Leben nur dem Bereitwilligen gibt. Darin ist er ganz modern: ein flexibler Anwender derjenigen Mittel, die den höchsten Gebrauchswert garantieren. Über diese Wege ist die Welt schließlich zum Einrichtungshaus seines Glücksmobiliars geworden. – Wer aber wollte eine solche Haltung heute irgendjemandem verübeln? Wo die Welt ihren Schrecken endlich verloren hat, weil wir zu lernen bereit sind, in ihr zu uns zu kommen wie nach einer langen Betäubung, erschöpft sich Philosophie bereits im Propädeutischen und gefällt sich als Anleitung zum »besseren Leben«. Denn wie viel Mut und Reife wäre erforderlich, um den ganzen uns umgebenden Apparat technisch-moralisch-materiell korrumpierter Polit- und Kulturkonzerne als das zu erkennen und zu benennen, was er seiner Art und Weise nach ist! Spätere Beobachter werden unweigerlich zu dem vernichtenden Urteil gelangen müssen, dass die Literatur und Philosophie, die jenes derzeit herrschende Regime allumfassender Wirklichkeit erzeugt und protegiert, den Tiefpunkt geistigen Schöpfertums seit 1750 markiert. Denn wer könnte auch nur einen einzigen namhaften Schriftsteller unserer Tage nennen, der nicht durch und durch das Produkt eben dieses Apparats wäre…? Wer wüsste von einem einzigen Buch der letzten fünfzig Jahre, das bleibenden Wert hätte, weil es nicht nur für das Feuilleton, nicht nur für den Markt geschrieben worden ist, sondern aus innerer Notwendigkeit entstand – und sich dadurch an Tiefe und Gehalt vor allen anderen auszeichnete?
Burgfrieden. – Freilich kennzeichnet der Umgang mit dem Opportunen oder Geschmeidig-Verlogenen seit jeher des Menschen Verhältnis zur Welt. Denn der schlechte Geschmack eines Zeitalters ist nicht zu umgehen, man wird ihm nicht ausweichen können, wenn man öffentlich Aufmerksamkeit erlangen oder auch nur soziale Bindungen eingehen will. Die Kunst der Kollaboration erfordert, jedem Zeitgeist etwas Positives und Annehmbares abzugewinnen. Es gibt eine Philosophie des Wohlwollens oder der Eudämonie, und eine der Distanz, der Kritik oder der Gegnerschaft: die eine sucht Zufriedenheit, die andere Authentizität oder Gerechtigkeit – und wird von der Überzeugung angetrieben, dass letztere ohne erstere nicht zu haben sei. Jede der beiden Philosophien fordert freilich ein anderes Verhalten, und es ist allein der Charakter eines Menschen, der darüber entscheidet, welcher der beiden Wege eingeschlagen wird. Vielleicht hätte sich auch der kritische Geist lieber für eine Philosophie der Glückseligkeit entschieden, bringt dies aber buchstäblich nicht übers Herz. Solche Menschen leiden an der Unfähigkeit, ethische Widersprüche im gesellschaftlichen Umgang als notwendige Realitäten hinzunehmen, um einfach darüber hinwegleben zu können. Die dringendste Frage aller kritischen, authentischen Philosophie, was passieren muss, damit Gegnerschaft oder Widerstand zur ethischen Pflicht wird, stellt sich dem Glückssuchenden gar nicht. Seine Lehre ist die Philosophie des Lavierens, die sich keiner Wirklichkeit verschließt. Er kennt das Unerträgliche bestimmter Tendenzen oder gesellschaftlicher Zustände nicht, da er sich überall einzurichten weiß. Durch Übernahme von Vorhandenem signalisiert der Mensch Kooperationsbereitschaft: ich will dazugehören – und erkenne also die herrschenden Werte an. Lasst mich an eurer Welt teilhaben und davon profitieren. Leben als bewährter Kopiervorgang. Anderenfalls, wenn Menschen jene autonomen Wesen wären, für die sich die meisten halten, hätten sich gar keine Gruppen, Milieus, Moden, Tendenzen bilden können. Doch gerade über solche Konjunktionen äußert sich das genuin Menschliche, das Gattungserhaltende, dem die Art genetischmechanisch unterworfen ist und das sich als das Natürliche über alle kulturellen Sorgen hinwegsetzt. Mag der einzelne sich dagegen empören, ja darüber erheben, die Gattung aber kennt keine individuellen oder nationalen Veredelungsabsichten, sondern nur den primären Überlebensinstinkt, der mit seinem auf Genuss basierenden Belohnungsversprechen lockt. Soziale Anerkennung und Geborgenheit, Vermeidung von Schmerzen und Not, spirituelle Verankerung, ein ausgewogenes Sexualleben, technisch integriert sein, gutes, reichhaltiges Essen – nach Erfüllung dieser Grundbedürfnisse strebt Homo sapiens. Alles Weitere ist bloßer Luxus oder beruht auf den Fehlentwicklungen einzelner Außenseiter.
Lange, milde Winter. – Es gibt Realitäten oder gesellschaftspolitische Wirklichkeiten, herbeigeführt durch bestimmte historische Ereignisse, die das »höhere Bewusstsein«, wo dieses zu seiner Bildung gelangt, zum Überwintern zwingen. Jede Beteiligung am Bestehenden kann aufgrund notwendiger Gegnerschaft unmöglich werden, wo die Wirklichkeit als etwas wesentlich Falsches erkannt worden ist. Die Lüge verträgt sich stets besser mit der Macht als die Wahrheit. Ein Regime, das auf Wahrheit gründete, wäre bei den meisten Menschen unbeliebt, denn es machte sowohl den Politiker als auch den Priester überflüssig. Doch in jedem Menschen lauert ein Politiker oder Priester, der sich selber, und nicht die Wahrheit der Dinge zur Geltung bringen will. Bin ich also bereit, mich der notwendigen Lüge, die aller Macht innewohnt, zu unterwerfen, um das »schöne Leben« zu erreichen? Was ist mir unter den Voraussetzungen des unbedingten Stillhaltens und Erduldens mein Leben noch wert? – So lauten die heikelsten Fragen, die sich dem Menschen des 21. Jahrhunderts entschiedener stellen müssten als jemals zuvor, weil es heute erstmals zum Bestehenden, der einen, mithin totalen Welt tatsächlich keine Alternative mehr zu geben scheint. Wann also ist der Punkt erreicht, wo das Verhalten der vermeintlich »Klügsten« und »Gerechtesten« die Teilnahme am allgemeinen Schauspiel gesellschaftlicher Positionierung unmöglich macht? Wo der eigene Stolz und das eigene Gewissen zur Abkehr und zum Ausschluss zwingen, weil sich jede Faser dagegen sträubt, Teil solcher Verhältnisse zu werden… Doch freilich musste sich eben jener Typus, der diese Verhältnisse nötig hat, um die Welt nach seinem Bilde zu gestalten, evolutionär durchsetzen; also der Typus des funktionalen Menschen und des Herdencharakters. Ihn zu überwinden, würde eine Aufgabe von Jahrtausenden sein, sofern es ein Bedürfnis danach gäbe und die menschliche Natur zu einem solchen Schritt – aus diesem Typus heraus! – überhaupt fähig wäre. Denn es spricht vieles, vielleicht alles dafür, dass die Ausnahmeerscheinung des kulturellen und damit notwendig antimodernen Typus niemals wieder eine solche Bedeutung erlangen wird wie im Altertum oder im Europa des 18., 19. Jahrhunderts.
Diachronie. – Wo der Mensch begreift, dass er sich mitten in der Geschichte befindet, der langen Vergangenheit also ein vielleicht kaum geringeres Quantum an Zukunft gegenübersteht, ändert sich sein Verhältnis zu den Gewissheiten der Gegenwart. Wie können Historiker also auf Kosten der bisherigen Geschichte Partei für die heutige Wirklichkeit ergreifen und so tun, als befänden wir uns nicht in der gleichen Befangenheit wie sämtliche Generationen vor uns? Denn die Verbrechen, die das heutige Regime, also die herrschende Wirklichkeit in all ihren Ausdrucksformen und Aufdringlichkeiten, begeht, wird man erst in späteren Zeiten als solche ungestraft benennen dürfen, weil die mehr denn je im Dienste ihres Staates stehenden Historiker, Philosophen und Soziologen die derzeitig gültige Moral über alle anderen Moralen stellen müssen, um von der herrschenden Wirklichkeit ihrerseits bevorzugt und gewürdigt zu werden. Woher aber nehmen die Anhänger der aktuellen Mythologie die Gewissheit und Zuversicht, nicht ebenfalls wieder nur die Handlanger einer zweifelhaften Tendenz zu sein, wenn sie in ihren Redaktionen und Parteibüros mit dem alten Inquisitionseifer gegen die Sieger von gestern agitieren? – So wird es späteren Epochen vorbehalten sein, die Wesenszüge unseres Zeitalters zu benennen und zu verstehen. Derweil kreisen alle Teilnehmer nur noch um sich selber oder sind damit beschäftigt, das Vergangene verwaltend zu sortieren. Darin ähnelt das 21. Jahrhundert der Zeit des Hellenismus: eine zu große, zu wuchtige Geschichte hat Europa hinter sich; eine Last, die den Blick auf den rigorosen Wandel verstellt, der sich über unsere Köpfe hinweg vollzieht. Jede Hochkultur durchläuft eine »nachklassische« Phase, in der sie wissenschaftlich Rechenschaft über sich ablegt: sich durchforscht. In dieser Phase wird alles, soweit möglich, über den eigenen Zustand gesagt. Danach ist dann solange nur noch die Verwaltung des Gesagten möglich, bis dieses schließlich nicht mehr verstanden wird, weil sich andere Daseinsäußerungen darübergelegt haben. Wir stehen zu nahe an der Grenze, um den Übergang von der bislang ereignisreichsten Epoche der Weltgeschichte in ein ganz anderes Zeitalter mit all seinen fundamentalen Neuerungen und Verwerfungen zu erfassen. – Daher ist es wahrscheinlich noch zu früh, schon jetzt auf das Ungeheuerliche und Gewaltige, aber auch auf die Größe dieses Ereignisses hinzuweisen.
Mut zum Vergleich. – Es gehört zu den Schutzvorrichtungen einer jeden Zeitgenossenschaft, die Pflicht zum aktiven Einschreiten stets in der Vergangenheit oder überhaupt im Anderswo zu verorten. Die unmittelbare Nähe zum Verwerflichen hemmt zugleich die Bereitschaft, dagegen vorzugehen. Wo es darauf ankäme, sich selber so zu verhalten wie man es an den historischen Fällen zu loben gewohnt ist, schwindet schnell der Mut zum Vergleich. Man hält die Ereignisse der eigenen Zeit für weniger virulent als die Beispiele aus der Geschichte, denn man will in den Konflikt, der sich vor der eigenen Haustür abspielt, nicht direkt hineingezogen werden. Lieber bleibt man auf Abstand, indem man sich zwar jovial als Zeitkritiker öffentlich ins Gespräch bringt, jedoch nicht ohne stets zu versichern, mit den echten Gegnern regierender Machenschaften nichts zu tun zu haben. Solange die Verantwortlichen für ein Geschehen, das erst spätere Generationen zu verurteilen berechtigt sind, noch uneingeschränkt herrschen, will man mit den Vorausgeeilten nicht verwechselt werden. Es sollen sich die Verhältnisse erst einmal gründlich ändern und die Regeln zur großen Mitmachprofitabilität an Eindeutigkeit verlieren; dann freilich werde man gerne bereit sein, sich seiner heimlichen Grundkritik an den alten Eliten zu erinnern.
Das Zirkuläre organischer Prozesse. – So wie der Lachs, den es an den Ort seiner Geburt zurückzieht, um dort zu laichen, und der sich dafür allen möglichen Strapazen aussetzt, so treibt es auch die menschliche Natur stets an den »Ort« ihrer Mythen zurück, zu ihren metaphysischen »Geburtsstätten«.
Etiam si omnes, ego non. – Was aber hat es mit dieser vielzitierten, dem Matthäus-Evangelium (26,33) entnommenen, pointiert verknappten Selbstheroisierung eigentlich auf sich? Jesus prophezeite, dass alle seine Jünger sich zur Sünde verführen lassen, ihm ein Ärgernis (Skandalon) und also von ihm abfallen würden, woraufhin sein Lieblingsjünger, Petrus, beteuerte, dass er, selbst wenn er mit Jesus sterben müsste, ihn niemals verraten werde. Doch eben dieser Jünger, der das geflügelte etiam si omnes, ego non6 aussprach, war es, der noch in derselben Nacht alle seine Treueschwüre vergaß und Jesus gleich dreimal verleugnete, so wie ihm vorhergesagt worden war. – Wie also kann man sich dieses gekünstelte Alibi zum Vorbild nehmen, indem man es zu seinem Motto wählt? Zeigt doch der Autor des Matthäus-Evangelium die Schwäche gerade jener Menschen auf, die sich für besser, standfester, für »anders« halten als der große Rest, von dem sie sich abgrenzen wollen: auch wenn alle, ich nicht! und berufen sich dabei auf die Worte jenes Sünders, der unmittelbar Wort brach, nachdem er gefordert und auf die Probe gestellt worden war! Denn das also ist die Botschaft: du darfst klein und feige bleiben, so du nur an die Vergebung der Sünden durch den himmlischen Vater glaubst, dich Gott und der Kirche unterwirfst. In der Schwäche des Petrus hat sich der Mensch ein weiteres Mal porträtiert, so wie er ist, weil Gott ihn so geschaffen habe. Anstatt den Verräter zu schelten oder gar zu bestrafen, liebt der Gott des Neuen Testaments auch und gerade den Sünder! Besser lässt sich menschlicher Makel nicht beschönigen – und dadurch aufrechterhalten.
Das seltsame Gerede vom »Eigenen«. – Wir sind nie diejenigen Menschen, die wir sein könnten oder vielleicht sein wollten, sondern immer nur die, welche zu sein unsere jeweilige Umgebung von uns verlangt. Denn es zwingt die Gattung jeden in die Reihen derer, die den Entwicklungsgrad der ethnischen und regionalen Gruppe, der wir angehören, momentan am besten repräsentiert. Davon abzuweichen oder dem sich entgegenzustemmen und eine »selbständige Identität« zu entwickeln, ist nahezu unmöglich, da dies ein Leben in völliger Resonanzlosigkeit bedeuten müsste, wogegen sich sogleich alle unsere Instinkte wehren und uns zumeist gar nicht merken lassen, wie sehr wir durch eben diesen Gattungsdruck geformt worden sind. Deshalb sehen wir, wo wir hinschauen, überall nur die Abbilder jener Wirkkräfte der geschichtlichen Verhältnisse, die man als »Zeitgeist« zu bezeichnen sich gewöhnt hat, aber man sieht kaum jemanden, der einen tatsächlich eigenen »Geist« oder eigenen »Willen« in sich trüge. Oft meinen jedoch diejenigen, die dem herrschenden Zeitgeist nicht vollständig entsprechen, sie seien solche »selbständigen« Menschen mit einem »eigenen Kopf«; dabei werden sie zumeist nur, statt vom gegenwärtigen, von einem vergangenen Zeitgeist geführt, dem sie ihren Lebensentwurf verdanken, der gewissermaßen ein »verspäteter« ist und ihnen deshalb bloß den Anschein von Andersartigkeit gibt. Schaut man jedoch genauer hin, bemerkt man die chronologische Verschiebung und erkennt vielleicht im Aufeinandertreffen der Leute und Meinungen von »gestern« mit denen von »heute« die Hauptursache des gesellschaftlichen Streits in der Welt; nicht aber, weil wirklich verschiedene Interessen oder Wesensarten hier aufeinanderträfen. Allein weil Menschen über ein atavistisches Gedächtnis verfügen, sich also auch an Ereignisse »erinnern« können und dahin »zurück wollen«, die sie selber gar nicht erlebt haben, lässt die Gattung solche Variabilität zu, wodurch man leicht den Eindruck gewinnen könnte, als hätten wir tatsächlich die Wahl bei der Entscheidung für unsere »Weltanschauung«. Dabei schaut die Welt doch viel mehr aus uns heraus als wir in sie hinein; und die Frage nach dem Kräfteverhältnis der verschiedenen Zeitgeister in uns entscheidet darüber, welche Präferenzen sich bilden, an welche Meinungen über die Welt wir uns binden wollen. – Doch wer hätte über all diese wohlfeilen und zumeist verlockend betrügerischen Angebote hinweg der Welt je etwas wirklich Eigenes entgegenzusetzen gehabt?
Gehorsam. – Alles Leben organisiert sich auf die ihm mögliche Weise selber! Der Mensch legt nur deshalb so viel Gewicht auf die Formen seines Zusammenlebens, weil er meint, aus eigenen Stücken dahin gefunden zu haben und dabei den sich selber organisierenden Teil seiner Natur außer Acht lässt. Zuletzt aber ist kein Wesen für die Art und Weise seiner sozialen Modalitäten in dem Sinne selber verantwortlich, dass es darüber hätte entscheiden können. Vielmehr ist und wird jeder im Laufe seines Lebens zum Material jener Organisationsform und Entwicklungsstufe, auf ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. INHALT
  4. Auftakt
  5. I. AUS DEN ERFAHRUNGEN DES MENSCH-SEINS
  6. II. VON DER FREUDE AM MYTHOS
  7. III. ERFINDUNG DER GLÜCKSELIGKEIT
  8. Über den Autor
  9. Impressum