Ludische Praxis und Kontingenzbewältigung im Spielebuch Alfons' X. und anderen Quellen des 13. Jahrhunderts
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Ludische Praxis und Kontingenzbewältigung im Spielebuch Alfons' X. und anderen Quellen des 13. Jahrhunderts

Spiel als Modell guten Entscheidens

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Ludische Praxis und Kontingenzbewältigung im Spielebuch Alfons' X. und anderen Quellen des 13. Jahrhunderts

Spiel als Modell guten Entscheidens

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Seit Entwicklung der mathematischen Spieltheorie des 20. Jahrhunderts scheint es ein Gemeinplatz, dass strategische Entscheidungen sich durch Spielmodelle simulieren lassen. Zu zeigen, dass aber schon viel früher ein Zusammenhang zwischen Spiel und guter Entscheidung gesehen und auch lebensweltlich fruchtbar gemacht wurde, ist das Anliegen dieser Monografie. Sie zeichnet nach, wie Spiel in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als eine Praxis der Kontingenzbewältigung sowie als Entscheidungskunst verstanden wurde, insbesondere in Bezug auf die Handlungsfelder von Strategie, Ökonomie, Ethik und Metaphysik. Als Hauptquelle der Untersuchung dient dabei das Spielebuch König Alfons' X. von Kastilien und León, der Libro de acedrex dados e tablas (1284), welcher einen einzigartigen Einblick in mittelalterliche Spielkultur erlaubt. Durch vielfältige Kontextualisierungen mit weiteren zeitgenössischen Quellen entfaltet sich ein kulturhistorisches Panorama, durch das eine Haltung spürbar wird, die sich als Spielvertrauen bezeichnen ließe – eine Haltung, die Spiel als lebenswichtige Ressource der praktischen Vernunft zur Bestärkung und Bestätigung individueller Klugheit im Umgang mit kontingenten Ereignissen begreift.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783110764772

1 Das Spielfeld abstecken: eine Spurenlese zweier Aussagen

Da es Gottes Wille war, dass die Menschen von Natur aus alle Arten der Freude in sich trügen, damit sie Sorgen und Mühen, wenn sie ihnen widerfahren, ertragen könnten, deshalb suchten die Menschen vielerlei Wege, diese Freuden in ganzer Fülle erlangen zu können.
Und aus diesem Grund erfanden und schufen sie verschiedene Arten von Spielen und Spielsteinen, mit denen sie sich erfreuen.1
Gott billigt nicht nur, dass die Menschen spielen und dabei Freude erfahren; er hat es auch ausdrücklich so gewollt. Erstaunlich muten diese ersten Worte an, mit denen das Spielebuch König Alfons’ X. von Kastilien und León (reg. 1252–1284) anheben, widersprechen sie doch dem hartnäckigen Klischee des Mittelalters als sinnes- und lustfeindlicher Epoche. Sinnesfreude ist hier gerade nicht Beginn allen Lasters, sondern anthropologische Notwendigkeit. Es spricht aus diesen Sätzen die von manchen Autoren als „humanistisch“ zu bezeichnende Grundhaltung eines Königs,2 der mit den Niederungen des irdischen Lebens vertraut war und nicht zuletzt deshalb die Wichtigkeit einer nur auf dem ersten Blick so trivialen Tätigkeit wie Spielen erkannte, die zu den elementarsten Formen menschlicher Ausdrucksformen zählt – nicht zuletzt, da Spielen zu den frühesten Handlungsweisen gehört, mit denen schon Säuglinge sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und so allmählich einen Objektbezug zu ihrer Außenwelt ausbilden.3 Im Rahmen der Christologie erhält Spiel bei Alfons darüber hinaus eine wichtige eschatologische Bedeutung: Es spendet Trost und stellt somit eine gültige Antwort auf die nachlapsiären „Sorgen und Mühen“ des Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies dar.
Es sind diese ersten Worte des Libro de acedrex dados e tablas oder kurz: Libro de los juegos, wie dieses faszinierende Manuskript nachträglich betitelt wurde, die am Anfang der Arbeit zur vorliegenden Meditation über Spiel als Praxis der Kontingenzbewältigung standen. Es ging von ihnen eine geradezu magische, ja bannhafte, Faszination aus, und es drängten sich sogleich zahlreiche Fragen nach den kulturhistorischen Entwicklungen und Vorbedingungen auf, die es Alfons in seiner Zeit ermöglicht hatten, derart kühne Aussagen über die anthropologische Bedeutung von Spielen zu treffen und ihm, mehr noch, dabei zugleich eine tiefere theologische Bestimmung mitzugeben. Dass das Mittelalter natürlich keineswegs per se sinnesfeindlich war, ist als solches kaum als ein Geheimnis zu bezeichnen, am wenigsten für die mediävistische Fachwelt.4 Und auch wenn Umberto Eco (1932–2016) in seinem Mittelalterroman Der Name der Rose den greisen, sittenstrengen Mönch Jorge von Burgos mit den Worten einführt: „verba vana aut risui apta non loqui!“, „sprich keine eitlen oder zum Lachen reizenden Worte!“, so ist das eine von Eco bewusst gesuchte Zuspitzung.5 Doch geht der Libro de los juegos noch weiter, indem er im weiteren Verlauf verschiedenen Spielformen unterschiedliche moralische, metaphysische und kosmologische Bedeutungsdimensionen beimisst.
Spielen dient im von Alfons angeschlagenen eschatologischen Grundton der Seelsorge. Und diese ist ihrerseits eng mit der Befähigung des Spiels zur Kontingenzbewältigung verknüpft. Das wird im Werk eher implizit mitgeteilt in einem anderen zentralen Passus, einer Legende, die von drei Hofgelehrten in Indien berichtet, die, um die von ihrem König an sie gerichtete metaphysische Frage nach Natur und Gesetzlichkeit der Welt zu beantworten, drei verschiedene Spieltypen als Beweise vorbringen, um ihre jeweiligen Standpunkte zu untermauern: zunächst das Schachspiel als Stellvertreter einer rationalen Weltordnung, daraufhin der Würfel, der für einen reiner Zufälligkeit unterworfenen Weltverlauf einsteht, und zuletzt das Tricktrack, ein Vorgänger des modernen Backgammons, bei dem rationale und aleatorische Elemente eine Synthese eingehen. Damit wird eine Kategorisierung von Spielen unternommen, der zufolge diese nach den Graden von Kontingenz und rationaler Ordnung unterschieden werden können. Implizit wird damit auf die Vorstellung von Spielhandlungen als Kontingenzhandlungen verwiesen und Spiel zu einem prototypischen Handlungsmodell für den produktiven Umgang mit Kontingenz umgedeutet, wie auch sonst im Werk Spiel immer wieder als Allegorie für menschliches Handeln im Allgemeinen fungiert.
Das mag überraschen, da man gemeinhin vermuten würde, dass die Verwendung von Spielen als Modellen für einen produktiven Umgang mit den contingentia futura nicht vor der Entwicklung der klassischen Wahrscheinlichkeitsrechnung existiert haben könnte, deren Beginn gewöhnlich mit dem 1654 erfolgten Briefwechsel zwischen Blaise Pascal (1623–1662) und Pierre de Fermat (1607–1665) zum Teilungsproblem identifiziert wird, bei dem es um die Frage ging, wie der Gewinn bei einem abgebrochenen Würfelspiel gerecht verteilt werden könne.6 Doch schon hier, im Alfonsinischen Werk, wird Spiel als modellhafte Praxis aufgefasst, mit der eingeübt wird, wie man kontingenten Widerfahrnissen nicht nur trotzen, sondern sie, mehr noch, ins Vorteilhafte wenden kann.7 Überhaupt existieren Belege für die Formierung von Spiel als Wissensgegenstand nicht erst seit der frühen Moderne, sondern bereits im Mittelalter, wie etwa der Historiker Arno Borst (1925–2007) verschiedentlich herausgestellt hatte.8
Wie im Folgenden genauer auszuarbeiten sein wird, stellt Spiel sich bei Alfons und einigen seiner Zeitgenossen als Praxis einer Entscheidungskunst dar, der es um das Treffen guter Entscheidungen angesichts zukünftiger Ungewissheit geht, wobei sich in diesem Zusammenhang sogar zarte erste Versuche zur Mathematisierung stochastischer Gesetzmäßigkeiten nachweisen lassen.9 Auffälligerweise stellte es für die Gelehrten der Zeit offenbar gar kein theoretisches Problem dar, dass zwischen Spielen und Mathematik ein enger Zusammenhang besteht, dessentwegen es überhaupt möglich ist, Spiel in mathematische Strukturen zu überführen.10 Diese stillschweigende Vorannahme, die in den untersuchten Quellen nie explizit theoretisiert wird, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, in Spielen überhaupt geeignete Modelle für die Mathematisierung von Entscheidungsvorgängen angesichts kontingenter Ereignisse erblicken zu wollen.
Der Befund, dass Spiel zur Lebenszeit Alfons’ X. auch anderswo als eine Technik für den Umgang mit Ungewissem betrachtet wurde, rief Fragen nach der historischen Genese dieser Idee auf: Wie war es dazu gekommen? Welche kulturhistorische Entwicklung hatte begünstigt, dem Spiel eine solch wichtige Funktion beizumessen? Die kulturhistorische Entwicklung nachzuzeichnen, die zu dem neuen geistigen Milieu geführt hatte, in dem Spiel zu einem zentralen Modell praktischer Kontingenzbewältigung avancieren konnte, ist eines der Hauptziele der vorliegenden Abhandlung. Selbstverständlich war das keineswegs, da Spiele, insbesondere Glücksspiele, seitens der Theologie immer wieder schweren Vorwürfen ausgesetzt waren, Christenmenschen zu sündigem Handeln zu verleiten. Es würde aber alsbald eine epistemologische „Entdämonisierung“ des Spiels eintreten, in deren Zuge es in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts von einer marginalisierten und verfemten Position ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken würde. Derartige „Entdämonisierungsprozesse“ hatte Aby Warburg (1866–1929) als wichtige „Grundakt[e] menschlicher Zivilisation“ bezeichnet, da erst durch sie eine Distanznahme „zwischen sich und der Außenwelt“ möglich würde.11 Anders gesagt schaffte erst die Teufelsaustreibung aus den Dingen eine Grundlage, auf der Spiele als vollwertige Wissensgegenstände aufgefasst werden konnten, denen man sich fortan mit größerer nüchtern-analytischer Distanz zuwandte.
In seiner Monografie zum gelehrten Zahlenkampfspiel (rhythmomachia) hatte Arno Borst einen wichtigen Fingerzeig dafür gegeben, warum die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts als ein wichtiger Kulminationspunkt in der Geschichte dieser Entdämonisierung anzusehen sein dürfte. Um diese Zeit nämlich hatte Alfons’ Zeitgenosse Thomas von Aquin (ca. 1225–1274) in der Summa Theologiae (1265/66–1273) festgestellt: Ludus est necessarius ad conversationem vitae, dass Spiel für den zwischenmenschlichen Umgang notwendig sei:12
Der größte mittelalterliche Theologe, Thomas von Aquin, leitete um 1270 in seinem Hauptwerk das Spielen weder von Gott noch vom Teufel her und traute es weder Kindern noch Tieren zu. Richtig spielen konnte kein selbstvergessenes, nur ein verantwortungsbewußtes Lebewesen; denn sinnvolles Spiel strebte nach einer hohen Tugend, nach freundlicher Ausgeglichenheit.13
Woraufhin Borst sogleich auf das Spielebuch Alfons’ X. zu sprechen kommt, worin der König, wie gesehen, eine ähnliche Ansicht vertreten hatte, obzwar, wie Borst anführt, weitaus „handfester“.14 Allerdings hatte Borst sich nicht weiter bemüht, die kulturhistorischen Gründe für diese Synchronizität herauszuarbeiten, also dafür, warum und wie es sein konnte, dass Alfons und Thomas zur gleichen Zeit auf eine ähnlich positive Evaluation des Spiels verfielen. Es scheint daher angebracht, beide Aussagen als etwas aufzufassen, das Carlo Ginzburg als „Spuren“ beschrieben hatte, als Indizien mit einer Verweisstruktur, durch deren Rückverfolgung man – wie ein Jäger oder Detektiv – eine zugrundeliegende, gemeinsame Ursache oder, um im Bild zu bleiben, den Täter finden könne.15
In diesem kriminologischen Lichte erscheinen die Aussagen des kastilisch-leonesischen Königs und des dominikanischen Gelehrten als Zeugen in einem epistemologischen Schauprozess, in dem sich nach und nach eine Entwicklungsgeschichte der Theoretisierung von Spiel als Praxis der Kontingenzbewältigung entblätterte. Die Annahme eines direkten Kontakts zwischen beiden Protagonisten wird durch diese Indizien allerdings nicht restlos bewiesen, machen es aber immerhin sehr wahrscheinlich, dass man in Kastilien-León von den neuen Lehren Ken...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Vorwort
  5. 1 Das Spielfeld abstecken: eine Spurenlese zweier Aussagen
  6. 2 Der Libro de acedrex dados e tablas von Kastilien und León
  7. Diabolus ludens. Spiel als dämonische Praxis
  8. Homo ludens. Spiel als Entscheidungskunst
  9. Deus ludens. Spiel als metaphysische Methode
  10. Schluss: Per aspera ad astra
  11. Bibliografie
  12. Register