Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat
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Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat

Eine Biographie

  1. 256 Seiten
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Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat

Eine Biographie

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Wie wurde aus dem Kosmopoliten und assimilierten europäischen Juden der wichtigste Anführer der zionistischen Bewegung?Theodor Herzl (1860-1904) ist als Begründer des politischen Zionismus weltberühmt geworden. Dennoch wirft sein kurzes Leben viele Fragen auf: Wie konnte er gleichzeitig Künstler und Staatsmann sein, Rationalist und Ästhet, strenger Moralist und doch getrieben von tiefen, manchmal dunklen, Leidenschaften? Und warum wurde er von so vielen – auch traditionellen – Juden als Führungsfigur verehrt?Anhand eines umfangreichen Korpus der privaten, literarischenund politischen Schriften zeigt Derek Penslar, dass Herzls Weg zum Zionismus nicht nur vom grassierenden Antisemitismus angetrieben wurde, sondern sich auch aus persönlichen Krisen erklärt. Einmal dem Zionismus verschrieben, zeichnete sich Herzl als vollendete Führungspersönlichkeit aus – voller unermüdlicher Energie, organisatorischem Geschick und mitreißendem Charisma. Er wurde zu einer Projektionsfläche für viele Juden seiner Zeit, für ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783835348783

Kapitel 1

Einleitung

Theodor Herzls Leben (1860–1904) war ebenso erstaunlich wie kurz. Wie wurde aus diesem Kosmopoliten und assimilierten europäischen Juden der Anführer der zionistischen Bewegung? Wie konnte er gleichzeitig Künstler und Staatsmann, Rationalist und Ästhet, strenger Moralist und doch von tiefen, bisweilen gar abgründigen Leidenschaften besessen sein? Und warum begrüßten Zigtausende von Juden, darunter unzählige mit einem traditionellen, frommen Hintergrund, Herzl als ihren Führer? Dieses Buch versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben.
Herzls Leben veranschaulicht, dass politische Führer von ihrer Gefolgschaft abhängig sind und auf sie Rücksicht nehmen müssen. Das Buch untersucht Herzls Persönlichkeit, illustriert aber auch, wie er von anderen wahrgenommen wurde und wie diese Wahrnehmungen wiederum auf sein Selbstgefühl wirkten. Die Geschichtstheorie eines »großen Mannes« meide ich bewusst, gerade weil diese Herangehensweise nicht die Geheimnisse von Herzls Größe enthüllt.
Mein Werk ist das jüngste in einer langen Reihe von Herzl-Biographien. Manche haben ihn als überlebensgroße Lichtgestalt, einen Propheten und Märtyrer für sein Volk oder als bedeutende Figur in der Geschichte jüdischen politischen Denkens beschrieben. Andere haben einen dezidiert kritischen Ton angeschlagen und sich auf Herzls psychische Leiden, gestörte Familienverhältnisse und Rivalitäten mit anderen Zionisten konzentriert.[1] Aus all diesen Büchern habe ich viel gelernt, aber ich habe einen anderen Ansatz gewählt, der die Hagiographie ebenso wie die Dekonstruktion der Person vermeidet. Ich betrachte Herzl nicht als großen Denker, sondern als großen Führer, und ich lese seine zionistischen Schriften als Manifeste, nicht als Traktate – als Aufrufe zum Handeln, nicht als theoretische Diskurse. Herzl war ein zutiefst beunruhigter Mensch, und diese Sorgen erklären sicher nicht zuletzt, weshalb er sich dem Zionismus zuwandte, aber Herzls innere Dämonen beantworten eben nicht die Frage, wie und weshalb es ihm gelang, die Massen anzusprechen und die jüdische Welt zu verändern. Herzl stellte für verschiedene Leute etwas völlig Anderes dar: wie ein Bildschirm, auf den Juden ihre jeweiligen Sehnsüchte und Hoffnungen projizierten. Herzls Status als assimilierter Jude, der zu seinem Volk zurückkehrte, zugleich Zugehöriger und Außenseiter innerhalb der europäischen ebenso wie der jüdischen Gesellschaft, steigerte noch seine Anziehungskraft auf die jüdischen Massen. Zu guter Letzt besaß er ein elektrifizierendes Charisma.
Die frühe zionistische Bewegung war besonders stark auf eine charismatische Führung angewiesen, weil sie klein, schwach und verstreut war und über keinerlei strukturelle Schirmherrschaft oder Sanktionsmöglichkeiten verfügte. Herzl hatte seinen Anhängern nur die nackte Hoffnung anzubieten – und nichts als Vertrauen, um sich ihre Unterstützung zu bewahren. Herzl besaß ein beeindruckendes Charisma, und er war sich seiner Macht durchaus bewusst. Aber Charisma ist kulturell bedingt. Wäre Herzl in eine andere Ära oder auf einen anderen Kontinent geraten, dann hätte er womöglich überhaupt nicht charismatisch gewirkt. Unter anderen Rahmenbedingungen wäre er möglicherweise nicht mehr als ein fanatischer Halb-Intellektueller gewesen, der viel Zeit in Kaffeehäusern verbrachte und eifrig Notizen in sein Tagebuch kritzelte.
Neben der Aufmerksamkeit für den kulturellen Kontext hebe ich auch Herzls starken Willen und sein Talent zur Selbstinszenierung hervor. Seine provokativen, ausgefallenen und bisweilen empörenden politischen Reden und Aktionen waren sorgsam inszeniert. In dieser Hinsicht kann Herzl mit einem anderen großen Anführer jüdischer Herkunft verglichen werden: Benjamin Disraeli, dessen Anspruch auf die Führungsrolle des englischen Adels sogar noch haltloser und wagemutiger war als Herzls Ambition, der selbsternannte Wächter des jüdischen Volkes zu sein.
Die vorliegende Biografie konzentriert sich auf drei miteinander verflochtene Themen: Herzls Innenleben, seine Beziehung zur zionistischen Bewegung und seine Stellung in der Welt als professioneller Reporter und amateurhafter Staatsmann.
Das erste Thema bringt unweigerlich Herzls psychische Instabilität zur Sprache. Er litt an periodischen Anfällen von Depression und unberechenbaren Stimmungsumschwüngen. Er war egozentrisch und von Zweifeln geplagt. Distanziert und zurückhaltend wie er war, hatte Herzl nur wenige Freunde, und er führte keine einzige gesunde Liebesbeziehung. Seine Ehe war beklagenswert, er war ein abwesender Vater und alle drei Kinder litten unter psychischen Störungen. Herzls Hagiographen haben diese Themen stets umschifft oder bemäntelt, seine Kritiker hingegen haben sich darin gesuhlt. Ich habe jedoch die Absicht, weder das eine noch das andere zu tun. Vielmehr möchte ich zeigen, wie Herzls psychisches Leiden seine politische Leidenschaft schürte. Herzl brauchte unbedingt ein Projekt, um sein Leben mit Sinn zu erfüllen und die Finsternis seiner Depressionen in Schach zu halten. Der Zionismus war dieses Projekt, das ihn eindämmte, stützte und inspirierte. Von einer erstaunlichen Arbeitsmoral getrieben, ließ Herzl jedes Gramm seiner enormen Energie in seine zionistischen Aktivitäten fließen, die ihn physisch und psychisch erschöpften und zu seinem frühen Tod beitrugen.
In seinem Buch A First-Rate Madness schreibt der Psychiater Nassir Ghaemi, dass viele große politische Führer der neueren Geschichte unter psychischen Störungen gelitten hätten. Indem er Persönlichkeiten wie Abraham Lincoln, Winston Churchill, Mahatma Gandhi und Martin Luther King Jr. analysiert, schildert er deren Ringen mit Ängsten und Depressionen bis hin zu Selbstmordversuchen (wie im Fall Gandhis und Kings). Eine schwere Depression entzieht zwar dem Körper Kraft, doch bei milderen Verläufen kann sie einen Sinn für Realismus und die Fähigkeit zur Widerstandskraft und Empathie verleihen. Diese Führer hatten darüber hinaus einen Hang zur Hyperthymie, einem Überschwang der Gefühle, der beinahe einer manischen Psychose gleichkommt und unter Umständen Energie, Kreativität und charismatische Anziehungskraft erzeugt.
Ich bin kein Psychotherapeut, und hier wird keineswegs der Versuch unternommen, Herzl noch postum zu diagnostizieren. Ich habe versucht, Herzl durch seine eigenen Augen zu verstehen, indem ich mich auf seine eigenen Aussagen und die der Menschen stütze, die ihn kannten. Aber auch ohne die sichere Diagnose, dass Herzl unter einer, wie man heute sagen würde, Gemüts- oder Persönlichkeitsstörung litt, ist gut dokumentiert (in erster Linie durch Herzl selbst), dass er häufig zwischen Depressionen und manischer Erregung hin und her schwankte. Darüber hinaus trifft Ghaemis Hauptthese allem Anschein nach außerordentlich gut auf Herzl zu: »Unsere größten Führer rackern sich in Krisen traurig ab, während die Gesellschaft glücklich ist. … Mal sind sie aufgedreht, mal niedergeschlagen, aber es geht ihnen nie richtig gut. Doch sobald ein Unglück eintritt, dann richten sie, sofern sie in einer geeigneten Position sind, den Rest von uns auf, sie sind imstande, uns den Mut zu geben, den wir zeitweilig womöglich verloren haben, die Stärke, die uns festigt.«[2]
Sowohl in seinen depressiven Neigungen als auch in seiner Anlage zur Größe ähnelt Herzl stark einem anderen Führer der neueren Geschichte: Winston Churchill. In einem klassischen Aufsatz mit dem Titel »Churchill’s Black Dog« merkt Anthony Storr an, dass Churchill, »wenn er ein stabiler und ausgeglichener Mann gewesen wäre, niemals die Nation hätte inspirieren können«. Churchills Triumph im Jahr 1940 trat, genau wie Herzls im Jahr 1896, nur deshalb ein, weil er »sein Leben lang einen Kampf gegen seine eigene Verzweiflung geführt hatte, der es ihm ermöglichte, anderen die Botschaft zu vermitteln, dass Verzweiflung überwunden werden kann«. Beide Männer schwankten zwischen Selbstverachtung und -verherrlichung: Churchill schrieb sicher auch ganz im Sinne Herzls, als er behauptete: »Wir sind alle Würmer. Aber ich glaube, dass ich ein Glühwurm bin.«[3]
Bei Menschen wie Herzl und Churchill geht der Anspruch auf politische Führung auf etwas Tieferes als das Streben nach Macht oder materiellem Gewinn zurück. Vielmehr ist der Glaube an die eigene heroische Mission Ausdruck eines tiefsitzenden psychischen Bedürfnisses. Doch der Möchtegern-Held kann seine Größe ohne eine Anhängerschaft nicht verwirklichen. Diese Beobachtung führt zum zweiten Thema des Buches: dass die zionistische Bewegung Herzl ebenso sehr brauchte, wie Herzl sie brauchte, und dass Herzls Charisma ebenso sehr von seinem Innersten ausging wie es von außen konstruiert wurde.
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird »Charisma« mit Charme, Anziehung und Sexappeal assoziiert, aber nach dem Soziologen Max Weber sind wirklich charismatische Menschen per definitionem politische oder religiöse Führer, keine Schauspieler, und sie ziehen Anhänger an, nicht Fans. Weber nennt Charisma »eine als außeralltäglich … geltende Qualität einer Person [des charismatischen Führers] …, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] … gewertet wird«.[4] Charismatische Autorität behauptet sich erst in Zeiten kollektiver Bedrängnis und in Umgebungen, wo traditionelle oder bürokratisch-staatliche Machtstrukturen schwach oder überhaupt nicht vorhanden sind. Der charismatische Führer reagiert nicht nur auf die Erwartungen der Menschen, sondern richtet sie auf, bringt sie dazu, auf etwas zu hoffen, das sie andernfalls für unmöglich gehalten hätten. Der oder die Charismatische lindert die Sorgen der Ängstlichen, steigert das Selbstwertgefühl der Unterdrückten und kanalisiert ihren Zorn zu einem zielgerichteten, kollektiven Handeln.
Herzl passt perfekt in das Schema eines charismatischen Führers. Die zionistische Bewegung kam zu einer Zeit auf, als die traditionelle Autorität der Rabbiner abnahm und der moderne Staat es versäumt hatte, die physische Sicherheit und das psychische Wohl großer Teile des europäischen Judentums zu schützen. Herzl kam von außerhalb der traditionellen jüdischen Machtzentren: dem Rabbinat und der jüdischen Finanzelite. Er beanspruchte eine Vollmacht dafür, als Akteur im Namen des gesamten jüdischen Volkes zu handeln, und schuf die zionistische Organisation mit sich als selbsternanntem Oberhaupt. Eine Option, ihn abzuberufen, war nicht vorgesehen. Er griff die Sehnsüchte der Juden auf und vertrat sie durch die jährliche Einberufung von Zionistenkongressen, die Herzls Stellvertreter, der berühmte Schriftsteller Max Nordau, einmal leidenschaftlich als »bevollmächtigte[n], rechtmäßige[n] Vertreter des jüdischen Volkes« bezeichnete – sozusagen das autonome Parlament des jüdischen Risorgimento.[5]
Herzls Charisma äußerte sich in einem imposanten Auftreten, seiner Baritonstimme sowie einem eloquenten Deutsch und, vor allem, in seinem einnehmenden Äußeren. In einem Aufsatz von 1937 mit dem Titel »Wie hat Herzl ausgesehen?« schreibt Samuel Bettelheim über Herzls Gesicht, es vereine Züge eines englischen Lords und eines osteuropäischen Rabbis »mit seiner jerusalemitischen Glorie«. Der erste Zionistenkongress hätte, so Bettelheim, wohl kaum Einfluss genommen, wenn auf dem Stuhl des Vorsitzenden nicht ein Mann gesessen hätte, der nicht weniger als »ein Mirakel« gewesen sei, »als ob König Salomon seinem Grabe entstiegen wäre, weil er das Leid seines Volkes und seine Erniedrigung nicht länger ertragen konnte«.[6] Viele Beobachter waren von Herzls »assyrischem« Bart fasziniert, der ihm das Aussehen eines semitischen Monarchen verlieh. Der Künstler Ephraim Lilien schilderte Herzl als Moses, jenen ägyptischen Prinzen, der sich wieder seinem Volk anschloss und es aus der Gefangenschaft erlöste, oder auch als die biblischen Figuren Jakob, Aaron, Joschua, David, Salomo und Hiskia. Bettelheim hingegen war, wie die meisten, die uns ihre Eindrücke von Herzl hinterließen, besonders von Herzls Augen fasziniert: »groß und kreisrund«, dunkel und doch mit einem mysteriösen Leuchten ausgestattet, das Staatsmänner und einfache Leute gleichermaßen in den Bann zog. »Herzls Auge war von ganz besonderer Ausdrucksfähigkeit. Er verlor sich beim Gespräch oft in unendliche Fernen, als sähe er Dinge, die uns allen unfühlbar waren, und heftete sich im nächsten Moment bezwingend auf sein Gegenüber.« Es war ein Blick, der von »Adel, Tatkraft, Geist, Genie und Güte« erfüllt war. »Niemals hat er Unentschlossenheit oder Resignation ausgedrückt: je größer das Hindernis oder die Gefahr war, desto kühner war dieser Adlerblick.«[7]
Es gibt zwei Arten charismatischer politischer Führer: jene, deren Herzlichkeit und Charme ihren Anhängern das Gefühl vermitteln, sie seien wichtig und wertgeschätzt, und jene, die kühl und distanziert sind, aber dennoch Bewunderung und Verehrung hervorrufen, was dann wiederum Solidarität und Hoffnung erzeugt. Herzl zählte zum zweiten Typ. Wie der böhmische Zionist Berthold Feiwel einmal sinngemäß sagte: In seiner frühen Jugend habe Herzl für ihn die ganze Schönheit und Größe bedeutet. Sie alle, die Jugendlichen, hätten sich nach einem Propheten, einem Führer gesehnt und ihn durch die eigene Sehnsucht erschaffen.[8] Seine Stellung als säkularer, assimilierter, westlicher Jude, der der Welt der traditionellen jüdischen Bräuche und Kultur fremd war, förderte seine charismatische Anziehungskraft auf die osteuropäischen Juden noch, die wohl niemals jemand aus den eigenen, vertrauten Reihen akzeptiert hätten. Herzl wurde als ein moderner Moses angesehen, ein Prinz, der am Hofe des Pharao aufwuchs und aufgerufen wurde, zu seinem Volk zurückzukehren und es aus der Knechtschaft zu führen. Langjährige zionistische Aktivisten aus Osteuropa ärgerten sich über Herzls Unkenntnis des Judentums und seinen autokratischen Habitus, aber letztlich war es Herzl, nicht sie, der Zehntausende von osteuropäischen Juden in den Bann schlug, sie zwar mit seiner Fremdheit verwirrte, aber ihr Selbstwertgefühl hob.
Doch Herzls charismatische Anziehungskraft hatte auch ihre Grenzen. Zum Zeitpunkt seines Todes war nicht einmal ein Prozent der weltweiten Juden offiziell Mitglied der zionistischen Organisation, und der Herzlsche Zionismus provozierte beträchtlichen Widerstand. Die meisten orthodoxen Juden lehnten ihn als gotteslästerlich ab. Jüdische Sozialisten nannten ihn utopisch, und sie zogen das in ihren Augen weit realistischere Szenario einer Revolution vor – eine Revolution, die jede wirtschaftliche Unterdrückung und jeden dadurch geschürten Antisemitismus beenden würde. Assimilierte Juden, die behaupteten, sie seien fest in ihren Heimatländern verwurzelt, hielten Herzl für lächerlich und sogar peinlich. Aber seine Botschaft von der jüdischen nationalen Befreiung, die er mit geradezu hypnotisierender Redekunst verkündete oder in fein gedrechselte Prosa kleidete, traf bei vielen Juden einen Nerv – und es fällt nicht schwer zu verstehen, woran das lag.
Eine weit größere Herausforderung ist es, zu erklären, wie es Herzl gelang, ein Akteur auf der internationalen Bühne zu werden, dem es in einem Zeitraum von nur wenigen Jahren gelang, Zugang zum deutschen Kaiser, zum osmanischen Sultan, zu den Königen Italiens und Bulgariens, zum britischen Außen- und Kolonialminister, zum russischen Innen- und Finanzminister und sogar zum Papst zu erhalten. Das führt uns zum dritten Thema des Buchs: Herzls Präsenz auf der Weltbühne und seine geopolitischen Strategien.
Mit Blick auf seinen Zugang zu Staatsoberhäuptern war Herzls Charisma nur einer von mehreren Faktoren. Herzl bezauberte zwar den deutschen Botschafter in Wien, Philipp zu Eulenburg, geradezu, doch die meisten Staatschefs waren weniger von seiner Person vereinnahmt, sondern stärker an dem praktischen Nutzen interessiert, den er für sie hatte. Dem osmanischen Sultan bot Herzl riesige Summen jüdischen Kapitals an, mit dessen Hilfe die horrenden Auslandsschulden des Reiches umverteilt werden konnten. Dem deutschen Kaiser und der russischen Regierung versprach Herzl, ihnen die unerwünschten Juden und die revolutionären Bewegungen, mit denen Juden eng identifiziert wurden, vom Hals zu schaffen. Der britischen Regierung offerierte Herzl die Juden als loyale Kolonialbeamte im britischen Protektorat Palästina, auf der nahe gelegenen Sinai-Halbinsel und sogar in Britisch-Ostafrika. Alle diese Versprechungen basierten auf Fantastereien bezüglich der Macht der Juden – Fantastereien, an die Herzl wohl selbst glaubte.
Ob die Geschichten, die Herzl ersann, nun etwas mit der Realität zu tun hatten oder nicht, er befand sich in einer ausgezeichneten Stellung, sie an den Mann zu bringen, zählte er doch zu den prominentesten Journalisten Europas. Von 1891 bis 1895 war Herzl der Pariser Korrespondent der renommiertesten Zeitung Mitteleuropas, Neue Freie Presse, und von 1895 bis zu seinem Tod im Jahr 1904 war er deren Feuilleton-Redakteur. In einer Ära, als Zeitungen das meistgenutzte Medium waren, in dem sich die politische Elite der Öffentlichkeit präsentierte, waren wohlgesonnene und einflussreiche Journalisten ein kostbares Gut. Herzl verstand sich mit zwei österreichischen Ministerpräsidenten hervorragend, die ihn über die Nationalitätenkonflikte des Reiches auf dem Laufenden hielten und seinen Beistand bei deren Niederschlagung suchten. Zu Beginn seiner Laufbahn als Zionist führte Herzl mit dem osmanischen Großwesir ein schmeichelhaftes Interview, in dem Herzl es seinem Gesprächspartner auch gestattete, die Gräueltaten an den Armeniern herunterzuspielen.
Dank seines Berufs und seiner breit gefächerten Belesenheit kannte Herzl die geopolitischen Machenschaften der europäischen Mächte nur zu gut. So sehr er es liebte, in der Diplomatie mitzumischen, beherrschte er sie doch nicht allzu gut. Immer wieder wurde Herzl manipuliert oder zurückgewiesen, wenn sein Gesprächspartner zu dem Schluss kam, dass er das, was er versprach, nicht würde halten können, oder dass eine Massenmigration von Juden nach Palästina gar nicht zum eigenen Vorteil wäre. Herzl selbst war durchaus zu Doppelzüngigkeit und Opportunismus fähig, da er zum einen versuchte, die Protektion einer europäischen Großmacht über Palästina zu erreichen, während er zum anderen zugleich die Osmanen um Unterstützung bat.
Herzl war stolz auf die Eroberung Afrikas und Asiens durch europäische Mächte und überzeugt davon, dass die Juden in Palästina eine zivilisierende Mi...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. 1. Einleitung
  6. 2. Theodor Herzls Weg
  7. 3. Unser Mann in Paris
  8. 4. Das Organisationsgenie
  9. 5. Der Griff nach den Sternen
  10. 6. Wenn ihr wollt, ist es doch ein Traum
  11. 7. Epilog: Der Blick vom Herzlberg
  12. Dank
  13. Abkürzungen
  14. Abbildungsverzeichnis
  15. Anmerkungen
  16. Register