1. Forschungsstand
Über urkundliche, chronikalische oder inschriftliche Quellen, die einen direkten Zugang zu Datierung und Intention des Zyklus sowie zur Identifizierung der Dargestellten böten, vergleichbar etwa den Schildinschriften der Naumburger Stifterfiguren oder der bekannten Urkunde des dortigen Bischofs Dietrich II. von 1249, die elf primi nostre ecclesie fundatores nennt, verfügen wir nicht.
Die älteste greifbare Beschreibung der Nordhäuser Figuren ist im Vergleich zur historischen Literatur zu Naumburg und Meißen relativ jungen Datums. Johann Gustav Büschings Darstellung von 1819 verdanken wir zwar keine Datierungs- oder Identifizierungsvorschläge, dafür aber wertvolle Hinweise zur Rezeption und Farbigkeit. Die Erwähnung eines goldenen Kreuzes auf dem Schild von M1 und vergoldeter Details wie Knöpfe, Gürtel und Kleidersaum legen den Schluß nahe, daß er die Figuren in einer jüngeren – eventuell barocken – Fassung sah, da seine Angaben nicht mit der 1927 nach Befund erneuerten Version übereinstimmen. Büsching wies auch als erster auf die „auffallenden Leuchterstachel“ an den Händen hin und sprach M2 als Königin (!) an.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts müssen die Figuren dem zeitgenössischen Skulpturenideal entsprechend weiß gefaßt worden sein, denn Julius Schmidt beschrieb sie in seinem Inventar von 1887 als mit „mehrfachem weißen Ölfarbenanstrich dick überschmiert“, schloß aber auf eine ursprüngliche Bemalung und Vergoldung. Zur Farbigkeit sei bemerkt, daß eine genaue Erfassung und Dokumentation der historischen Fassungen, wie sie etwa für die Skulpturen des Meißener Domes vorliegt, fehlt. Schmidt datierte die Figuren ins 3. Drittel des 13. Jahrhunderts, stellte jedoch die These auf, sie seien erst im 14. Jahrhundert versetzt worden, das heißt er bestritt ihre Zusammengehörigkeit mit Konsolen und Baldachinen. Richtig nahm er an, daß im ursprünglichen Plan des Chores eine Anbringung nicht vorgesehen war. Während er zum einen Naumburg als Maßstab für Qualität und individuelle Durchdringung einführte, benannte er zum anderen ausschließlich Arbeiten aus dem Grabmalsbereich als Vergleichsbeispiele. Auch bot er erstmals eine Identifizierung der Figuren an, interpretierte M1 als Friedrich II., M3 als dessen Sohn Heinrich (VII.) sowie F3 als Mathilde. Damit räumte er die Möglichkeit ein, daß in dem Zyklus Mitglieder verschiedener Dynastien vereinigt sein könnten und der Stauferkaiser Friedrich II. zur Entstehungszeit desselben als zweiter Fundator des Kreuzstiftes verehrt wurde.
Georg Dehio vermutete einen lokalen Meister als Schöpfer und datierte die Figuren um 1300. Ebenfalls einen lokalen Kontext sah Herbert Kunze, der eine Entstehungszeit um 1320 angab und als Werkstattarbeit auf das Martinstympanon der Martinikirche in Heiligenstadt verwies. Eine Einordnung um 1320 nahm auch Ulrich Middeldorf vor, der dafür jedoch auf die Haartracht sowie die Kopftypen der Marburger Landgrafengräber rekurrierte. Während Friedrich Stolberg mit Dehios Angaben übereinstimmte, folgten Oskar Doering und Bernhard Hellwig weitgehend den Ergebnissen Schmidts, d. h. sie datierten die Figuren um 1270, wiesen die Konsolen dagegen einem anderen, jüngeren Meister zu und führten entsprechende Vergleiche an.
Karl Brix versuchte – neben einer Einordnung um 1305 und Verweisen auf Werke auch außerhalb des Grabmalskontextes – erstmalig eine Deutung des Zyklus, die historische und theologische Elemente berücksichtigt. Da er jedoch lediglich Bekanntes referierte, gelangte er nur zu ganz allgemeinen Aussagen. Danach dienten die Stifterfiguren der Repräsentation des kaiserlichen Ursprungs und der hohen Stellung des Stifts gegenüber der Stadt; die Dargestellten seien als Teilnehmer in effigie am Meßopfer zu verstehen.
Einer von vielleicht mehreren Werkstätten, die im thüringisch-sächsischen Raum bis gegen 1310 in der Nachfolge des Naumburger Meisters arbeiteten, schrieb Dieter Gleisberg die Nordhäuser Skulpturen zu und sprach dabei von „Verfall“ und „Verblockung“. Den Fokus richtete er bei seinen Beurteilungen ausschließlich auf den seiner Ansicht nach für alles Nachfolgende allein verbindlichen Ausgangspunkt Naumburg. In gleichem Sinn argumentierte Kurt Degen, der die „derb-handwerklichen“ Figuren in das Ende des 13. Jahrhunderts datierte und den Naumburger Stifterchor in „reduzierter Form“ adaptiert sah.
Dietrich Schubert konstatierte einen Rückschritt „in der tendenziellen Entwicklung zur Freiskulptur“ und bewertete die Figuren „gleichsam als Teile der Gewölbedienste“, was im technischen Sinn jedoch unzutreffend ist. Kurt Bauch dagegen reihte Nordhausen in eine Folge freistehender Stifterstandbilder ein (Heiningen, Altenberg/Lahn, Wienhausen, Fischbeck, Leipzig u. a.), die er von Naumburg angeregt interpretierte, übersah dabei jedoch, daß es sich bei den meisten angegebenen Beispielen ursprünglich wohl um Tumbendeckplatten handelte. Gleich Kunze und Middeldorf vertrat er eine Datierung um 1320.
Sehr wichtig für den methodischen Zugriff ist die Beurteilung der Naumburger (und in der Folge auch Nordhäuser) Figuren durch Willibald Sauerländer und die darüber geführte Kontroverse mit Joachim Wollasch. Während Sauerländer die Hauptaufgabe solcher Stifterzyklen allgemein in der „ikonischen Bezeugung von Fundationen, Donationen und Privilegien“ sah und im Falle Naumburgs von einer „Statuenfolge sui generis“ ohne jeglichen sepulkralen Bezug sprach, betonte Wollasch deren Rolle in der liturgischen Memoria, zu der das Stift den primi fundatores verpflichtet war. Sauerländer wandelte später die von ihm betonte rechtliche Funktion in das traditionelle „ikonische Stiftergedächtnis“ ab, verneinte aber erneut die Einbeziehung der Figuren in das Totengedächtnis. Die Nordhäuser Figuren interpretierte er als „eine Art statuarisches Traditionsbuch“, schwächte allerdings ab, daß eine weitere Deutung und eine Identifizierung der Dargestellten „ohne genauere Kenntnis der Stiftsgeschichte nicht möglich“ sei. Wollasch seinerseits hob hervor, daß der Tradition und Geschichte der Naumburger Bischofskirche „von den Ursprüngen an der Memorialcharakter aufgeprägt“ war. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Diskussion sind die Nordhäuser Stifterfiguren mit den vorhandenen schriftlichen Zeugnissen des Totengedenkens sowie weiteren Stifterdarstellungen vor Ort und deren Kontext in Verbindung zu bringen.
Innerhalb jüngerer Arbeiten, von denen weder Arno Wand noch das Dehio-Handbuch neue Einsichten bieten, versuchten Möbius und Sauer eine Erklärung aus dem Blickwinkel der Stiftsgeschichte. Helga Möbius sah „das Motiv der monumentalen Statuen im Chor wohl von Naumburg aus angeregt“ und diese um 1300 „zu einer Zeit äußerster Feindseligkeiten zwischen Stiftsklerus und Stadt als Machtsymbol aufgestellt“. In ähnlichem Sinn argumentierte Christine Sauer, die den konkreten Anlaß, die Beteiligung der ottonischen Herrscherfamilie an der Einrichtung der Gemeinschaft zu betonen, aber in die 1320er Jahre verlegte. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um Ludwig den Bayern sei der Streit um die Einsetzung des Propstes, für den königliches Präsentationsrecht galt, der Anstoß gewesen. Sauers wertvolle Arbeit ist jedoch gerade im Blick auf Nordhausen ungenau. So spricht sie die Stifter als Stuckfiguren an, verlegt die weiblichen auf die Südseite des Chores und beschreibt diese als jeweils mit einem Kirchenmodell ausgestattet. Den Königen ordnet sie fälschlich Reichsäpfel in den Händen zu. Sauer bezog sich in ihrer Argumentation unter anderem auf zwei der wenigen neueren Veröffentlichungen, die Erkenntnisse zum Verhältnis zwischen Stift und Stadt bieten.
Ohne jeglichen Rekurs auf die Stiftsgeschichte, sondern allein auf der Basis typengeschichtlichen Vergleichs, setzte Hengevoss-Dürkop eine Datierung des Zyklus um 1320/30 an.
In ihrer Untersuchung figürlicher Grabmäler in Sachsen und Thüringen führte Magdalene Magirius die Nordhäuser Stifterbildnisse mehrfach zum Vergleich an. Auf diese verwies sie zum einen im Kontext der hölzernen Figur des Diezmann († 1307; ehem. Paulinerkirche Leipzig, heute Kustodie der Universität), wobei sie jedoch lediglich „Übereinstimmungen eher allgemeiner Art“ konstatierte. Zum anderen sah sie das Grabmal des Grafen Elger II. von Ilfeld-Honstein († 1190) und seiner Frau Lutrudis, der Stifter des Prämonstratenserklosters Ilfeld, in der Nachfolge der Nordhäuser Chorfiguren. Diese datierte sie in das erste Viertel des 14. Jahrhunderts und schrieb das Ilfelder Grabmal der gleichen Werkstatt zu.
Über die Verhältnisse des Kreuzstiftes sind wir hinsichtlich seiner Verfassung, der Besitz- und Einkommenslagen, seiner Beziehungen zur Stadt sowie in Bezug auf die Memoria nur zum Teil informiert, was nicht zuletzt dem weitgehenden Verlust des eigentlichen Stiftsarchivs geschuldet ist. Das von Gerhard Schmidt publizierte Necrologium von 1334 wurde noch nie mit den Nordhäuser Stifterfiguren in engere Verbindung gebracht. Deshalb soll es zur Deutung des Zyklus an entsprechender Stelle herangezogen werden.
2. Zur Geschichte des Stifts bis 1330
Ausgangspunkt für das spätere Stift ist eine liudolfingische Burganlage, die um das Jahr 910 erstmals greifbar ist. Als Erbauer ist Herzog Otto der Erlauchte († 912) anzusehen, spricht doch sein Sohn Heinrich I. die Anlage als Erbgut an. Von Anfang an wird zu dieser eine Burgkapelle gehört haben, denn die zweimalige Niederkunft der Herzogin bzw. Königin Mathilde (um 913 und zwischen 919–922) ist ohne reguläre gottesdienstliche Versorgung undenkbar. Die Kapelle trug sehr wahrscheinlich ein Marienpatrozinium, denn Mathilde berief sich später auf den Beistand der Gottesmutter, der ihr bei der Geburt von Gerberga bzw. Heinrich zuteil geworden sei.
Als Wittum übereignete Heinrich I. 927 neben Quedlinburg, Pöhlde und Duderstadt auch sein Erbgut in Nordhausen seiner Frau Mathilde, eine Regelung, die er 929 bestätigte. Die Schenkung erstreckte sich nicht nur auf die Vororte, sondern auf die gesamten Fiskalbezirke einschließlich der Burgen. Das von Mathilde 961 gegründete Nonnenkloster, dessen Hauptpatronin anfänglich Maria war, hat auf dem Gelände der Burg, genauer in der Vorburg gelegen. Der Standort der Burg und der seit dem 10. Jahrhundert räumlich eng mit ihr verbundenen Pfalz ist archäologisch nicht gesichert. Nach Ausweis der schriftlichen Quellen wird das Gelände aber vom heutigen Domkomplex markiert bzw. sind die Pfalzbauten südlich davon im Bereich der „Finkenburg“ zu suchen, die bis ins Spätmittelalter hinein den Namen curia Cesaris führte.
Die erste Klosterkirche war zweifellos die Burg- und Pfalzkapelle selbst. Nördlich dieser ließ Mathilde Gebäude für das bei ihrem Tod 968 noch unfertige Kloster errichten, die eigentlichen Pfalzbauten hat sie offensichtlich nicht beansprucht. Deshalb konnte nach ihrem Ableben Otto II. unter anderem die Nordhäuser Besitzungen mit der Burg (una cum castellis) seiner Frau Theophanu als Wittum aussetzen (972), ohne die Existenz der jungen Gründung zu gefährden. Als weitere Patrone werden zu Ausgang der ottonischen Zeit Johannes der Täufer und der Märtyrer Eustachius genannt. Das seit dem 13. Jahrhundert dominierende ...