Der unterbrochene Wald
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Der unterbrochene Wald

Erzählung

  1. 133 Seiten
  2. German
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Der unterbrochene Wald

Erzählung

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Über dieses Buch

Geprägt vom Gefühl existentieller Ortlosigkeit und geschützt vor äußerer Gefahr: Georges-Arthur Goldschmidt über seinen ganz persönlichen Kampf ums Überleben.In seinen Büchern vertraut sich Georges-Arthur Goldschmidt inneren Bildern an: Er erinnert sich an seine frühe Jugend, die er in einem französischen Internat in den Savoyen durchlebte – geborgen vor großer äußerer Gefahr, doch den Strafritualen der Anstalt und den Quälereien der Mitschüler vollkommen ausgeliefert. Diese Erfahrungen verbinden sich mit der Entdeckung des eigenen Körpers. Ist er Opfer einer aggressiven Gemeinschaft? Ausgestoßener durch seine Herkunft?»Der unterbrochene Wald« erzählt von der Flucht des Jungen vor den Deutschen, davon, wie es ihm gelingt, sich bei Bergbauern zu verstecken. Und er erzählt von einem Besuch in seinem Heimathaus bei Hamburg, 1949, von der ahnungslosen Begriffsstutzigkeit der Nachkriegsdeutschen. Hier erinnert er sich an eine Geschichte, die er einst von seinem Vater erfuhr, über einen Gedenkstein im Wald, der an einen dort erschlagenen jüdischen Hausierer mahnt. Eine Warnung? All diese Fäden verknüpft der Autor zu einem kunstvoll verdichteten Gewebe, ohne Scham, ohne sich selbst zu schonen, ohne falsche Nachsicht – und voller poetischer Aufrichtigkeit.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783835348653

IV

Die Kirche von Romainville, deren flache Fassade überragt wird von einem kleinen, viereckigen Turm, steht in einer weiten Mulde, deren eine Flanke ein gepflasterter Friedhof einnimmt, gespickt mit Zementplatten. Auf der anderen Flanke, von welcher sich zunächst nur das Laubwerk bemerkbar macht, ist ein öffentlicher Park. Ganz oben dort bildet ein langer, mit Bäumen, deren Äste einander durchdringen, gesäumter Steg den Kamm zum Plateau, welches weit hinten ausläuft in Busch- und Niemandsland.
Die Vorstadtgegend erstreckt sich nach Nordwesten, eingefaßt von aufrecht stehenden Wolken, malvendunkel, durchzogen von Gelb: Diese befinden sich vielleicht schon überm Meer. Zur einen Seite geht der Steg über in einen Tennisplatz. Dessen halbkreisförmiges, weißes, durchscheinendes Dach zeigt sich bei Einbruch des Abends von innen beleuchtet. Derart scheint da eine lautlose Sonne allmählich im Erdreich zu versinken. Erinnerung an Kitzeberg an der Kieler Förde, gegenüber der Brücke von Holtenau, ein schwarzer Umriß vor der sich rötenden Sonne, unter welcher die Frachtschiffe aus dem Baltikum einlaufen. Erinnerung auch an die Abende der Unruhe, wenn das Licht sich brach an der senkrechten Felswand der Aiguilles-Croches. Jahrzehnte später, und immer noch das Hungergefühl aus dem Krieg, mit den gleichen Bergzinnen da vor ihm; er hatte nur noch an Essen gedacht. Taumelig war man vor Hunger. Man legte sich in das Gras, stieß vor mit zwei Fingern, trennte die Kleeblüten von den Stengeln und ballte sie in der andern Hand. Der Mund füllte sich mit dem leichten, lauen Zeug, das nur scheinbar den Hunger stillte.
An jenem Tag hatte er sich hinsetzen müssen, so grell war das Licht erschienen, die Aiguilles-Croches drehten sich gleichsam um ihn, Herbst 1943; nicht aus dem Kopf ging ihm die längliche, braunrote Speise, an den Seiten schwarz ausgefranst von dem zu engen Herd. Die Oberfläche der Speise bestand aus einer Makkaronikruste, deren Farbe von Gelb in ein dunkles Braun spielte. Und unter diesem Gratin befand sich die zugleich kompakte und leichte Masse der Nudeln, in kleinen Flocken das Eigelb daruntergemischt.
Seit Jahren schon hatte er nicht mehr davon gegessen. Tief in sich spürte er etwas Hohles, das nicht von ihm ließ, es trieb ihn, das Mundinnere sich rundum mit Bissen von Nudeln zu füllen. Er schloß die Augen und stellte sich den weichen, dabei festen Stoff vor, mit den harten Krustenstücken dazwischen, knusprig und fein. Den Mund voll zu haben, seinen Körper konzentriert zu fühlen rund um den vollen Gaumen, nichts mehr als das zu sein, dieser mächtige und saftige Bissen, sich zu nähren, sich zu sättigen, während um ihn herum der Wind durch die Weite der Landschaft bläst.
Es war einige Tage danach, daß die Deutschen ihn suchen kamen. Am gleichen Abend noch war er, trocken und aufgewärmt, ins Versteck zu den Socquets in Les Pettoreaux geschickt worden, er hatte im Heuhäcksler geschlafen, in Reichweite der Kuhmäuler, die Deutschen kämen da nicht hin. Am nächsten Morgen hatte er sich in La Livraz verstecken müssen, und dort sollte er bleiben. Er hätte, so wurde ihm gesagt, in dem Unterschlupf zu bleiben, so lang wie möglich. Von einem Hügel aus sah er La Livraz, einen Hof am Ende einer kleinen Mulde. Ein Weg führte dahin, eine helle Rille in der grünen Fläche, eine Miniaturlandschaft eigens für ihn, so als gäbe es rundherum keine Berge.
Man hieß ihn, sich auf die Holzbank zu setzen vor dem kleinen quadratischen Fenster, das auf den Felsen ging, wo in den Ritzen das Gras wuchs. Schnell gewöhnte er sich an das Halbdunkel der Küche. Er aß gebackene Kartoffeln, mit brauner harter Kruste, dahinter das hellgelbe, süße Fleisch. Erstmals seit Jahren konnte er essen, soviel er wollte, das so oft erträumte Vergnügen an dem vollen Mund haben, im Wissen, er durfte noch mehr nehmen. Die Kartoffeln bildeten auf seinem Teller einen kleinen Haufen, zwei oder drei übereinander, daran lehnte eine vierte.
Durch die hellgrün bemalte Holzwand ging eine Klinkentür auf einen sehr langen und hellen Raum mit niedriger Decke, mit einem Boden aus Brettern von Baumlänge. Zwei Fenster. Zu beiden Seiten des Zimmers Alkoven, mit vorgezogenen Vorhängen, rot auf der einen und grün auf der anderen Seite, mit einem Faltenwurf wie bei den Gewändern auf alten Gemälden. Die Eltern schliefen hinter dem einen, die beiden Mädchen hinter dem andern.
Zwischen den beiden Fenstern ein rechteckiger Tisch mit einem Wachstuch. Bei schönem Wetter konnte man sich da auch von draußen aufstützen. Mehrere Monate lebte er dort, und während er alle Erbauungsliteratur las, bis zum Martyrium der Missionare in China, hörte er die Kühe in dem warmen dunklen Stall, von dem er bloß durch eine Holzwand und eine niedrige Tür getrennt war. Eine stille Düsternis herrschte da, man fühlte sich stark und in Sicherheit, geschützt von jenen warmen und seidigen Kruppen.
Sein Zimmer befand sich im andern Bereich des Hauses, fast schon anderswo, in einer derart entgegengesetzten Achse, daß es zu einem andern Hof zu gehören schien. Sehr lang war es; von den Holzbalken hingen Pflanzen zum Trocknen, auch Schinken. Er schlief hier in einem Bett hoch wie ein Schiff, auf einem Strohsack.
Er fühlte sich wohl in diesem Zimmer, welches gleichsam der Außenwelt abgewonnen schien, verlängert noch von einem hölzernen Flur, der Verbindung von Küche und Eingang. Wie in einer grauen Kiste fühlte man sich darin, erreichbar von seinem Zimmer durch eine überkleine Tür aus einem Stück, nur gebückt zu durchschreiten. Gegenüber befand sich die Abstellkammer: ein sonst nicht mehr benutzter Raum, wo die Sachen der verstorbenen Eltern und die ausgedienten Geräte aufbewahrt wurden, die Hochzeitskleider und -kronen, die Perlengirlanden. Das Fenster, winzig und verstellt, ließ ein Licht durch, das allein die Säume der Gegenstände hervorhob; und diese zeigten sich in einer seltsamen Starre, befangen in einer Unbeweglichkeit, die mit ihnen eins geworden war.
Bisweilen stand er reglos in diesem engen Flur, und das Haus entfaltete sich vor ihm; die Dachspreize wuchtend wie eine gewaltige Hand, und der Umriß der niedrigen dicken Mauern sich abzeichnend in seinem Innern.
Jeden Morgen erwarteten ihn Überraschungen: eine Fichte schlagen an einem Hang, den er nicht kannte; Miststreuen, Kühehüten. Er war stolz, zwischen den Feldern auf einem mit sich geschleppten Hocker zu sitzen. Die wenigen Touristen hielten ihn für einen vom Land.
Allmählich aber war in ihm wieder die Unruhe aufgekommen, leicht, ihn überfliegend, ohne Unterlaß suchte das Auge nach möglichen Schlupfwinkeln, und er beneidete die andern darum, daß sie nicht er waren. Der trübe scharfe Regen fiel wieder, der Bergregen, dicht auf dicht wie Eggenzähne, während er die Kühe hütete unter einem großen, in den Boden gepflanzten Schirm. Manchmal, wenn die Wolken auseinanderwichen, zeigte sich, dunkel, in allen Einzelheiten, ein Felssporn der Aiguilles-Croches, eine Wand mit großen finsteren Schuttstellen wie bei einem alten Haus, und schon zog der Nebel sich wieder zusammen, und die Angst stieg in ihm auf, entdeckt zu werden.
Sehr schnell hatte es zu schneien angefangen, eher ein kleines, lebhaftes Gegraupel, unaufhörlich, regelmäßig, Tag für Tag. Inmitten des formlosen, blendenden Weiß hatten sich die Gegenstände verdüstert, gleichsam allein mit ihren Farben. Die Wärme stieß vor in den Winter, und aus dem Haus zu gehen, hinein in den tiefen Schnee, keinen Boden mehr unter sich zu spüren, das schuf bei der Rückkehr um so mehr die Empfindung von jenem warmen Würfel, in welchem man sich seltsam geborgen fühlte. Niemand würde ihn finden. Der Schnee war da wie auf Dauer, er hatte Form angenommen. Von Zeit zu Zeit tauchte am rechten Horizont ein Schifahrer auf und stoppte erstaunt. Er brauchte lange, den Hügel zu umkurven, und erschien wieder am Ende der kleinen Fläche, wo der Bauernhof lag. Der Weg hob sich ab vom Schnee wie ein Strich auf einem Papier.
Er war es, der sie als erster kommen sah, auf Schiern, wie sie sich kurz abstießen mit ihren Stöcken, in einer Reihe verschwanden, nacheinander hinter der Anhöhe, wie in Zeitlupe, dann immer schärfer Gestalt annehmend. Sofort hatte er gewußt, daß es die Deutschen waren. Er ging ins Haus zurück, die Beine angststeif. Er fühlte sie unter sich, als gehörten sie nicht zu ihm.
»Die Deutschen kommen!«, sagte er mit ruhiger Stimme zum Bauern, welcher dastand, zu groß für den niedrigen Raum. »Versteck dich, hinauf ins Heu!« Alles zeichnete sich klar vor ihm ab, ihm entging auch nicht das kleinste Astloch im Bettgestell. Die Dinge blieben unverändert, als ob nichts wäre. Über die schmale Leiter stieg er durch eine viereckige Luke in den Heuspeicher; hinter den dicken Brettern war dann alles verschwunden. Das Heu türmte sich auf in weichen feinen tief gestaffelten Gebirgen, Armvoll um Armvoll. Trocken und süß stieg das Heu auf gleich einem Haarschopf. Er schloß die Klappe und legte sich hin; das Heu durfte nicht knistern. Instinktiv wußte er, was seine Anwesenheit verraten hätte, so als wäre er seit jeher schon verfolgt gewesen, so als kämen ihm mit einem Schlag alle die Listen der Angst wieder in den Sinn.
Durch die Spalten der Holzwand sah er die Deutschen hintereinander stehenbleiben, sie wendeten sich allesamt dem Bauernhof zu, er unterschied ihre Gesichter, zwischendurch drehte einer von ihnen seine Schistöcke oder nahm sie zusammen in eine Hand, um die andre in die Tasche zu stecken oder sich das Gesicht zu kratzen. Zwei von ihnen lösten sich und fuhren geradewegs auf den Hof zu. Einmal war die Spitze des einen Schis vorn, dann die des andern. Er fühlte nicht die Kälte, nur die Massigkeit der Luft rings um den Mund, wie ein rundes Rohr, an dessen Ende regelmäßig sein Herz schlug, schnell, hörbar. Die Angst stieß ihn nach vorn, zwang ihn auf alle viere, verwandelte ihn zurück in ein Tier.
Die beiden Soldaten waren im Haus verschwunden. Sie sprachen, und die Stimme des Bauern antwortete, respektvoll und deutlich, umgeben vom Schweigen der übrigen. »Butter, Eier, Käse, wir kaufen.« – »Selbstverständlich, selbstverständlich!«
Das geringste Geräusch ließ sich hören, das Messer, mit dem die Bäuerin den Käse schnitt, die Zeitung, in die sie die Eier wickelte, die kleine Tür zum Keller, wo die Butter lag: der Granitboden, der Felsen von draußen eingeschlossen ins Innere, auf den kein Licht mehr fiel, ein Stück Landschaft in einem Haus.
Er sah die zwei wieder abfahren, einen hinter dem andern, wie stolz hätte es ihn gemacht, sich mit ihnen zu unterhalten, er spürte geradezu in seinem Mund die etwas rundliche Konsistenz seiner Muttersprache, ihre Art, die Wortwinkel auszufüllen, daraufzuliegen wie ein schräges Brett auf einer Luke, was auch immer darunter wäre, würde wiederaufsteigen, die Stimmen, die Bäume.
Von dieser Stunde an war er damit beschäftigt, den Horizont auszuspähen, den nahen Punkt, wo der Weg hinter der Anhöhe verschwand. Es war nur eine Finte gewesen, sie kämen wieder, auf der Suche nach ihm, sie hatten nur einmal vorspüren wollen.
Jeden Dienstag kamen sie, einer hinter dem andern, zu fünfzehn, wovon zwei sich lösten, sooft er unter dem Dach wartete, wie bis zur Körpermitte in der Schwebe, vor Angst, mit Neid auf die Dinge, welche nicht er sein mußten, und jedesmal sprachen sie mit lauten, durch die Bretter dröhnenden Stimmen: »Keese, Putter, Aia«, und der Bauer händigte sie ihnen aus, rasch, dienstfertig. Das Zeitungspapier, das er zum Einwickeln benutzte, folgte, das war zu hören, dem ersten Handgriff, riß nicht; umwickelte ein für allemal. Und es war seinetwegen, daß die Gesten des Bauern so strikt, so eingeübt kamen. Seinetwegen setzte er sein Leben aufs Spiel. Er lag in seinem Heu und mußte beinah lachen.
Dann, eines schönen Tages, kamen sie nicht mehr, dabei war der Winter trocken gewesen, der Himmel blau, sehr hoch, eine Kälte mit klaren, widerhallenden Geräuschen; die Finger blieben haften am Metall. Er entkleidete sich in der Küche. Er stellte sich mit nacktem Oberkörper neben den Herd und schlüpfte in sein Nachthemd, worunter er seine übrigen Sachen auszog, so als sei er ein Fremder, als gehörten sie nicht zu ihm. Die Türen wurden ihm geöffnet, und er rannte so schnell wie möglich, augenblicks erfaßt von einem so wilden Frosthauch, daß er kaum Luft bekam. Unter der Decke sank er auf der Stelle in einen solch tiefen Schlaf, daß es ihm beim Erwachen, am hellichten Tag, vorkam, er sei noch gar nicht eingeschlummert.
Der Frost war so stark, daß der kleinste Abdruck, glatt, glänzend, mit allen Einzelheiten in dem Schnee blieb, gläsern. Die Schritte schallten, knirschten, man ging dahin wie erhöht, die Füße gleichsam ohne Berührung mit der Erde.
Der Mond warf ein kreisförmiges Licht auf das Tal, darin schienen die Berge herabzusteigen, alles war sehr licht und sehr dunkel zugleich; unter den Balustraden der Bauernhäuser lastete die Nacht, finster.
Trotz der Anwesenheit der Deutschen unten im Dorf – so weit war dieses, daß man gerade nur die Richtung erahnte –, wurde er an dem folgenden Abend zu den Nachbarn gebracht; fünf schwarze Punkte, sich bewegend auf dem Schnee, einer hinter dem andern.
Drinnen in dem Haus die vereinzelten kleinen Stimmen, umschlossen von all dem riesenhaften Draußen. Freundschaftlich wurde er aufgenommen, auf einen Stuhl in der Mitte geladen, und es war, als kennte er jeden hier: Sie waren auf ihm vertrauten Wegen gegangen. Es wurde die Geschichte jenes jungen Mädchens erzählt, welches an einem ähnlichen Abend auf Grund einer Wette losging, einen Stock in ein frisches Grab zu pflanzen. Sie glaubte nicht an Gespenster, sie hatte keine Angst vor den Toten. Ein, zwei, dann drei Stunden wurde auf ihre Rückkehr vom dabei nahen Friedhof gewartet. Sie wurde tot aufgefunden, vornübergestürzt, bäuchlings auf dem Stock, den sie in das frischaufgeworfene Erdreich gepflanzt hatte. Um mehr Spielraum zu haben, hatte sie sich wohl auf das Grab gekniet und dabei mit den beiden Händen den Stock zwischen ihren Kleidsaum gebohrt; und so war sie gestorben vor Entsetzen, im Glauben, der Tod zöge sie.
Gern wäre er einer von ihnen gewesen, auch er im Besitze von sichtbaren Geschichten, gern hätte er sich in der Gemeinschaft jenes »Erinnerst du dich?« oder »Du hast ihn ja gekannt!« gefühlt. Er, er hatte nichts zu erzählen, nichts ging von ihm aus, nichts geschah mit ihm. Vielleicht war das der Grund, daß er gesucht wurde, daß die Deutschen ihn mitnehmen wollten: Nichts ging von ihm aus, er ließ keine Spur. Er war zu nichts nutze. Die Orte waren für ihn, wie für Waisen, inhaltslos. Ebenso hätte er nicht dort sein können. Niemand hätte es bemerkt.
Ein- oder zweimal waren die Deutschen wiedergekommen, und in dem Heu, über dem Wohnzimmer, schlug ihm sein Herz bis in die Lippen hinein. Vielleicht könnten die Planken ihn retten, er brauchte nur eine von ihnen zu werden, durchzogen von Adern, ausgehöhlt von der Witterung, etwas Graues, Aufrechtes, geduldig, unbeweglich: ein Möbelstück sein, rund oder eckig, massiv, unschuldig, glatt, wenn auch immer zur Verfügung, als Stütze, als Sitz. Jedesmal dieser seltsame Schauder, wenn die Wärme der Stühle ihn umschloß.
Sich wiederholendes Bild: er als gelehriges, regloses Objekt, nichts als die Gesten der anderen, eine Innenexistenz, eingeschlossen in einer warmen Sanftheit. Als Umkleidung der Eisenbahn-Bremskabel reiste er, völlig in Sicherheit, durch die stillen Landschaften, länglicher Holzwürfel an der Rückwand der Waggons, das Dach überragend, und so sähe er die Gegend an sich vorbeiziehen: Nichts sonst wäre er als jenes Gehäuse, außen braun gestrichen, vergilbt im Innern, eine kleine vertikale Masse, reglos inmitten des Dahinrollens. Nichts hätte ihm zustoßen können, Vertrauen hätte er ausgestrahlt, der Zug hätte sich seinen Weg durch die Menge gebahnt, und er, ganz zuhinterst, hätte seine horizontale Kurbel gedreht, um die Bremse anzuziehen.
In einem fort traf sein Blick auf neue Zwischenräume, Lücken, Hohlstellen, wo er hätte hineinschlüpfen können. Er brauchte bloß mit ihnen zusammenzupassen und wäre, bei den Wänden und Mauern dort, in Sicherheit, zwischen zwei Steinen, lebenslang so reduziert, in einem winzigen, unsichtbaren Zimmer, hätte er gelebt wie in dem Ohr des Pferdes.
Er fand vergilbte Heftstapel der Missionare von Notre-Dame de la Salette und vom Pilger. Die Stapel waren ein wenig gebauscht, mit Höhlen, mit Schwellungen, nahm man eines der Hefte, so wiederholte das darunter seine Form.
Er las die frommen Anekdoten und sah sich die grünen und nackten Flanken des Salette-Gebirges hinaufklettern, einige der Berge hatten die Gestalt eines Dachs, grasbedeckt, ohne einen einzigen Baum, auf einem ragte ganz oben die Kirche empor, wie bestimmt für einen anderen Ort.
Manchmal waren es auch Erzählungen von China oder Afrika, Geschichten vom Foltertod der Missionare, sehr weit weg. Wenn er las, empfand er Scham, ge...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. I
  6. II
  7. III
  8. IV
  9. V
  10. VI
  11. VII
  12. VIII
  13. IX
  14. X
  15. Das Land der stillen Rettung. Ein Nachwort in deutscher Sprache
  16. Anmerkungen