Münzstraße 20
Zur Geschichte eines verkannten Stadtteils1
von Hans E. Pappenheim, 1966
Fast jedes Gebäude des alten Berlin, das in der Geschichte von einiger Bedeutung war, hat bisher seine Eigendarstellung erhalten. Das Fehlen einer monographischen Behandlung von Münzstraße 20 und der Umgebung erklärt sich durch die Lage in einer Gegend vor der Stadtmauer, auf dem »Stadtfeld«, das bis ins Ende des 17. Jahrhunderts unbebaut blieb, bis hier ab 1693 die Scheunen Berliner Bürger mit Ackerbesitz entstanden. Wichtigster Weg in diesem bald »Scheunenviertel« genannten Gebiet war die »Contrescarpe«, die spätere Münzstraße; hier entstanden zu Anfang des 18. Jahrhunderts in noch ländlicher Gegend vor dem Königsthor palaisartige Villen2. So trug das Grundstück Nr. 20 ein Gebäude, das in verschiedener Hinsicht eine gewisse Rolle gespielt hat, ein Palais in einem großen Garten, einem Gelände zwischen der späteren Münzstraße (heute: Memhardstraße), der Grenadierstraße (heute: Almstadtstraße), Hirtenstraße, Kleine Alexanderstraße und Kaiser-Wilhelm-Straße (heute: Karl-Liebknecht-Straße).
Der erste Eigentümer: Stadtkommandant v. Sydow
1731 entstand hier das »Sydowsche Haus«, benannt nach seinem Bewohner, »Herrn Aegidius Ehrenreich von Sydow, General-Major von der Infanterie, Obrister über ein Regiment zu Fuß und Commandant der Residentz Berlin, wohnet in seinem Hause an der Contrescarpe, zwischen dem Spandauer- und Königs-Thor3.« Der nördliche Teil der Straße »Am Königsgraben« wurde nach 1750, der südliche gegen 1780 bebaut. Vor 1770 hieß die Straße »Contrescarpe, welche als schöne Straße von der Rosenthaler Straße bis zu Ende des Nealschen Palais führte2«, wie das Gebäude nach Sydows Nachbesitzer, dem Grafen Neale, genannt war.
Erster Mieter: Frankreichs gesandter Lord Tyrconnel
Als Mieter des Generals von Sydow lebte hier seit April 1750 der Kgl. Französische Gesandte Lord Tyrconnel; das Gebäude beherbergte damit die Gesandtschaft selbst, und zwar bis zum Tode des Missionschefs an dieser Stätte am 12. März 1752. Wer war dieser einzige Gesandte Frankreichs in Berlin, der hier auf seinem Posten starb, der Mann mit dem ausländischen Namen und Titel? Nachdem sein Vorgänger, der durch das ausgezeichnete Verhältnis zu Friedrich II. bekannte Minister de Valory4, am 22. April 1750 sein Abberufungsschreiben überreicht hatte, legte am gleichen Tage Richard François Talbot Earl of Tyrconnel sein Beglaubigungsschreiben am Preußischen Hofe vor5. Von Geburt Ire, hatte bereits sein Vater im Dienste Frankreichs gestanden, nachdem er allen seinen Besitz in Irland verloren hatte, weil er König Jakob II. von England (1685–88; † 1701 in St. Germain) in die Verbannung gefolgt war.
Richard Tyrconnel war schon in der Jugend in die irische Truppe im Dienste des Königs von Frankreich eingetreten, hatte als Hauptmann 1741/42 am Feldzuge am Rhein und in Böhmen (Generalstab des Marschalls von Sachsen) und 1747 in Flandern teilgenommen (1748 Feldmarschall), war 1749 in Pension gegangen und 1750 Gesandter in Preußen geworden. Seine ihn nach Berlin begleitenden politischen Instruktionen kann man bei Waddington6 nachlesen. Mylady Magdalene Tyrconnel war eine geborene Marquise de Lys7. Die Markgräfin Wilhelmine von Ansbach-Bayreuth schrieb am 3. September 1750 aus Berlin an ihren Bruder König Friedrich8: »Voltaire … hat mich durch Vorlesen des ‚Geretteten Rom‘ zu zerstreuen gesucht. Die Zuhörerschaft war zahlreich: mein Bruder (Heinrich), (Feldmarschall) Keith, Lord Tyrconnel …« und (November 1750): »Auch Lord Tyrconnel beginnt aus sich herauszugehen. Er ist sehr liebenswürdig, wenn er will, aber sehr wechselnd7.«
Der französische Gesandte litt an Tuberkulose, daher wahrscheinlich auch die eigentümliche Wahl des von Wiesen und Gärten vor der Stadt gelegenen Palais Sydow als Wohnsitz. Über seine Krankheit vergleiche man die anteilnehmenden Briefe der Markgräfin und des Königs7. Behandelt wurde der Gesandte von einem französischen Arzt, der zum Potsdamer Kreise Friedrichs II. gehörte, Dr. de La Mettrie, den der König nach der Ausweisung aus Frankreich als Vorleser angestellt hatte und der unter viel beachteten Umständen vor seinem diplomatischen Patienten in der Gesandtschaft selbst starb.
Der Vater der Automation
Julien Offray de La Mettrie wurde am 25. Dezember 1709 als Sohn eines Kaufmannes in St. Malo (Bretagne) geboren. Zunächst Jesuitenschüler in Caën, wechselte er zur Medizin über und promovierte in Reims zum Dr. med. Als Stabsarzt der Französischen Garde nahm er (1743) an der Schlacht bei Dettingen und an der Belagerung von Freiburg teil. Hier entstanden die Grundlagen für seine »Histoire naturelle de l‘âme«, die ‚Naturgeschichte der Seele’, die wegen des darin vertretenen Materialismus und Atheismus, ähnlich wie seine gegen die Ärzte gerichtete Schrift »La politique du médécin Machiavel« (Amsterdam 1746), öffentlich verbrannt wurde. Schon das erstgenannte Werk (1745) kostete ihm seine Stellung im Heere. Von der Geistlichkeit und den Ärzten verfolgt, begab er sich nach Holland, konnte sich aber wegen neuer kämpferischer Schriften auch dort nicht halten und nahm gern das Asyl an, das ihm Friedrich II. in Potsdam bot; hier wurde er 1748 sein bevorzugter Vorleser und außerdem als Mitglied in die Berliner Akademie der Wissenschaften hineinlanciert. Die Beziehungen de La Mettries zum König selbst, zu Voltaire, zu seinem engeren Landsmann Maupertuis aus St. Malo, dem Präsidenten der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften würden ein Kapitel höfischer Historie allein füllen, sein geistiger Lebenskampf ein weiteres in der Geschichte der materialistischen Philosophie, seine Todeskrankheit ein (drittes) Buch der Geschichte der Medizin, und seine Darstellung in der bildenden Kunst – bis zu den posthumen, in feinster Einfühlung geschaffenen Arbeiten von Adolph von Menzel – würde ein viertes Kapitel bilden, so daß wir im Rahmen des Themas uns mit de La Mettrie nur so weit beschäftigen können, als es sein Sterbehaus und die sich aus seinem Tode ergebenden völkerrechtlichen Fragen betrifft. Seine medizinischen Werke sind größtenteils überholt, von den philosophischen aber ist eines wieder zur Geltung gekommen, nämlich »L’homme machine« (Leyden 1748)9. »Gerade dieses Werk hatte gegen den ohnedies anrüchigen Autor einen solchen Sturm erregt, daß er flüchten mußte und froh war, durch Friedrich II. in Berlin eine Heimstätte zu erlangen« (Geiger 1895)10.
Abb. 1: Titelblatt einer Streitschrift gegen La Mettries Buch »L’homme machine«, 1750
z.Z. Westdeutsche Bibliothek, Marburg.
Die deutsche Übersetzung einer scheinbar gegen dieses Werk gerichteten Streitschrift: »Die zu Boden gestürzte Maschine, oder glaubwürdige Nachricht von dem Leben und sonderbarem Ende des berühmten Arztes de La Mettrie, aus dem Französischen übersetzt. In drey Theilen, Frankfurt und Leipzig 1750« deren Titelblatt wir abbilden, ist wohlgemerkt ein Jahr vor dem Tode des Verfassers erschienen, hat also mit dessen ebenso sonderbaren Umständen nichts zu tun. Sie ist auch nicht von einem Gegner (‚bissig‘) verfaßt, wie Geiger10 vermutete, sondern – nach dem Brauch der Zeit – von de La Mettrie selbst, wie mir sein Biograph Pierre Lemée11 1958 ebenso versicherte, und die durch den »Mensch als Maschine« verursachte neue starke Beachtung des Philosophen im heutigen Amerika als »Vater der Automation« belegte.
Der Tod de La Mettries in der Münzstraße
In seiner Akademie-Rede vom 28. Januar 1875 hat der Physiologe Emil du Bois-Reymond12 sich als erster auch mit den örtlichen Fragen des Todes dieses Mannes beschäftigt: »Armer La Mettrie! Sein Glück sollte nicht lange dauern. Eines Tages bittet der erkrankte französische Gesandte, Lord Tyrconnel, um seinen Besuch. Friedrich, gleichsam Böses ahnend, läßt ihn nur sehr ungern los13. La Mettrie kommt von Potsdam herüber ins Gesandtschaftshôtel vor dem damaligen Königsthore, wo heut (1875) das Victoriatheater steht, wie eben Lady Tyrconnel sich mit einigen Gästen zu Tische setzt. Scheinbar völlig wohl nimmt er an der Mahlzeit teil; es wird eine Fasanenpastete mit Trüffeln aufgetragen; er allein ißt davon sehr viel; gleich nach dem Tische fühlt er sich so unwohl, daß er im Gesandtschaftshotel zu Bette gebracht wird; er verfällt in heftiges Fieber, verordnet sich selber anfangs Aderlaß und warme Bäder, stirb aber, trotz Cothenius’ und Lieberkühns Beistand, drei Tage darauf, am 11. November 1751, nicht ganz 42 Jahre alt, bis zum letzten Hauche seinen Überzeugungen und seiner Art, sich zu äußern, getreu. … Nach amtlichen Ermittlungen … hatte Lord Tyrconnel das v. Sydowsche Haus vor dem damaligen Königsthore, der heutigen Königsbrücke, gemiethet. Diesem Haus, hinter dem ein ausgedehnter Garten lag, entspricht das jetzige Grundstück Münzstraße 20, auf dem das Victoriatheater steht. Das Haus selber war unserer Generation als Königlich-Lithographisches Institut noch wohl bekannt« (vgl. Fidicin)14.
Abb. 2: Julien Offray de La Mettrie, um 1750
Abb. 3: König Friedrichs II. Tafelrunde in Sanssouci, 1850
Das 1945 durch Kriegseinwirkung vernichtete Gemälde Adolph von Menzels aus dem Jahre 1850 zeigt die Tafelrunde Friedrichs des Großen im Marmorsaal des Schlosses Sanssouci. Friedrich II. hinten in der Mitte, wendet sich Voltaire zu, der auf dem zweiten Stuhl links vom König sitzt und über den Tisch hinweg ein Gespräch mit dem Grafen Algarotti führt. Zwischen den beiden sitzt General von Stille, ganz links Lordmarschall Georg Keith, rechts vom König Marquis dÀrgens, Graf Algarotti, Feldmarschall James Keith, Graf Rothenburg und La Mettrie. Die Potsdamer Tafelrunde ist seit 1747 eine Tischgesellschaft unter Friedrich II. in Sanssouci, das geistreiche Gegenstück zum Tabakskollegium seines Vaters. Hier umgab sich der König mit Geistesgrößen seiner Zeit, zu denen auch der italienische Schriftsteller Francesco Algarotti (1712–1764), der Akademiepräsident, Physiker und Mathematiker Pierre Louis de Maupertuis (1698–1759), der französische Schriftsteller Jean Baptiste de Boyer, Marquis d‘Argens (1704–1771), der Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) gehörten. Der berühmteste war der Philosoph Voltaire, der 1750 hinzustieß und später über die Runde bemerkte: »Wäre jemand plötzlich eingetreten, er hätte geglaubt, die sieben Weisen Griechenlands unterhielten sich im Bordell.«
Der französische Gesandte ließ die eben genannten zwei namhaften Berliner Ärzte an das Krankenlager rufen, mit denen de La Mettrie in gespanntem Verhältnis gestanden haben soll: Es eilten also ins Palais vor dem Königstor der Anatom Dr. med. Nathanael Lieberkühn (1711–1756), Mitglied der Königlichen Gesellschaft zu London und der Berliner Akademie der Wissenschaften, Erfinder des Sonnenmikroskops; nach ihm wurden die Lieberkühnschen Drüsen des Darmes15 genannt, und Dr. med. Christian Andreas Cothenius (1708–1789), seit 1747 Generalstabsmedicus und Leibarzt Friedrichs II., später Direktor der Charité und des Obermedizinalkollegiums, dann Mitglied der Akademie. Sein Grabstein vom Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde wurde später im Hof der Militärärztlichen Akademie aufgestellt16. Aber wie die...