VENUS IN ZWEI AKTEN
Dieser Essay untersucht die allgegenwärtige Präsenz der Venus im Archiv der transatlantischen Sklaverei und ringt mit der Unmöglichkeit, irgendetwas über sie herauszufinden, das bislang noch nicht gesagt worden ist. Als sinnbildliche Gestalt der versklavten Frau in der atlantischen Welt verdeutlicht die Venus das Zusammenlaufen von Terror und Vergnügen in der libidinösen Ökonomie der Sklaverei sowie die Vertrautheit der Geschichte mit dem Skandal und dem Exzess der Literatur. Geschrieben an der Grenze des Unsagbaren und des Unbekannten, ahmt dieser Essay die Gewalt des Archivs nach und unternimmt zugleich durch eine möglichst genaue Beschreibung jener Bedingungen, die das Auftreten von Venus bestimmen und ihr Schweigen diktieren, den Versuch, diese Gewalt zu überwinden.
In dieser Inkarnation taucht sie im Archiv der Sklaverei als totes Mädchen auf, benannt in einer Anklageschrift gegen den Kapitän eines Sklavenschiffs, der für den Mord an zwei Negro-Mädchen vor Gericht stand. Allerdings hätten wir ihr ebenso gut als Lastposten im Hauptbuch eines Schiffes begegnen können, oder im Tagebuch eines Aufsehers – „letzte Nacht wohnte ich Dido auf dem Fußboden bei“ –, oder als amouröse Bettgenossin mit einer so elastischen Börse, „dass sie noch das größte Ding aufnimmt, das irgendein Gentleman ihr präsentieren kann“, in Harris’s List of Covent-Garden Ladies, oder als Geliebte in der Erzählung eines Söldners in Surinam, oder als Bordellbesitzerin im Bericht eines Reisenden über die Prostituierten in Barbados, oder als Nebenfigur in einem pornografischen Roman aus dem 19. Jahrhundert.1 Mal als Harriot, mal als Phibba, Sara, Joanna, Rachel, Linda oder Sally, findet sie sich überall in der atlantischen Welt. Die Baracke (barracoon), der Bauch eines Sklavenschiffs, das Pesthaus, das Bordell, der Käfig, das chirurgische Labor, das Gefängnis, das Zuckerrohrfeld, die Küche, das Schlafzimmer des Herrn – sie alle erweisen sich als ein und derselbe Ort, und in ihnen allen heißt sie Venus.
Was gibt es noch zu wissen? Ihr Schicksal ist das Schicksal jeder anderen Schwarzen Venus: Niemand erinnerte sich an ihren Namen oder hielt fest, was sie sagte, oder bemerkte, dass sie sich weigerte, überhaupt etwas zu sagen.2 Ihre Geschichte ist eine unzeitgemäße, erzählt von einer gescheiterten Zeugin. Es sollte Jahrhunderte dauern, ehe ihr gestattet sein würde, „ihre Stimme auszuprobieren“.3
Ich könnte nun mit einem berühmten Philosophen sagen, dass das, was wir von der Venus in ihren vielen Erscheinungen wissen, auf ihre „Begegnung mit der Macht“ hinauslaufe und „nur eine knappe Skizze ihrer Existenz“4 liefere. Ein Zufall oder ein Unglück haben ein Abweichen vom erwarteten und gewohnten Kurs der Unsichtbarkeit erzeugt und sie aus dem Untergrund an die Oberfläche des Diskurses katapultiert. Wir stolpern über sie unter außerordentlichen Umständen, die kein Bild des alltäglichen Lebens ergeben, keinen Pfad zu ihren Gedanken eröffnen, keinen Blick auf die Verletzlichkeit ihres Gesichts erhaschen lassen, oder darauf, was das Betrachten eines solchen Gesichts erfordern mag. Wir wissen lediglich, was sich aus einer Analyse des Hauptbuchs erschließen lässt oder was aus der Welt ihrer Entführer und Herren geborgt und auf sie übertragen werden kann. Und doch muss das Außergewöhnliche beispielhaft oder typisch gemacht werden, damit ihr Leben ein Fenster darstellen kann zum Leben der Versklavten im Allgemeinen.
Man kann nicht fragen: „Wer ist Venus?“, da es unmöglich wäre, diese Frage zu beantworten. Es gibt Hunderttausende weitere Mädchen und Frauen, die ihre Lebensumstände teilen, und diese Lebensumstände haben nur wenige Geschichten hervorgebracht. Und in den Geschichten, die es gibt, geht es nicht um sie, sondern um die Gewalt, den Exzess, die Verlogenheit und die Logik, die von ihrem Leben Besitz ergriffen, sie in Waren und Leichname verwandelten und sie mit als Beleidigungen oder derbe Witze hingeworfenen Namen versahen. Das Archiv ist in diesem Fall ein Todesurteil, eine Grabkammer, eine Zurschaustellung des gequälten Körpers, ein Inventar, eine medizinische Abhandlung über die Gonorrhö, ein paar Zeilen über das Leben einer Hure, ein Fußnotensternchen in der großen Erzählung der Geschichte. Angesichts dessen ist „es auf immer unmöglich […], sie an ihnen selber zu erfassen, so wie sie ‚im freien Zustand‘ sein mochten“.5
Aus der Welt und zurück
Aber ich möchte noch mehr sagen. Ich möchte darüber hinausgehen, nur die Gewalt nachzuerzählen, die diese Spuren im Archiv hinterlegt hat. Ich möchte eine Geschichte über zwei Mädchen erzählen, die in der Lage ist, wiederherzustellen, was verborgen liegt – der Zugriff oder Anspruch ihrer Leben auf die Gegenwart –, ohne mit meinem eigenen Akt des Erzählens weitere Gewalt zu verüben. Diese Geschichte basiert auf Unmöglichkeit – das Ungesagte hören, fehlgedeutete Worte übersetzen und entstellte Leben umgestalten – und will ein unmögliches Ziel erreichen: die Gewalt wiedergutmachen, die jene Zahlen, Ziffern und Diskursfragmente erschaffen hat, die einer Biografie der Gefangenen und Versklavten noch am nächsten kommen.
Doch wie gewinnt man Leben zurück, die bis zur Unkenntlichkeit verwoben sind mit den grausamen Äußerungen, die sie zum Tode verurteilten, den Wirtschaftsbüchern, die sie als Werteinheiten verzeichneten, den Rechnungen, die sie als Eigentum in Anspruch nahmen, und den banalen Chroniken, die ihnen die menschlichen Eigenschaften aberkannten? Kann „aus dem Schock jener Wörter“, wie Foucault schreibt, „für uns immer noch ein Effekt von Schönheit und Schauer“6 entstehen? Können wir, wie NourbeSe Philip nahelegt, „aus der im Kern des Textes steckenden Abwesenheit von Afrikaner*innen als Menschen etwas Neues heraufbeschwören“?7 Und wenn ja, welche Züge trägt dann dieses neue Narrativ? Anders ausgedrückt: Wie schreibt man die Chronik eines vorhergesagten und erwarteten Todes neu, als eine kollektive Biografie toter Subjekte, als eine Gegengeschichte des Menschen, als eine Praxis der Freiheit?
Wie kann die Erzählung das Leben in Worten verkörpern und zugleich respektieren, was wir nicht wissen können? Wie lauscht man dem Stöhnen und Schreien, den unverständlichen Liedern, dem Knistern des Feuers in den Zuckerrohrfeldern, den Totenklagen und den Siegesrufen, und ordnet alldem dann Worte zu? Ist es möglich, eine Geschichte zu konstruieren aus „dem Ort der unmöglichen Sprache“8, oder Leben aus den Trümmern auferstehen zu lassen? Kann Schönheit ein Mittel liefern gegen die Schande, und kann Liebe ein Weg sein, um die „verschütteten Stimmen“ auszugraben und die Toten wieder zum Leben zu erwecken?9
Oder ist das Erzählen ein Geschenk und ein Ziel an sich, also das einzig Realisierbare, wo das Überwinden der Vergangenheit und das Erlösen der Toten unmöglich sind? Und was bieten Geschichten überhaupt? Eine Art und Weise, um nach Katastrophe und Zerstörung in der Welt zu existieren? Eine Heimat in der Welt für das verstümmelte und misshandelte Selbst?10 Für wen – für uns oder für sie?
Der Mangel an afrikanischen Erzählungen über Entführung und Versklavung erhöht die Dringlichkeit und das Gewicht solcher Fragen. Es gibt nicht eine einzige erhaltene autobiografische Erzählung von einer weiblichen Gefangenen, die die Mittelpassage überlebt hat. Dieses Schweigen im Archiv, im Zusammenspiel mit der Robustheit des Forts oder der Baracke, nicht als Gefangenenzelle oder Zwangsunterbringung, sondern als Episteme, hat den Fokus der Historiografie des Sklavenhandels hauptsächlich auf quantitative Fragen und Aspekte der Märkte und Handelsbeziehungen gelenkt.11 Verlust ruft Verlangen hervor, und unter diesen Umständen wäre es nicht abwegig, Geschichten als eine Form der Kompensation oder gar als Wiedergutmachung anzusehen, vielleicht die einzige, die wir jemals bekommen werden.
Als Schriftstellerin, die sich das Erzählen von Geschichten zur Aufgabe gemacht hat, habe ich versucht, die Leben der Namenlosen und der Vergessenen darzustellen, mit Verlusten fertigzuwerden und die Grenzen dessen zu respektieren, was unbekannt bleiben muss. Für mich ist das Erzählen von Gegengeschichten der Sklaverei stets untrennbar verbunden gewesen mit dem Schreiben einer Geschichte der Gegenwart, womit ich das unvollendete Projekt der Freiheit und das prekäre Leben der ehemaligen Sklavin meine, ein Zustand, der bestimmt wird durch die Ungeschütztheit vor einem vorzeitigen Tod und vor willkürlichen Akten der Gewalt.12 In meinem Verständnis strebt eine Geschichte der Gegenwart danach, die Vertrautheit unserer Erfahrung mit den Leben der Toten zu beleuchten, unser Heute zu schreiben, das von dieser Vergangenheit unterbrochen wird, und einen freien Zustand zu imaginieren, nicht als die Zeit vor der Gefangenschaft oder Sklaverei, sondern als die antizipierte Zukunft dieses Schreibens.
Dieses Schreiben ist persönlich, weil diese Geschichte mich erzeugt hat, weil „das Wissen der anderen mich kennzeichnet“13, aufgrund des Schmerzes, den ich bei meiner Begegnung mit den Schnipseln aus dem Archiv verspürte, und aufgrund jener Art von Geschichten, die ich gestaltet habe, um eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu schlagen und die Produktion des Nichts – leere Räume, Schweige...