Das Judenauto
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Das Judenauto

  1. 183 Seiten
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Das Judenauto

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Über dieses Buch

Wie tief hinab reicht das Erinnern?1962 erschien erstmals »Das Judenauto«. Jener Erzählzyklus, der zum erfolgreichsten Buch Franz Fühmanns werden sollte. »Ich hatte Erfahrungen, existentielle Erfahrungen..., die ich mitteilen wollte.« In 14 Kapiteln widmet sich Fühmann Ereignissen, in denen sich die Brüche und Abgründe in der deutschen und damit europäischen Geschichte der Jahre 1931 bis 1949 widerspiegeln. »Reportagen durch die Zeit« nannte er seine Erzählungen. Ziel war es, »eine Figur von unten zu zeigen; wie sieht sie sogenannte historische Ereignisse. Wie schaut es zum Beispiel im Alltag aus, wenn ein Weltkrieg ausbricht«. Fühmann erzählt mitreißend, bedrückend, anschaulich. Etwa wie sich Menschen freiwillig in eine Scheinwelt begeben, in der Fakten nur dann stimmen, wenn sie einem passen, eine Scheinwelt, durch die viele offenen, aber oft nicht sehenden Auges in den Untergang marschieren. Ein beklemmend aktuelles Buch.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783356022711

Jedem sein Stalingrad

Als die Schlacht um Stalingrad toste und der Rundfunk täglich versicherte, daß die endgültige Eroberung der Stadt an der Wolga nur noch eine Frage von Tagen sei, glaubte ich nicht daran, daß Stalingrad diesen Winter noch fallen würde; ich setzte seinen Fall für den Frühsommer an. Ich tat dies nicht etwa, weil ich unserm Rundfunk mißtraute; ich wußte es einfach nur besser, es konnte jetzt noch nicht fallen, der Rhythmus dieses Krieges im Osten schwang ja so klar! Zur milden Jahreszeit, wenn der Boden trocken und das Ackerland grün war, stieß die Front viele hundert Kilometer vor; in der Schlammperiode dann stockte der Vormarsch und blieb in den schmatzenden Wegen stecken, und im Winter schließlich erstarrte die Front oder zog sich auch, wie die Kälte ja alles zusammenzieht, einige Dutzend Kilometer in feste Stellungen zurück, um dann im Frühjahr wieder aufzutauen und im Mai dann wieder vorzuschnellen, Hunderte Kilometer weit in das riesige Reich des Ostens hinein, bis wir dereinst, vielleicht nach zehn, vielleicht nach zwanzig, vielleicht auch erst nach hundert Jahren, am Pazifik stehen würden, Wächter eines neuen Alexanderreichs. Nein, ich glaubte, als ich mir seufzend nach dem Nachtdienst in der Fernschreibzentrale die Wollsocken über die Fußlappen zog und danach wieder in die Stiefel fuhr, nicht daran, daß Stalingrad jetzt im Januar oder Februar fallen würde. Bei dreißig Grad Kälte war eine Stadt nicht zu erobern, das war irreal; jetzt, dachte ich, würden sich unsre Jungs um Stalingrad einigeln, und dann, im April, vielleicht im Mai, würde Stalingrad fallen; im Juni würden dann Sturmboote die Wolga überqueren, im August die Panzerspitzen vielleicht bei Uralsk oder Orenburg die Grenzscheide zwischen Europa und Asien erreichen, und ich dachte, daß, wenn die Front Uralsk oder Orenburg erreicht haben würde, wir dann nach Stalingrad vorverlegt werden würden, denn die Nachrichtenzentrale des Luftgaukommandos Ukraine lag immer ein paar hundert Kilometer hinter der Front. Zur Zeit lagen wir in Poltawa, im Herzen der Ukraine, und wenn die Panzerspitzen Uralsk oder Orenburg erreicht haben würden, würden wir nach Stalingrad, das dann natürlich wieder Zaryzin oder vielleicht gar Hitlerstadt heißen würde, vorverlegt werden, und es würde Sommer sein, blühender Sommer, und wir würden freier atmen, da die Front wieder vorstieß. Doch jetzt war das alles noch ein Traum, jetzt war es Winter, draußen heulte der Sturm, Palmblätter von Eisblumen verklebten die Fenster, und ich mußte, obwohl ich eben vom Nachtdienst gekommen war, hinaus, die gestörte Leitung zum Güterbahnhof in Ordnung zu bringen.
Ich war zwar Fernschreiber und hätte normalerweise, zudem noch nach dem Nachtdienst, nicht zum Kabelflicken hinaus gemußt, jedoch vor einigen Wochen war eine Musterungskommission durch die Etappe gegangen und hatte ein gutes Drittel unserer Nachrichtenmannschaft sowie unsern Telegraphenbautrupp an die Front geholt, so daß wir Übriggebliebenen doppelten Dienst tun und nebenbei auch die Außenarbeiten verrichten mußten. Mißmutig dachte ich, während ich mein Kopftuch umband, an die kommenden Stunden: Wenn ich Glück hatte, war das Kabel in der Nähe der Zentrale gerissen, und ich konnte in einer Stunde fertig sein und schlafen gehn; hatte ich Pech, mußte ich vielleicht mit meiner Kabelrolle die acht Kilometer bis zum Güterbahnhof laufen, und dann war der Vormittag vertan; das Mittagessen, das meine Kameraden für mich mitfassen würden, war dann sicher schon kalt geworden: kalter Erbsbrei oder kalte Stampfkartoffeln mit kalter Soße, und wenn viel Betrieb war, worauf alle Anzeichen hindeuteten, würde ich nachmittags wieder Dienst tun müssen! Ade, du schöner freier Tag, an dem ich mich einmal hatte ausschlafen und dann ins Soldatenheim hatte gehen wollen! Der Sturm jaulte vorm Fenster. Fluchend schnallte ich mir den Sicherungsgürtel unter die Brust.
Ich wollte gerade die Stube verlassen, da schrillte das Telephon. Ich hob den Hörer ab und hörte zu meiner Überraschung die Stimme des Inspektors Eichel, des Kasinooffiziers, der vorübergehend den erkrankten Leiter des Arbeitseinsatzes vertrat. Ob es stimme, daß ich allein entstören ginge, fragte Inspektor Eichel, und als ich verblüfft bejahte, denn Inspektor Eichel pflegte sich sonst wenig um unser Wohlergehn zu kümmern, sagte Inspektor Eichel, daß soeben zwei Hiwis, ukrainische Hilfswillige, eingetroffen seien, die uns von nun an für grobe Arbeiten zur Verfügung ständen, und er sagte, er werde sie mir sofort hinüberschicken. Ich bedankte mich, er klingelte ab, und ich überlegte, innerlich grinsend, welche Gefälligkeit der smarte Inspektor bei meinem nächsten Nachtdienst als Gegenleistung verlangen werde: ein Gespräch nach Bordeaux, wo er von einem Bekannten, der dort in der Zentralmarketenderei saß, Kognak für den Stab bezog, oder eine Verbindung nach Dortmund zu seiner Frau. Wahrscheinlich Bordeaux, dachte ich, denn ich hatte erst gestern gehört, wie unser Dienststellenleiter, Major Högner, den Inspektor angepfiffen hatte, daß es im Kasino so fad sei und nichts Ordentliches zu trinken mehr gebe. Mir war es recht, Bordeaux war leichter zu erreichen als Dortmund. Die Tür wurde aufgerissen, ein Gefreiter von der Schreibstube kam herein.
»Kriegst du die zwei Hiwis?« fragte er.
Ich bejahte.
»Rein mit euch!« sagte der Gefreite und machte eine fordernde Handbewegung. Die beiden Hiwis traten durch die Tür.
Ich sah neugierig auf; mich interessierten die beiden. Ich hatte, obwohl ich ihn suchte, bisher keinen Kontakt zu der Bevölkerung gefunden: Mit Kriegsgefangenen kam ich nicht zusammen; Ljubow, Tamara und Olga, die Kasino-Serviererinnen, blonde Walküren mit mächtigen Busen und Hinterteilen und wippenden Wangen, aus denen kirschrot bemalte Münder knallten, waren nur für die Offiziere da und gaben sich mit einem lausigen Gefreiten, wie ich einer war, nicht ab; die Reinemachefrauen und Dienstmädchen schüttelten nur die Köpfe, wenn wir sie etwas fragten, und sagten: »Nix Deutsch« und rannten schnell weg, daß das Dreckwasser aus dem Eimer schwappte, und die Bürger der Stadt mieden unsre Nähe und sahen uns immer so feindselig an, wenn wir vorübergingen, und verdrückten sich rasch in die Häuser, und wir spürten noch durch die verhangenen Fenster ihre Blicke in unserm Rücken wie Messer stecken. Nun aber würden zwei wahre Söhne des heiligen Mütterchens Rußland kommen, und ich hatte mir vorgestellt, daß nun zwei knebelbärtige Kosaken in die Stube treten würden oder zwei aus der Gilde der Gottsucher mit flammenden Augen und bleichen Stirnen, wächsern wie die Lilienkelche, aber durch die Tür traten, verlegen, linkisch, jeder ein zusammengeschnürtes Bündel in Händen, zwei große blondschöpfige Jungen meines Alters, gesunde Menschen, saubre Gesichter, breite Schultern, grade Rücken, und ich dachte, als ich sie sah, sofort, daß sicher deutsches Blut in ihren Adern fließe. Vielleicht waren sie versprengte Wolgadeutsche, vielleicht gar Abkömmlinge von Ruriks Geschlecht, Urenkel des Germanenzugs, den die Russen einst ins Land gerufen hatten, damit er ihnen, wie heute, einen Staat baue und leite. Ich gab ihnen die Hand, sie nahmen sie scheu. Der Kamerad, der sie hergebracht hatte, war längst gegangen.
»Ihr Deutsch verstehn?« fragte ich, absichtlich radebrechend.
»Ja, Herr, wir ein wenig Deutsch verstehn und reden«, sagte einer, der Kleinere der beiden, und der andere nickte.
»Stammt ihr aus einer deutschen Siedlung?« fragte ich.
»Nein, Herr, wir in Schule gelernt«, sagte der Hiwi.
»In einer deutschen Schule?« fragte ich verwundert.
»Nein, Herr, in ukrainischer Schule«, sagte der Hiwi, und er sagte, hie und da nach einem passenden Wort suchend, daß in ihrer Schule ab der fünften Klasse Deutsch als erste Fremdsprache unterrichtet worden sei. Ich hörte ihn ungläubig an, doch dann fiel mir ein, daß ich in manchen der Bauernhäuser, in denen wir einquartiert gewesen waren, deutsche Bücher gefunden hatte: Schulbücher, Lesehefte, Romane, Gedichte, und ich lächelte und dachte, daß ohne deutsche Kultur eben kein Volk auskommen könne, auch das bolschewistische Rußland nicht, und ich dachte befriedigt, daß unter deutscher Herrschaft auch aus Rußland wieder etwas Ordentliches werden würde, keine bolschewistische Pestbeule mehr, nein, ein sauberer, geordneter, zivilisierter Staat, das würden wir schon hinkriegen, wir hatten ja schon ganz andre Sachen hingekriegt! Die Hiwis standen vor der Tür und drehten ihr Bündel in den Händen; ich nickte ihnen wohlwollend zu und fragte sie nach ihren Namen. Der kleinere hieß Nikolai, der andre Wladimir, und ich nannte meinen Namen und sagte: »Auf gute Kameradschaft!«, und die beiden sagten: »Ja, Herr!«, und ich sagte: »Laßt das, wir sagen einander natürlich du!« Nikolai nickte erfreut; Wladimir schien verlegen. »Legt eure Bündel erst mal auf mein Bett«, sagte ich, und Nikolai und Wladimir legten ihre Bündel vorsichtig auf die blaukarierte Decke meines Betts. Hoffentlich haben sie keine Läuse, dachte ich erschrokken und wollte schon die Bündel auf den Boden tun, doch dann ließ ich sie auf meinem Bett liegen. Draußen der Sturm schnaubte. Ich zeigte auf eine Kabelrolle. »Gehn wir!« sagte ich, und wir gingen hinaus.
Es war etwas linder geworden; zwar schnaubte der Sturm, doch er pfiff nicht eisig, er hauchte aus breitem Maul Meerluft und blies bauchige Wolken vor sich her, Wattemassen, die ein wenig wärmten und uns auf Schnee hoffen ließen, weichen, weißen, wärmenden Schnee mit klarem Himmel darüber und einem milden Sonnenball, des Sommers Prophet. Unsre Zentrale mit ihren Baracken lag ein Stück vor der Stadt am Fuß eines Mergelhügels: Ringsum bleckte Eis, das weite Land lag verharscht, der Harsch war zerklüftet, in Schorfen übereinan-dergetürmt, die Ränder scharfkantiges Grau, aus dem sich die blauzäunige Stadt erhob wie just aus der Erde gestampft. Nun, da wir den Hügel nicht mehr im Rücken hatten, pfiff der Wind, und wir gingen schnell; in der Stadt, die wir zur Gänze durchqueren mußten, würde es vielleicht milder sein. Die Wolken torkelten, ein Hund jaulte bang. Aus den Essen der eisüberzogenen Dächer stieg kein Rauch, nur die grünen Kuppeln füllten den Himmel. Die Stadt schien menschenleer; die Straßen waren ohne Passanten; in den Läden brannte kein Licht, obwohl der Morgen noch trüb war. In einem Torbogen standen zwei vermummte Frauen; als sie uns sahen, verschwanden sie lautlos im Hof und zogen das Tor hinter sich zu. Es war windstill geworden, fast warm, keine zwanzig Grad. Wie auf Verabredung gingen wir langsamer. Aus der Seitenstraße kam ein Pope geschritten; die Hiwis verneigten sich tief, als sie ihn sahen, und der Pope hob ihnen sein Brustkreuz entgegen, ein schweres, silbernes Kreuz, an dem ein Geschundener hing. Aus dem Soldatenheim scholl Lärm, und ich dachte, daß ich, obwohl es unerwünscht war, nach getaner Arbeit mit den Hiwis ins Soldatenheim gehn und ihnen Tee und Kekse, etwas anderes gab es ja nicht, spendieren würde.
Die Hiwis waren einen Augenblick stehengeblieben, um die Seiten an der Trommel zu wechseln; sie hatten gerade vor einem Laden gehalten, und ich schaute gelangweilt durchs blinde Fenster: Zerbrochene Nippes lagen da auf zerschlissenem Samt, altväterlicher defekter Kram, für hundert Karbowanzen eine lädierte Zuckerzange, für fünfzig ein Kamm mit ausgebrochenen Zähnen, für zweitausend ein Paar zerlöcherte Schuhe, dazwischen ein Kranz aus Papierblumen, Stoffreste, ein Lack-bild und eine Gitarre, deren Steg an den Saiten baumelte: Das also war das Arbeiterparadies, und wie mußte das erst ausgesehen haben, bevor wir hierhergekommen waren und wenigstens etwas Kultur und Wirtschaft und die Freiheit vom bolschewistischen Joch gebracht hatten! Denn als Befreier waren wir ja gekommen; wie in jedem Laden hing auch hier ein Bild des Führers, und unter dem Bild stand: GITLER OSWOBODITEL, Hitler der Befreier, und ich dachte stolz, daß wieder einmal wir Deutschen es waren, die Europa vor der Barbarei des Ostens bewahrten, so wie einst vorm Sturm der Araber, Hunnen, Mongolen und Türken, und ich dachte, wie herrlich das sei, daß nun die Völker Europas endlich geeint gegen ihren Todfeind kämpften: Deutsche, Italiener, Rumänen, Ungarn, Slowaken, Kroaten, Flamen, Franzosen, Luxemburger, Niederländer, Spanier, Montenegriner, Mauren, Bulgaren, Araber, Finnen, Letten und fern im Osten die tapfren Japaner und nun auch die besten Söhne des russischen Volks! Ich trat neben die Hiwis, die indes weitergegangen waren, und fragte, woher sie stammten, und Nikolai sagte, sie stammten aus einem Dorf in der Nähe Charkows, wo ihre Väter einst Bauern gewesen waren, die reichsten Bauern im Dorf und gefallen im Kampf gegen die Kommissare, die dem Dorf den Kolchos aufgezwungen hatten.
Was war ein Kolchos?
Wir trotteten dahin; die Hiwis schleppten die Kabeltrommel, und ich grübelte nach, was so ein Kolchos denn eigentlich war. Ich wußte es nicht genau; ich hatte in der Schule nur gehört, daß der Kolchos für den Bauern die Hölle auf Erden sei, und so stellte ich mir denn ein Gut vor, das einem Kommissar, also einem reichen Juden, gehörte, der seine Leibeigenen, die einst freie Bauern gewesen waren und deren Land der Kommissar geraubt hatte, von Tschekisten zur Fron aufs Feld knuten ließ.
»Kolchos schlecht?« fragte ich.
»Kolchos schlecht, Herr!« sagte Wladimir und sagte heftig etwas auf ukrainisch, was ich nicht verstand, wahrscheinlich einen Fluch.
»Kolchos schlecht, Herr!« wiederholte Nikolai und spuckte aus. »Tschort s nime, chob tvoju blegu matj!«
»Und jetzt nix mehr Kolchos!« sagte ich.
Nikolai zuckte mit den Schultern. »Nix mehr Kolchos, Herr«, sagte er und erklärte, daß die Bolschewisten alle Dorfbewohner hatten evakuieren wollen, doch daß er sich mit seiner Mutter und seiner Schwester und Wladimirs Leuten versteckt gehalten habe, bis die Wehrmacht gekommen sei.
»Und nun seid ihr nix Kolchos mehr und wieder Bauern?« fragte ich.
Beide schwiegen.
Ein Schlitten bimmelte vorbei.
»Na, ihr werdet schon Land bekommen, es wird ja alles geregelt werden«, sagte ich rasch, und ich sagte ihnen, daß ich mich nach den Formalitäten erkundigen wolle, die notwendig seien, um das Land wiederzubekommen, und Nikolai sagte leise: »Danke, Herr!« Wladimir seufzte und schüttelte den Kopf.
Indes hatten wir die Stadt verlassen; rings das Feld lag frei, ein Meer aus Eisschorf, auf dessen Wogenkämmen Schwärme von Krähen trieben. Ich sah nach dem Kabel hoch: So weit ich es sehen konnte, hing es unversehrt zwischen den Masten, sicher würden wir noch weit zu gehen haben. Die Kälte zog die Rippen hoch; der Wind schnaubte; in den Bäumen die zehn Gehenkten pendelten starren Leibs wie Klöppel in den Glocken der runden Lindenkronen. Ich hatte – es war vor drei Tagen gewesen, und ich war gerade von einer Entstörung gekommen – gesehen, wie sie hingerichtet worden waren: Sie waren auf hochgekippten Kisten gestanden, zerfetzte Kleider am Leib, den Strick um den Hals, und sie hatten die Fäuste geballt und vorm Sturz in den Tod noch einen Satz zu den Ukrainern gerufen, die von Posten hier herausgeführt worden waren, die Exekution zur Warnung vor ähnlichen Taten mit anzusehn, denn die zehn wurden als Geiseln gehenkt, da ein Gleis gesprengt worden war. Es waren zehn Bauern gewesen und sie hatten zehnfach mit fester Stimme gesprochen, eh sie in den Tod gestürzt waren, und nun hingen sie hier schon den dritten Tag. Mich fror; die Gehenkten hatten keine Schuh. Ein LKW fuhr vorüber; er spritzte Eis. Die Hiwis schlurften, den Hals eingezogen, die Arme eng an den Leib gepreßt, auf der glatten Straße dahin und stampften im Schlurfen mit den Füßen hart auf. Ich zog die Schultern zu den Kinnbacken hoch, den Hals ein wenig einzuhüllen. Das Kopftuch setzte Eis an. Vor uns die Straße lief schnurgerade hin; wir mußten bald am Bahnhof sein, und das Kabel hing immer noch straff an den Masten; kein Riß war zu sehn, keine erkennbare Störung, und ich dachte schon entsetzt, daß das Kabel vielleicht gar nicht gerissen, sondern nur irgendwo an einem Mast abgeschabt war, so daß der blanke Draht Kontakt mit der Erde hatte, und daß ich dann stundenlang diese Kontaktstelle würde suchen müssen, da, endlich, kurz vor dem Bahnhof, dessen Gleise stumpf blinkten, sah ich den Schaden: Zwischen Mast und Mast war das Kabel in der Mitte durchgerissen, und je eine Hälfte hing schlaff an ihrer Stange wie die Schnur einer riesigen Kutscherpeitsche.
Es war ein leicht zu behebender Schaden, und was ich zu tun hatte, schien einfach: Ich mußte die Kabelhälften am Mast abzwicken und dann durch ein neues Stück Kabel ersetzen, normalerweise die Arbeit weniger Minuten. Ich schnallte die Steigeisen an und turnte, das Ende des neu zu legenden Kabels, das von der Trommel ablief, zwischen den Zähnen, den Mast hinauf; die stumpfen Spitzen des Eisens fanden in dem gefrorenen Holz schlecht Halt; zweimal rutschte ich ab und konnte mich am Sicherungsgurt noch fangen, dann endlich kam ich an die Spitze. Unten die Hiwis hüpften umher und schlugen mit den Armen um sich und rieben sich die Hände. Ich beneidete sie: Ich konnte mit den dicken Handschuhen an den Händen die dünnen Drähte nicht führen, und wenn ich mit bloßen Händen arbeitete, blieb das blanke Metall an den Fingern kleben. Schließlich wurden die Fingerkuppen weiß und ich mußte hinunter; die Hiwis traten mit den Stiefeln eine Harschscholle klein und rieben mir die Hände mit Eis ab, dann klomm ich wieder hoch. Wie lange die Arbeit gedauert hat, weiß ich heute nicht mehr; ich weiß nur, daß, als ich vom zweiten Mast stieg, mir Eis die Augen verklebte. Der Wind strich raschelnd über die Schollen. »Wir gehn noch ein paar Schritte bis zum Bahnhof, uns aufzutaun«, sagte ich mit gefrorenem Hauch. Die Hiwis nickten.
Natürlich gab es keine Gaststätte und keinen Warteraum auf dem Güterbahnhof, doch auf den Dämmen zwischen den Gleisen standen ein paar Baracken, und ich hoffte, irgendeine Schreibstube mit einem glühenden Kanonenofen zu finden, in dessen Nähe wir auftauen und ein wenig Wärme für den Rückweg speichern konnten. Die erste Baracke, in die wir einzudringen vers...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Das Judenauto
  5. Gebete zum heiligen Michael
  6. Die Verteidigung der Reichenberger Turnhalle
  7. Die Berge herunter
  8. Ein Weltkrieg bricht aus
  9. Katalaunische Schlacht
  10. Entdeckungen auf der Landkarte
  11. Jedem sein Stalingrad
  12. Muspilli
  13. Pläne in der Brombeerhöhle
  14. Gerüchte
  15. Regentag im Kaukasus
  16. Ein Tag wie jeder andere
  17. Zum ersten Mal: Deutschland
  18. Anhang: Auszug aus einem Interview, 1982
  19. Impressum