Freiheit zum Leben
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Ausgewählte Texte zur Ethik

  1. 208 Seiten
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Freiheit zum Leben

Ausgewählte Texte zur Ethik

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Über dieses Buch

Dietrich Bonhoeffer plante eine "Ethik" zu schreiben, konnte sie aber nicht mehr selbst abschließen. Mitten in der Arbeit an der "Ethik" ist Bonhoeffer von der Gestapo verhaftet worden. Die Fragmente zu dem Manuskript der "Ethik" überstanden den Krieg z.T. unter Dachsparren verborgen, z.T. im Garten vergraben. Erstmals 1949 erschienen, stellt die "Ethik" das erste postum aus dem Nachlass herausgegebene Werk Bonhoeffers dar.Bonhoeffers Gedanken zur Ethik bleiben auch heute noch herausfordernd: Bonhoeffer wusste, dass er als Christ Verantwortung trägt, dem Unrecht zu wehren. Aber was, wenn man dabei Schuld auf sich lädt, wenn man "dem Rad in die Speichen" greift und sich am Widerstand gegen Hitler beteiligt? Wer den Widerstandskämpfer Bonhoeffer verstehen will, muss seine "Ethik" kennen. Er sucht nach Antworten, wie sich Nachfolge Jesu im Alltag konkret gestaltet, denkt über die Unterscheidung von letzten und vorletzten Dingen nach und entwickelt seine Lehre von den vier biblischen Mandaten – Arbeit, Ehe, Obrigkeit und Kirche – mit der er die Vorstellung überwand, dass Kirche und Staat voneinander unabhängige Schöpfungsordnungen seien, die Kirche sich also in die Angelegenheiten des Staates nicht einzumischen habe.Bonhoeffer hatte nicht primär Theologen, sondern Laien, Juristen und Militärs als Leser im Auge. Darum enthält diese Ausgabe eine repräsentative Auswahl, die auch für Nichttheologen verständlich ist. Eine Einführung von Peter Zimmerling zu den einzelnen Texten macht Hintergrund und Bedeutung der Aussagen Bonhoeffers deutlich.

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Information

Die Geschichte und das Gute

Einführung

Wenn Bonhoeffer in seiner Ethik von verantwortlichem Leben spricht, so meint er damit ein an den göttlichen Mandaten ausgerichtetes Leben.24 Es zeichnet sich durch drei Kriterien aus: durch Stellvertretung, Wirklichkeitsgemäßheit und Schuldübernahme.25
Jeder Mensch ist dazu berufen, stellvertretend für andere zu wirken. Das zeigt sich schon an den normalen Herausforderungen, die das Handeln eines Vaters gegenüber seinen Kindern kennzeichnen: Er arbeitet für sie, er sorgt für sie, er tritt für sie ein, er kämpft für sie und leidet für sie (vgl. 147/257). Bonhoeffers christologische Interpretation des stellvertretenden Handelns leuchtet unmittelbar ein: „Weil Jesus, – das Leben, unser Leben, – als der Menschgewordene (sic!) Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt hat, darum ist alles menschliche Leben durch ihn wesentlich stellvertretendes Leben“ (148/257). Bonhoeffer hat diesen Gedanken auf das Engagement im Widerstand gegen Hitler angewandt: Stellvertretend für andere übernahmen die Verschwörer Verantwortung für Deutschlands Geschick. Stellvertretend für seine Mitverschwörer fragte Bonhoeffer nach der theologischen Begründung ihres Tuns. Das hat ihm und den anderen ermöglicht, in der Konspiration gegen Hitler ihre ganze Kraft einzusetzen.
Was versteht Bonhoeffer unter dem Gedanken der „Wirklichkeitsgemäßheit“? Wirklichkeitsgemäß meint, dass es keine Prinzipien gibt, nach denen verantwortliches Handeln ein für alle Mal feststünde. „Der Verantwortliche ist an den konkreten Nächsten in seiner konkreten Wirklichkeit gewiesen. Sein Verhalten liegt nicht von vornherein und ein für alle Mal, also prinzipiell fest, sondern es entsteht mit der gegebenen Situation. Er hat kein absolut gültiges Prinzip zur Verfügung, das er fanatisch gegen jeden Widerstand der Wirklichkeit durchzuführen hätte, sondern er sucht das in der gegebenen Situation Notwendige, ‚Gebotene‘ zu erfassen und zu tun“ (150/260). Mit diesen Überlegungen verhilft Bonhoeffer der jeweiligen Situation bei ethischen Entscheidungen zu ihrem Recht. Allerdings unterscheidet sich sein Ansatz von einer reinen Situationsethik dadurch, dass die Situation bei der ethischen Urteilsfindung nur ein Kriterium unter anderen darstellt. „Die gegebene Situation für den Verantwortlichen ist nicht einfach der Stoff, dem er seine Idee, sein Programm aufzwingen, aufprägen wollte, sondern sie wird als die Tat mitgestaltend in das Handeln miteinbezogen“ (150/260).
Auch die Wirklichkeitsgemäßheit verantwortlichen Handelns wird von Bonhoeffer christologisch begründet. Wirklichkeitsgemäß ist ein Handeln nur dann, wenn es „mit der Welt als Welt rechnet und doch niemals aus den Augen lässt, dass die Welt in Jesus Christus von Gott geliebt, gerichtet und versöhnt ist“ (153/263). Außerdem gilt: Wirklichkeitsgemäß ist verantwortliches Handeln, wenn es „in der Begrenzung durch unsere Geschöpflichkeit steht“ (156/267). Warum? „Weil Gott in Christus Mensch wurde, weil er zum Menschen Ja sagte und weil wir als Menschen, in menschlicher Begrenztheit des Urteils, der Erkenntnis vor Gott und dem Nächsten leben und handeln dürfen und sollen“ (156f./268). Unverantwortliches Handeln offenbart sich gerade dadurch, dass es diese Grenzen missachtet (vgl. 157/269).
Warum das Kriterium der Wirklichkeitsgemäßheit für verantwortliches Handeln unverzichtbar ist, wird wiederum erst auf dem Hintergrund des nationalsozialistischen Staates besonders deutlich: Alle vorgegebenen bürgerlichen Moralvorstellungen und Tugenden versagten angesichts des Nazi-Unrechts. Angesichts sich permanent verändernder Umstände konnten Einzelne nur aus freier Verantwortung für das eigene Tun dem staatlichen Unrechtshandeln Widerstand leisten.
Im Zusammenhang mit dem verantwortlichen Handeln ist schließlich noch ein drittes Kriterium wichtig: Verantwortliches Handeln kommt nicht ohne Schuldübernahme aus (vgl. 163–171/275–283). Der Gedanke der „Schuldübernahme“ gewann besonders im Hinblick auf ein mögliches Attentat auf Hitler, aber auch schon im Vorfeld im Hinblick auf die konspirativen Methoden große Bedeutung. Es war für die Männer des 20. Juli ein schweres Gewissensproblem, in ihrem Widerstand gegen Hitler ständig an den Geboten Gottes schuldig zu werden. In seinem „Rechenschaftsbericht nach 10 Jahren“ brachte Bonhoeffer dieses Dilemma eindrucksvoll zum Ausdruck: „Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?“26 Trotzdem gab es für die Männer des Widerstands keine andere Möglichkeit, als schuldig zu werden, wenn sie verantwortlich handeln wollten. Die Lösung des Dilemmas, die Bonhoeffer vorschlägt, sieht folgendermaßen aus: Er war überzeugt, dass die Gültigkeit der Gebote Gottes unter allen Umständen bestehen bleibt. Es kann keine menschliche Entschuldigung für das Übertreten der Gebote geben. Lügen und falsches Zeugnis im Rahmen der Verschwörung bzw. ein Mord an Hitler widersprach den Geboten Gottes. Derjenige, der die Gebote übertrat, wurde auf jeden Fall vor Gott schuldig. Schuldübernahme im Rahmen verantwortlichen Handelns ist dabei nur im Eingeständnis der Schuld und in der gleichzeitigen Hoffnung auf Gottes Vergebung möglich. „Wer in Verantwortung Schuld auf sich nimmt – und kein Verantwortlicher kann dem entgehen –, der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie. […] Vor den anderen Menschen rechtfertigt den Mann der freien Verantwortung die Not, vor sich selbst spricht ihn sein Gewissen frei, aber vor Gott hofft er allein auf Gnade“ (170f./283).
Auch diesen Gedanken begründet Bonhoeffer christologisch, nämlich vom Tun Jesu Christi her: Christus hat als der Sündlose am Kreuz die Schuld seiner Brüder und Schwestern auf sich genommen und sich gerade unter der Last dieser Schuld als der Sündlose erwiesen. Verantwortliches Handeln besteht darin, in Freiheit das Richtige zu tun – auch wenn es dabei nicht ohne Schuld abgehen kann. Dies aber in der Hoffnung auf die Zusage der Vergebung und auf die Rechtfertigung durch Jesus Christus. Es handelt sich bei der Hoffnung auf Vergebung also nicht um ein abstraktes Prinzip entsprechend dem Motto, dass der Zweck die Mittel heiligt.

Die Struktur des verantwortlichen Lebens

Die Struktur des verantwortlichen Lebens ist durch ein Doppeltes bestimmt: durch die Bindung des Lebens an Mensch und Gott und durch die Freiheit des eigenen Lebens. Es ist diese Bindung des Lebens an Mensch und Gott, die es in die Freiheit eigenen Lebens stellt. Ohne diese Bindung und ohne diese Freiheit gibt es keine Verantwortung. Nur das in der Bindung selbstlos gewordene Leben steht in der Freiheit eigensten Lebens und Handelns. Die Bindung trägt die Gestalt der Stellvertretung und der Wirklichkeitsgemäßheit, die Freiheit erweist sich in der Selbstzurechnung des Lebens und Handelns und im Wagnis der konkreten Entscheidung. Damit ist die Disposition angegeben, unter der wir die Struktur des verantwortlichen Lebens zu betrachten haben.
Dass Verantwortung auf Stellvertretung beruht, geht am deutlichsten aus jenen Verhältnissen hervor, in denen der Mensch unmittelbar genötigt ist, an der Stelle anderer Menschen zu handeln, also etwa als Vater, als Staatsmann, als Lehrmeister. Der Vater handelt an der Stelle der Kinder, indem er für sie arbeitet, für sie sorgt, eintritt, kämpft, leidet. Er tritt damit real an ihre Stelle. Er ist nicht ein isolierter Einzelner, sondern er vereinigt in sich das Ich mehrerer Menschen. Jeder Versuch zu leben als wäre er allein, ist eine Leugnung der Tatsächlichkeit seiner Verantwortlichkeit. Entgehen kann er der durch seine Vaterschaft gegebenen Verantwortlichkeit nicht. An dieser Wirklichkeit scheitert die Fiktion, als sei das Subjekt alles ethischen Verhaltens der isolierte Einzelne. Nicht er, sondern der Verantwortliche ist das Subjekt, auf das sich die ethische Besinnung zu richten hat. Dabei macht es keinen Unterschied, in welchem Umfang Verantwortung getragen wird, ob für einen einzelnen Menschen, ob für eine Gemeinschaft oder für ganze Gemeinschaftsgruppen. Kein Mensch, der der Verantwortung und das heißt der Stellvertretung überhaupt entgehen könnte. Selbst der Einsame lebt stellvertretend, ja er in qualifizierter Weise, da sein Leben stellvertretend für den Menschen schlechthin, für die Menschheit, gelebt wird. Der Begriff einer Verantwortung für sich selbst ist ja auch nur insofern sinnvoll, als er eben die Verantwortung meint, die ich mir als Mensch – also weil ich Mensch bin – gegenüber wahrnehme. Selbstverantwortung ist in Wahrheit Verantwortung gegenüber dem Menschen und das heißt der Menschheit. Dass Jesus ohne die besondere Verantwortlichkeit einer Ehe, einer Familie, eines Berufes lebte, stellt ihn keineswegs aus dem Bereich der Verantwortlichkeit heraus, sondern macht seine Verantwortung und seine Stellvertretung für alle Menschen nur umso deutlicher. Damit aber rühren wir bereits an den tragenden Grund alles bisher Gesagten. Weil Jesus – das Leben, unser Leben, – als der menschgewordene Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt hat, darum ist alles menschliche Leben durch ihn wesentlich stellvertretendes Leben. Jesus war nicht der Einzelne, der zu einer eigenen Vollkommenheit gelangen wollte, sondern er lebte nur als der, der in sich das Ich aller Menschen aufgenommen hat und trägt. Sein gesamtes Leben, Handeln und Leiden war Stellvertretung. Was die Menschen leben, handeln und leiden sollten, erfüllte sich an ihm. In dieser realen Stellvertretung, die seine menschliche Existenz ausmacht, ist er der Verantwortliche schlechthin. Weil er das Leben ist, ist durch ihn alles Leben zur Stellvertretung bestimmt. Ob es sich auch dagegen wehrt, so bleibt es doch stellvertretend, zum Leben oder zum Tode, wie der Vater Vater bleibt, zum Guten oder zum Bösen.
Stellvertretung und also Verantwortlichkeit gibt es nur in der vollkommenen Hingabe des eigenen Lebens an den anderen Menschen. Nur der Selbstlose lebt verantwortlich und das heißt, nur der Selbstlose lebt. Wo das göttliche Ja und Nein im Menschen eins werden, dort wird verantwortlich gelebt. Die Selbstlosigkeit in der Verantwortung ist eine so restlose, dass hier das Goethesche Wort von dem Handelnden, der immer gewissenlos ist, seinen rechten Ort bekommt. Ein Missbrauch des stellvertretenden Lebens droht von zwei Seiten: durch die Absolutsetzung des eigenen Ich wie durch die Absolutsetzung des anderen Menschen. Im ersten Fall führt das Verhältnis der Verantwortung zu Vergewaltigung und Tyrannei. Dabei ist verkannt, dass nur der Selbstlose verantwortlich handeln kann. Im zweiten Fall wird das Wohl des anderen Menschen, dem ich verantwortlich bin, unter Missachtung aller anderen Verantwortlichkeiten absolut gesetzt, und es entsteht eine Willkür des Handelns, die der Verantwortung vor Gott, der in Jesus Christus aller Menschen Gott ist, spottet. In beiden Fällen ist Ursprung, Wesen und Ziel des verantwortlichen Lebens in Jesus Christus geleugnet und die Verantwortung zu einem selbst gemachten abstrakten Götzen geworden.
Als stellvertretendes Leben und Handeln ist Verantwortung wesentlich ein Verhältnis von Mensch zu Mensch. Christus wurde Mensch und trug damit stellvertretende Verantwortung für Menschen. Es gibt auch eine Verantwortung für Dinge, Zustände, Werte, aber doch nur unter der strengen Wahrung der ursprünglichen, wesenhaften und zielhaften Bestimmung aller Dinge, Zustände, Werte durch Christus (Joh 1,4), den menschgewordenen Gott. Durch Christus erhält die Welt der Dinge und Werte ihre schöpfungsgemäße Ausrichtung auf den Menschen zurück. Die oft gehörte Rede von der Verantwortung für eine Sache hat ihr Recht nur innerhalb dieser Grenze. Darüber hinaus dient sie in gefährlicher Weise jener Verkehrung allen Lebens, die in der Herrschaft der Dinge über den Menschen besteht. Es gibt eine Hingabe an die Sache der Wahrheit, des Guten, des Gerechten, des Schönen, in der die Frage nach der Nutzanwendung eine Profanierung wäre, und die es doch selbst evident macht, dass die höchsten Werte dem Menschen dienen müssen. Es gibt aber auch eine Vergottung aller dieser Werte, die nichts mehr mit Verantwortung zu tun hat, sondern die aus einer Besessenheit herkommt, die den Menschen zerstört, indem sie ihn dem Götzen aufopfert. Nicht der Nutzen der Sache für den Menschen und also der Missbrauch ihres Wesens, sondern ihre wesenhafte Ausrichtung auf den Menschen ist unter „Verantwortung für eine Sache“ zu verstehen. Es ist also der banausische Pragmatismus gänzlich ausgeschlossen, der – mit den Worten Schillers – aus der Göttin eine melkende Kuh macht, indem er das in sich Wertvolle in kurzsichtiger, direkter Weise dem menschlichen Nutzen unterordnet. Aber die Welt der Dinge erfährt erst ihre volle Freiheit und Tiefe, wenn sie in ihrer ursprünglichen, wesenhaften und zielhaften Richtung auf die Welt der Personen erfasst wird; denn es harret – um mit Paulus zu reden – die ganze Kreatur sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Herrlichkeit der Kinder Gottes, ja, sie selbst, die Kreatur, wird von der Knechtschaft der Vergänglichkeit (die ja auch in ihrem falschen Sichvergotten besteht) befreit werden zur Teilnahme an der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Röm 8,19.21).
Der Verantwortliche ist an den konkreten Nächsten in seiner konkreten Wirklichkeit gewiesen. Sein Verhalten liegt nicht von vornherein und ein für alle Mal, also prinzipiell, fest, sondern es entsteht mit der gegebenen Situation. Er hat kein absolut gültiges Prinzip zur Verfügung, das er fanatisch gegen jeden Widerstand der Wirklichkeit durchzuführen hätte, sondern er sucht das in der gegebenen Situation Notwendige, „Gebotene“, zu erfassen und zu tun. Die gegebene Situation für den Verantwortlichen ist nicht einfach der Stoff, dem er seine Idee, sein Programm aufzwingen, aufprägen wollte, sondern sie wird als die Tat mitgestaltend in das Handeln mit einbezogen. Nicht ein „absolut Gutes“ soll verwirklicht werden, vielmehr gehört es zu der Selbstbescheidung des verantwortlich Handelnden, ein relativ Besseres dem relativ Schlechteren vorzuziehen und zu erkennen, dass das „absolut Gute“ gerade das Schlechteste sein kann. Der Verantwortliche hat der Wirklichkeit nicht ein fremdes Gesetz aufzuzwingen, vielmehr ist das Handeln des Verantwortlichen im echten Sinne „wirklichkeitsgemäß“.
Dieser Begriff des Wirklichkeitsgemäßen bedarf allerdings der näheren Bestimmung. Gänzlich und gefährlich missverstanden wäre er als jene „servile Gesinnung vor dem Faktum“, von der Nietzsche spricht, die jeweils dem stärkeren Druck weicht, die den Erfolg prinzipiell rechtfertigt und das jeweils Opportune als das Wirklichkeitsgemäße wählte. „Wirklichkeitsgemäßheit“ in diesem Sinne wäre das Gegenteil von Verantwortlichkeit, nämlich Verantwortungslosigkeit. Ebenso wenig allerdings wie die Servilität gegenüber dem Faktischen kann prinzipieller Widerspruch, die prinzipielle Auflehnung gegen das Faktische im Namen irgendeiner höheren idealen Wirklichkeit, den echten Sinn der Wirklichkeitsgemäßheit erfüllen. Beide Extreme sind vom Wesen der Sache gleich weit entfernt. Anerkennung des Faktischen und Widerspruch gegen das Faktische sind im echten wirklichkeitsgemäßen Handeln unlösbar miteinander verbunden. Das hat seinen Grund darin, dass die Wirklichkeit zuerst und zuletzt nicht ein Neutrum, sondern der Wirkliche, nämlich der menschgewordene Gott ist. Alles Faktische erfährt von dem Wirklichen, dessen Name Jesus Christus heißt, seine letzte Begründung und seine letzte Aufhebung, seine Rechtfertigung und seinen letzten Widerspruch, sein letztes Ja und sein letztes Nein. Die Wirklichkeit ohne den Wirklichen verstehen zu wollen, bedeutet in einer Abstraktion leben, der der Verantwortliche niemals verfallen darf, bedeutet Vorbeileben an der Wirklichkeit, bedeutet endloses Schwanken zwischen den Extremen der Servilität und der Auflehnung gegenüber dem Faktischen. Gott wurde Mensch, er nahm den Menschen leibhaftig an und versöhnte so die Welt des Menschen mit Gott. Die Bejahung des Menschen und seiner Wirklichkeit geschah aufgrund der Annahme, nicht umgekehrt. Nicht weil der Mensch und seine Wirklichkeit der göttlichen Bejahung würdig gewesen wäre, hat Gott ihn angenommen, wurde Gott Mensch, sondern weil der Mensch und seine Wirklichkeit des göttlichen Neins würdig war, darum nahm ihn Gott an und bejahte ihn, indem er selbst leibhaftig Mensch wurde und so den Fluch des göttlichen Neins über das menschliche Wesen selbst auf sich nahm und erlitt. Von diesem Handeln Gottes her, von dem Wirklichen, von Jesus Christus her, empfängt nun die Wirklichkeit ihr Ja und ihr Nein, ihr Recht und ihre Schranke. Bejahung und Widerspruch verbinden sich nun im konkreten Handeln dessen, der den Wirklichen erkannt hat. Weder Bejahung noch Widerspruch kommen nun aus einer wirklichkeitsfremden Welt, einer Programmatik des Opportunen oder des Ideellen, sondern sie kommen aus der Wirklichkeit der Versöhnung der Welt mit Gott, wie sie in Christus geschehen ist. Weil in Jesus Christus, dem Wirklichen, die ganze Wirklichkeit aufgenommen und zusammengefasst ist, weil sie ihn zum Ursprung, Wesen und Ziel hat, darum ist nur in ihm und von ihm aus ein wirklichkeitsgemäßes Handeln möglich. Weder der pseudolutherische Christus, der allein dazu da ist, das Faktische zu sanktionieren, noch der radikal schwärmerische Christus, der jeden Umsturz segnen soll, sondern der menschgewordene Gott Jesus Christus, der den Menschen angenommen und mit ihm die Welt geliebt, gerichtet und versöhnt hat, ist der Ursprung wirklichkeitsgemäßen Handelns.
Daraus ergibt sich uns der Satz, dass christusgemäßes Handeln wirklichkeitsgemäßes Handeln ist. Dieser Satz ist keine ideale Forderung, sondern eine Aussage, die aus der Erkenntnis der Wirklichkeit selbst entspringt. Jesus Christus tritt nicht als ein Wirklichkeitsfremder der Wirklichkeit gegenüber, sondern er ist es, der allein das Wesen des Wirklichen am eigenen Leibe trug und erfuhr, der aus dem Wirklichen heraus redete wie kein Mensch auf Erden, der als einziger keiner Ideologie verfallen ist, sondern der Wirkliche schlechthin ist, der das Wesen der Geschichte in sich getragen und erfüllt hat und in dem das Lebensgesetz der Geschichte verkörpert ist. Weil er als der Wirkliche Ursprung, Wesen und Ziel alles Wirklichen ist, darum ist er selbst der Herr und das Gesetz des Wirklichen. Das Wort [urspr. „Die Worte“] Jesu Christi ist also die Auslegung seiner Existenz und damit die Auslegung jener Wirklichkeit, in der die Geschichte zu ihrer Erfüllung kommt. Sie sind göttliches Gebot für das verantwortliche Handeln in der Geschichte, insofern als sie die in Christus erfüllte Wirklichkeit der Geschichte, die in Christus allein erfüllte Verantwortung für den Menschen, sind. Sie gelten also nicht in einer abstrakten Ethik – dort sind sie völlig unverständlich und führen zu nie zu lösenden Konflikten –, sondern sie gelten in der Wirklichkeit der Geschichte, weil sie aus ihr herkommen. Jeder Versuch, sie aus diesem Ursprung zu lösen, verzerrt sie zu einer schwachen Ideologie und raubt ihnen ihre wirklichkeitsbezwingende Macht, die sie in der Verbindung mit ihrem Ursprung haben.
Wirklichkeitsgemäß ist das christusgemäße Handeln, weil es die Welt Welt sein lässt, weil es mit der Welt als Welt rechnet und doch niemals aus den Augen lässt, dass die Welt in Jesus Christus von Gott geliebt, gerichtet und versöhnt ist. Damit wird nicht ein „weltliches Prinzip“ einem „christlichen Prinzip“ gegenübergestellt. Dieses Bemühen vielmehr, Christus und die Welt wenigstens unter dem Begriff eines Prinzips kommensurabel zu machen und auf diese Weise ein christliches Handeln in der Welt prinzipiell zu ermöglichen, führt in den Gestalten des Säkularismus beziehungsweise der Lehre von den „Eigengesetzlichkeiten“ auf der ei...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Zu dieser Ausgabe
  6. Einführung von Peter Zimmerling
  7. Christus, die Wirklichkeit und das Gute. Christus, Kirche und Welt
  8. Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate. Das Gebot Gottes in der Kirche
  9. Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung
  10. Die letzten und die vorletzten Dinge
  11. Das natürliche Leben
  12. Die Geschichte und das Gute
  13. Kirche und Welt
  14. Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt
  15. Anmerkungen