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Schriftstellerporträts

  1. 324 Seiten
  2. German
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Schriftstellerporträts

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Literaturgeschichte und Literaturkritik, brillant erzählt von einem Kenner und Liebhaber.Volker Hage vermag es, Literaturkritik und literarische Analyse erzählerisch darzustellen. So sind eingängige Texte entstanden, in denen Werke und Autoren lebendig und facettenreich präsentiert werden, ganz gleich, ob es moderne Klassiker oder Zeitgenossen sind.Die Begegnungen mit Schriftstellern zählen zu den journalistischen Höhepunkten seiner Tätigkeit als Redakteur. Immer wieder geht es Hage dabei um die Frage des autobiografischen Hintergrunds, der Mühsal des Schreibens und der Freude am fertigen Werk, der Krisen, Brüche und des Selbstverständnisses. Auch die Erfahrungen des Redakteurs im Umgang mit Schriftstellern fließen ein. Das macht die Porträts zu einem spannenden Spiegel der Wechselwirkung von Zusammenarbeit, Nähe und Distanz. Die Auswahl der Porträts zeigt die Vorlieben eines intimen Literaturkenners.Mit Texten zu Günther Anders, Jurek Becker, Karen Duve, Richard Ford, André Gide, Christoph Hein, Monika Maron, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, Bodo Kirchhoff, Erich Mühsam, Brigitte Reimann, Bernhard Schlink, Sofija Tolstaja, Leon de Winter sowie Momentaufnahmen von Herta Müller, Daniel Kehlmann, Navid Kermani, Michael Kleeberg, Terézia Mora und Zeruya Shalev.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783835348554

SCHLUSSBILD
MIT MOMENTAUFNAHMEN

HERTA MÜLLER

Hamburg, 3. November 1992
Sie kam als Rumäniendeutsche 1987 in den Westen, heute wohnt sie im Hamburger Stadtteil Altona. Die zierliche und energische Dichterin aus dem Banat, 39 Jahre alt, beabsichtigt, sich in wenigen Tagen, am 9. November, an einer Aktion zu beteiligen, bei der auch andere Schriftsteller erwartet werden wie Wolf Biermann, Rolf Hochhuth, Walter Kempowski, Siegfried Lenz und Monika Maron. Unter dem Motto »Eine Nacht in Deutschland« wollen sie Asylantenheime besuchen, aus ihren Werken vortragen und diskutieren. Ein Protest gegen die Angriffe auf Ausländer, vor allem in den neuen Bundesländern. Aber kann das Projekt helfen, werden sie überhaupt verstanden? Oder ist alles bloß gut gemeint? Fragen, die mein Kollege Martin Doerry und ich an diesem Dienstag-Vormittag daheim bei ihr in einem »Spiegel«-Gespräch klären wollen: ein Beitrag des Kulturressorts zur geplanten Titelgeschichte über »Abschiebung«, der zwölfte Titel seit 1980 zum Thema Asylrecht.
»Natürlich wird die Situation schwierig sein«, sagt Herta Müller. »Die Leute verstehen sicherlich nicht, was man vorliest. Die Hauptsache ist das Gespräch danach.« Das Ganze sei zunächst einmal eine Solidaritätserklärung. Aber, so fragt sie zurück, »wie macht man das Richtige, was wäre das Richtige?« Auch sie sei ja eigentlich eine Ausländerin, mit dem kleinen Unterschied, dass Deutsch ihre Muttersprache ist. Sie kenne die Erfahrung, einer Minderheit anzugehören. »Das habe ich ja schon in Rumänien erlebt«, sagt sie. »Und innerhalb der deutschen Minderheit gehörte ich ja wiederum zu einer noch kleineren, nicht eben wohlgelittenen Minderheit, wegen meiner Bücher vor allem. Dann kam ich nach Deutschland und war plötzlich eine Rumänin. Und dann habe ich auch noch ein Jahr in Rom gelebt. Dort galt ich als Deutsche. Ich musste also erfahren, wie man hin- und hergeworfen wird durch diese Bezeichnungen. Und wie wenig sie im Grunde über eine Person sagen.«
Das treibt sie um. Was aber treibt sie zum Schreiben? Fällt es ihr leichter hier, ohne die Angst vor den allgegenwärtigen Augen des Geheimdiensts? Nein, sagt Herta Müller. Vor drei Jahren schon hat sie in einer Poetik-Vorlesung vor Studenten erklärt: »Die Angst vor dem Satz, der Unwille zum Schreiben – es ist fast ein Widerwille –, ist der einzige Grund, weshalb ich es tu.« Paradox und scheinbar leichthin war das formuliert, mit jener eigenwilligen und betörenden Sprachlogik, die dieser Autorin eigen ist und über die sie traumwandlerisch verfügt.
In ihrem gerade erschienenen Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger erfährt die Romanheldin die Bedrohung durch die Securitate. Vor allem muss die Lehrerin Adina erleben, dass dieser Geheimdienst weiterhin aktiv ist. Geschrieben ist die Geschichte in einer lyrischen Sprache unter Verzicht auf eine lineare Erzählung, die Bilder und Szenen stehen scheinbar unverbunden nebeneinander. Keine leichte Lektüre für ungeübte Leser.
Die Autorin protestiert. »Die Dinge sind doch auch in der Wahrnehmung, auch in der Wirklichkeit zerhackt. Sie ergeben immer erst im Nachhinein ein Bild. Das sogenannte Ganze entsteht erst in der Projektion, in der Übersicht, die man danach hat. Der Titel des Buchs erklärt sich so, dass ein Fuchsfell der Lehrerin in ihrer Abwesenheit von Mal zu Mal mehr zerstückelt wird. Zuerst ist der Schwanz abgetrennt, dann die Beine – und dann, nach dem Sturz Ceauşescus, wird noch der Kopf abgeschnitten.«
Der Roman endet melancholisch. Einer der letzten Sätze lautet: »Das verbotene Lied hat sich durchs Land gesungen, jetzt drückt es am Hals, wenn es um sich greift, es ist stumm.« Politische Resignation? »Aussichtslos scheint mir die Lage tatsächlich in Rumänien zu sein.« Aber auch in Deutschland sehe es derzeit nicht gut aus. »Wenn man sich vorstellt, wie schnell diese Angriffe auf Ausländer zur Selbstverständlichkeit geworden sind und wie viele Überfälle es schon gegeben hat!« Wie erklärt sie sich die Heftigkeit der Angriffe auf dem Gebiet der ehemaligen DDR? »Diese Gesellschaftssysteme in Osteuropa, ob in der DDR oder in Rumänien, haben Menschen mit ähnlichen Schäden geprägt. Das Leben mit der Opportunität, der Feigheit, der Armut und der Bespitzelung hat Spuren hinterlassen.« Was speziell die Ex-DDR angehe: »Man ist in die Vereinigung hineingelaufen und hat sich davon viel versprochen; man hat gehofft, für immer und ewig von Osteuropa wegzukommen. Die Menschen wollten zum Westen gehören, die D-Mark war das sichtbare Zeichen dieses Wunsches. Natürlich haben sich diese Menschen auch Wohlstand versprochen, schnellen Wohlstand. Und diese Hoffnung ist nun bitter enttäuscht worden. In ihrem Zorn prügeln die Ostdeutschen die Polen zurück über die Grenze, sie prügeln die rumänischen Roma, denn sie erkennen sich in diesen Asylanten wieder. Sie sehen sich, wie sie vor drei Jahren selber noch waren.«
Dass die Bundesregierung kürzlich ein Abkommen mit Rumänien unterzeichnet hat, das einer schnellen Rückführung rumänischer Asylbewerber, insbesondere der Roma, dienen soll, sieht Herta Müller mit Schrecken: »Wenn zurzeit in Rumänien jemand verfolgt wird, so sind es die Roma. Angeblich hat sich ja irgendeine Untersuchungskommission erdreistet, das Gegenteil zu behaupten. Aber fragen Sie die Menschenrechtsorganisationen, fragen Sie das Rumänien-Komitee der Heinrich-Böll-Stiftung: Man weiß sehr genau, wie viele Häuser, ja ganze Straßenzüge angezündet wurden.«

Nachtrag (2009)

Siebzehn Jahre später wurde Herta Müller der Nobelpreis für Literatur zugesprochen. Das war überraschend, nicht nur weil damit – nach Günter Grass und Elfriede Jelinek – innerhalb von nur zehn Jahren zum dritten Mal der deutschsprachigen Literatur diese Ehre zuteilwurde, sondern mehr noch deswegen, weil diese Autorin bis dato, schon gar im Ausland, wenig bekannt war. Ihr Werk konzentriert und beschränkt sich weitgehend auf die Darstellung einer wesentlichen autobiographischen Erfahrung, auf die bis in alle Poren erlebte Gewalt und Brutalität des Totalitarismus, des staatlichen Terrors am Beispiel der rumänischen Securitate. Wahrscheinlich war genau das – zum 20. Jahrestag der Überwindung der sozialistischen Diktaturen – ein wichtiger Grund dafür, gerade diese Dichterin auszuzeichnen, die diesen Schrecken anschaulich gemacht hat wie kaum ein anderer europäischer Gegenwartsautor.
Ein zweites durchgängiges Thema bei Herta Müller ist die Erfahrung der Kindheit in einem rumänisch-schwabendeutschen Dorf: Sie kam 1953 in Nitzkydorf im Banat zur Welt, Deutsch war ihre Muttersprache, Rumänisch lernte sie erst als Jugendliche. Die Angst vor dem Verstummen, vor der Wehrlosigkeit saß tief – darin treffen sich beide Themen. In ihrem Prosadebüt Niederungen – 1982 nach langer Verzögerung und zensiert in Rumänien, zwei Jahre später vollständig im Westen publiziert – steht die Ich-Erzählerin in jungen Jahren bei einer dörflichen Beerdigung am frischen Grab und fühlt sich aufgefordert, etwas zu sagen, eine Rede zu halten: »Alle sahen mich an. Es fiel mir kein Wort ein. Die Augen stiegen mir durch die Kehle in den Kopf. Ich führte die Hand zum Mund und zerbiss mir die Finger.« Knapper lässt sich die Lähmung kaum fassen: die bohrenden Blicke, die erst die Kehle zuschnüren und dann das Gehirn blutleer werden lassen, so dass man die Worte nicht findet, kein einziges Wort.
Herta Müller war inzwischen von Hamburg nach Berlin gezogen. Sie hatte vier Romane und weitere Prosawerke, Gedichte und Sprachcollagen veröffentlicht, dazu eine Reihe von Vorträgen, Essays und Interviews, in denen sie die autobiographischen Grundlagen deutlich machte – bis hin zu jener Vorlesung in der Schwedischen Akademie in Stockholm im Dezember, in der sie über eine besonders perfide Methode der Securitate sprach, nämlich jene als Spitzel zu denunzieren, die wie Herta Müller eine Zusammenarbeit verweigert hatten: »Gegen Angriffe kann man sich wehren, gegen Verleumdung ist man machtlos. Ich rechnete jeden Tag mit allem, auch mit dem Tod. Aber mit dieser Perfidie wurde ich nicht fertig. Keine Rechnung machte sie erträglich. Verleumdung stopft einen aus mit Dreck, man erstickt, weil man sich nicht wehren kann. In der Meinung der Kollegen war ich genau das, was ich verweigert hatte. Wenn ich sie bespitzelt hätte, hätten sie mir ahnungslos vertraut. Im Grunde bestraften sie mich, weil ich sie schonte.«
Das ist bei der Nobelpreisträgerin schwer voneinander zu trennen: die lyrisch getönte Literatur einerseits und die messerscharfe Prosa ihrer Kommentare und Einlassungen andrerseits. »Es gehört alles in einen Schädel«, sagte sie 1992 in unserem Gespräch. »Die Radikalität einer Haltung kann ja nur entstehen, wenn alles zusammenbleibt, wenn das nicht auseinanderfällt. Man ist nur eine Person.« Als sie 1987 mit ihrem damaligen Mann Richard Wagner gemeinsam in den Westen kam, freigekauft von der Bundesregierung, glaubte Herta Müller zunächst noch daran, hier »neue Themen zu finden und mir ein anderes Detail der Realität sprachlich zugänglich zu machen«. Doch sie blieb ihrem Haupt- und Lebensthema unverdrossen treu, auch wenn ihr gerade das von der Kritik immer wieder vorgeworfen wurde und wohl auch ein größeres Publikum zunächst fernhielt. Es ist aber gerade dieses Insistieren, es ist das Manische, gelegentlich auch Angestrengte ihres Schreibens, das am Ende die Stärke ihres Werkes ausmacht.
Der wenige Wochen vor der Vergabe des Nobelpreises publizierte Roman Atemschaukel sieht vom eigenen Schicksal der Autorin ab: Erzählt wird die Leidensgeschichte eines Rumäniendeutschen, der im Alter von siebzehn in ein sowjetisches Zwangsarbeiterlager in der Ukraine geschickt wird, eines Mannes, hinter dem sich der Lyriker Oskar Pastior (1927–2006) verbirgt, mit dem Herta Müller dieses Buch eigentlich gemeinsam schreiben wollte und auf dessen mündlichem Bericht der Text basiert. Zugleich schwingt die Lebensgeschichte von Herta Müllers Mutter mit, die ein ähnliches Schicksal zu erleiden hatte – und insofern hat auch dieser bedrückende Roman eine autobiographische Grundierung. Atemschaukel war im rechten Moment erschienen, um für das nun weltweite Interesse an der Schriftstellerin bereitzustehen. Vom Kind, das voller Angst die Blicke der Erwachsenen auf sich spürt, von der jungen Frau, die von der Securitate schikaniert und fast in den Selbstmord getrieben wird, bis zu der Übergabe des Nobelpreises in Stockholm, vor den Augen der Weltöffentlichkeit: was für ein Weg, welch ein Triumph.

ZERUYA SHALEV

Jerusalem, 27. Juni 2000
So wünschen sich Eltern ihre Tochter: Ja’ara ist eine strebsame junge Frau, verheiratet mit einem netten Mann, Joni, an dem es wenig auszusetzen gibt. Sie arbeitet als wissenschaftliche Assistentin an der Universität, der Dekan schätzt sie, bis zum Jahresende soll die Dissertation fertig sein, dann das Baby in Angriff genommen und eine Wohnung gekauft werden. Ein gradliniger Lebensweg scheint da vorgezeichnet.
Doch es wird anders kommen, das deutet die israelische Autorin schon in den ersten Zeilen ihres Romans Liebesleben an. Ja’ara besucht ihre Eltern, und es öffnet ihr ein Fremder, ein Freund des Vaters, wie sich herausstellt. Arie, so sein Name, ist ein Mann mit irritierender Ausstrahlung, der lange im Ausland gelebt hat und nun überraschend zu Besuch kommt. Ja’aras Mutter aber weigert sich, ihn zu sehen, wartet wütend im Bett darauf, dass dieser Arie wieder verschwindet. Tochter Ja’ara ist verwirrt und fasziniert, und ihre jähe Zuneigung zu Arie wird ihr Leben auf den Kopf stellen.
Es war eine Zufallsentdeckung im Frühsommer 2000, der Griff zu einer der vielen ungelesenen Neuerscheinungen, einem Roman aus Israel, dessen Cover mir gefiel und mich neugierig machte. Von der Autorin hatte ich noch nie gehört. Ich nahm das Buch mit in den Urlaub und war auf Anhieb fasziniert. Es stellte sich heraus, dass der Roman schon vor Wochen in deutscher Übersetzung erschienen, aber ohne großes Echo geblieben war. Dabei hatte das Buch schon 1997 in Israel Furore gemacht.
Ich wollte die Autorin Zeruya Shalev kennenlernen. Über den deutschen Verlag wurde ein Termin vereinbart. Flug und Ankunft verliefen unproblematisch. Auf dem Flughafen von Tel Aviv standen zahlreiche Militärmaschinen herum, auch jede Menge Oldtimer, von der Dakota bis zur Boeing 707, Verkehrsmaschinen, die anderswo längst außer Dienst gestellt sind. Von Tel Aviv aus ging es mit einem Taxi in der Mittagshitze nach Jerusalem, bei gemütlichem Tempo 100 und offenen Fenstern.
Die große schlanke Frau mit den langen schwarzen Haaren lebt seit fünf Jahren ganz bürgerlich mit ihrem Mann, einem Lyriker, und dem kleinen Sohn in einer bescheidenen Vierzimmer-Wohnung im Wohnviertel Rehawye, das früher einmal von Emigranten aus Deutschland bevorzugt worden war, auf rund 60 Quadratmetern. Zwei Töchter, 12 und 13 Jahre alt, jeweils aus früheren Ehen des Paars, bevölkern den kleinen Haushalt zusätzlich. Ihr Vater Modechai Shalev, einer der wichtigsten Literaturkritiker des Landes, lebt ebenfalls in diesem Wohnkomplex, der 1934 im Bauhaus-Stil errichtet wurde. »Next door«, wie die Tochter in ihrem melodiösen Englisch erzählt. Er sei stolz auf ihre literarische Karriere, habe es aber nicht über sich gebracht, Liebesleben vollständig zu lesen. »Die erotischen Passagen hat er überschlagen«, erzählt sie mit sympathischer Unbefangenheit. »Meine Mutter hat ihm genau notiert, welche Seiten er besser auslassen soll.« Ihr Roman habe zwar wenig Autobiographisches, der Gemütszustand ihrer Heldin sei ihr allerdings bestens vertraut. »Ich kenne die Kraft der Destruktion aus eigener Erfahrung, auch diese Form von Bedürftigkeit, die Sucht, einen Mann zu finden, der alle Probleme löst.«
In Ich-Form, fast atemlos, in ausschweifenden Satzgebilden, zumeist nur durch Kommata getrennt, erzählt Zeruya Shalev die Geschichte einer Sucht, von der die Heldin ergriffen wird, »weil alles, was weniger war als das, mich nicht mehr begeistern würde«. Die junge Frau ist in dieser Liebes- und Leidensgeschichte zugleich die Getriebene und die treibende Kraft. Die Erzählweise entspricht dem: Bericht, Dialog und innerer Monolog sind unauflösbar ineinander verwoben.
Liebesleben ist alles andere als eine vergnügliche Romanze zwischen einem älteren Herrn und einer jungen Frau. Was sich da abspielt, hat nicht einmal etwas mit Leidenschaft zu tun. Zwar empfängt Arie die Tochter seines alten Freundes bei sich daheim, doch vollzieht er den Akt stehend an der Wohnungstür (»dafür bist du doch gekommen«), wie eine Art Pflichtübung. Und er will die Sache auch nicht unbedingt fortsetzen. »Lassen wir es so«, sagt er. Sie aber verspürt den Wunsch, die Schmach durch einen neuen Versuch zu tilgen. Denn schließlich gebe es keinen Unterschied »zwischen einmal betrügen oder zweimal«, wie sie sich einredet.
Es kommt nur noch ärger und entwürdigender. Wie ein gelangweilter Lebemann nötigt Arie die junge Geliebte, Sex mit ihm vor den Augen eines anderen alten Mannes zu haben, eines Richters, der früher ebenfalls mit ihrem Vater befreundet war – und ermuntert diesen Zuschauer sogar zum Mitmachen. Immerhin fürchtet Ja’ara noch, der Richter könnte ihrem Vater davon erzählen, »ihm einen anonymen Brief schicken und ihm mitteilen, dass seine Tochter mit alten Kerlen fickt, statt sich um ihre Dissertation zu kümmern« – doch die Sucht wird dadurch nicht schwächer, die Lust auf etwas, »das ich, weil ich keine Wahl hatte, Körper nannte«, obwohl es eigentlich gar nicht so sehr Aries Körper ist, dem sie nah sein möchte, sondern »etwas anderem, mehr Innerlichem«.
Was sie wirklich sucht, weiß Ja’ara selber nicht, klar aber ist ihr: Bei ihrem Gatten Joni wird sie es nicht finden. Sex war von Anfang an nicht die Basis dieser Ehe, in wenigen Worten wird das Elend umrissen: »Ich fühlte seine Hände auf meinem Rücken, unentschieden, ob er mich streicheln oder zur Sicherheit massieren sollte.« Schon in der Hochzeitsnacht vermochte die Frischvermählte ihrem gutwilligen Mann einzureden, »es sei zu banal zu ficken, wenn alle es tun« – nun, nach der Erfahrung mit Arie, gelingt gar nichts mehr: »Wir hielten uns an den Händen und verflochten unsere Finger ineinander, nackt, aber geschlechtslos, wie Kinder im Kinderhaus eines Kibbuz.« Solche kleinen Hinweise erinnern daran, in welchem Land die Geschichte spielt. Doch die israelische Gegenwart, die jüdische Vergangenheit: das alles ist in diesem Roman nur ein fernes Echo für das erotische Kammerspiel.
Zeruya Shalev legt keinen großen Wert darauf, ihre Schauplätze genau zu benennen: »Ich wollte Israel nicht verstecken, aber es ging mir mehr um das, was sich im Inneren eines Menschen abspielt.« Sie selbst wurde in einem Kibbuz geboren, wie schon die Mutter, doch die wollte dem Kind die dort übliche Trennung von den Eltern ersparen, und so zog die Familie in eine kleine Stadt, wo der Vater zunächst als Lehrer arbeitete. Später ging es weiter nach Jerusalem. Hier studierte die Tochter nach dem Armeedienst Bibelwissenschaften (ein Fundus für ihre späteren Romane, wie sie sagt). Viele Jahre lang arbeitete sie als Lektorin in einem großen Verlagshaus, was ihr kaum Zeit zum Schreiben ließ. Mittlerweile ist sie Cheflektorin eines kleineren Literaturverlags, doch den nötigen Schub für die Arbeit am Roman Liebesleben brachte die Babypause vor fünf Jahren. D...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Die heimliche Dichterin. Sofja Tolstaja (1844–1919)
  6. Kopfsprünge in die Einsamkeit. André Gide (1869–1951)
  7. Der Anarchist und die Frauen. Erich Mühsam (1878–1934)
  8. Wir antiquierten Menschen. Günther Anders (1902–1992)
  9. Den menschlichen Dialog weiterführen. Friederike Mayröcker (1924–2021) und Ernst Jandl (1925–2000)
  10. Rebellisch aus Lebenslust. Brigitte Reimann (1933–1973)
  11. Wie ich ein Deutscher wurde. Jurek Becker (*unbekannt–1997)
  12. Ich hab’ ein freies Herz. Monika Maron (*1941)
  13. Einer Stimme folgen. Richard Ford (*1944)
  14. Missglückte Träumereien. Christoph Hein (*1944)
  15. Wir Nachgeborenen. Bernhard Schlink (*1944)
  16. Abgrund plus Handwerk. Bodo Kirchhoff (*1948)
  17. Vom Kino besessen. Leon de Winter (*1954)
  18. Ich stehe gern im Regen. Karen Duve (*1961)
  19. Schlussbild mit Momentaufnahmen
  20. Nachwort