Teil III Interaktion biologischer und soziokultureller Faktoren
19 Männer und Frauen denken anders
19.1 Intelligenztests
Nachdem wir in den beiden ersten Teilen des Buches soziokulturelle und biologische Faktoren dargestellt haben, die als Erklärung für die Ausbildung geschlechtstypischen Verhaltens in Betracht kommen, wollen wir uns im dritten Teil einzelne Entwicklungsbereiche vornehmen und herausarbeiten, wie die genannten Faktoren zusammenspielen, um die beobachteten Unterschiede hervorzubringen.
Wir beginnen mit dem Denken bzw den kognitiven Leistungen, wie man es in der Fachsprache auszudrücken vorzieht. Kognitive Geschlechtsunterschiede finden in der Psychologie eine vergleichsweise breite Beachtung, weil sie empirisch leichter nachzuweisen sind als emotionale und motivationale Besonderheiten (Überblick s. Hirnstein & Hausmann, 2010). Man kann Tests mit standardisierten Aufgaben einsetzen und bekommt gut quantifizierbare Ergebnisse, die geeignet sind, den Unterschied in Maßzahlen zu verdeutlichen. Das klingt eher trocken, und man übersieht leicht, dass solche Punktwertdifferenzen auch von qualitativ verschiedenen Perspektiven künden können, unter denen die Alltagserfahrung verarbeitet wird. Das folgende Beispiel mag das verdeutlichen.
Fordert man Jungen und Mädchen auf, einen Ball zu beschreiben, dann erhält man von Mädchen häufig Antworten der folgenden Art: »Er ist rund, er ist mit Luft gefüllt, er sieht bunt aus, er ist aus Gummi«. Jungen dagegen sagen eher, der Ball rolle, hüpfe, sei etwas, womit man Fußball spielen oder Fenster einwerfen könne.
Dass Frauen und Männer sich im Denken unterscheiden, ist den Konstrukteuren von Intelligenztests schon ziemlich bald aufgefallen. So ergibt sich nämlich regelmäßig das Problem, wie sie bei der Zusammenstellung der Aufgaben vermeiden können, dass eines der Geschlechter im Gesamttest benachteiligt wird.
Besonders augenfällig war dabei von Anfang an der Befund, dass Männer deutlich besser als Frauen bei räumlich-visuellen Aufgaben abschneiden. Die Unterschiede sind durchaus beachtlich (
d = 0,5) und werden noch größer (
d = 1,0), wenn die Aufgaben unter Zeitdruck gelöst werden müssen (Voyer, 2011). Moderne Intelligenztests wie die Wechsler Adult Intelligence Scale (WAIS) haben diese Aufgabenart kurzerhand gestrichen. Aber auch bei anderen Aufgabentypen sind Geschlechtsunterschiede nachweisbar. So haben Frauen eine höhere Verarbeitungsgeschwindigkeit als Männer. Dies zeigt sich beispielsweise bei Aufgaben, in denen sinnlose Zahlen-
Buchstaben-Kombinationen möglichst schnell abgeschrieben werden, oder bei Aufgaben, in denen konzeptuell ähnliche Abbildungen von Gegenständen in zwei Reihen identifiziert werden müssen (s. Roivainen, 2011, für einen Überblick). Bei Rechenaufgaben dagegen schneiden Männer im Schnitt besser ab als Frauen, wie beispielsweise bei der WAIS, wobei wir auf dieses Thema in Kapitel 20 genauer eingehen werden (
Kap. 20). Entgegen der landläufigen Meinung punkten Männer und Frauen etwa gleich bei verbalen Intelligenzaufgaben, in denen beispielsweise das Verständnis von Vokabeln abgefragt wird (Irwing, 2012). Allerdings ist auch hier die Tendenz zu bemerken, dass verbale Aufgaben, bei denen von robusten und substantiellen Geschlechtsunterschieden ausgegangen werden kann, gar nicht erst in gängige Intelligenztests aufgenommen werden. So ist die Sprachproduktion in qualitativen Aspekten durchaus eine weibliche Domäne, wenn etwa Mädchen beim Vorlesen weniger Fehler machen als Jungen (Hyde & Linn, 1988; Cotler & Palmer, 1971).
Zusammengenommen sind Intelligenztests nicht unbedingt aussagekräftig, wenn man der Frage nachgeht, wie sich Geschlechtsunterschiede im Denken – etwa bei räumlich-visuellen und verbalen Fähigkeiten – äußern. Es lohnt sich also, andere Studien zu Rate zu ziehen. Allerdings muss es sich auch dabei um Leistungstests handeln, denn glaubt man der Selbsteinschätzung, sehen sich Männer den Frauen in allen Intelligenzbereichen überlegen – teilweise sogar haushoch (Syzmanowicz & Furnham, 2011).
19.2 Was sind visuell-räumliche Fähigkeiten?
Der Psychologe Thurstone hat als einer der ersten die Annahme vertreten, dass räumlich-visuelles Vorstellungsvermögen etwas mit Intelligenz zu tun haben könnte (Thurstone, 1938). Unter diesem Stichwort werden die folgenden Leistungen zusammengefasst:
• Wahrnehmung der Hauptraumrichtungen
• Raumorientierung
• Transformation räumlicher Bezugssysteme
• Umstrukturierung räumlicher Zusammenhänge
• Verständnis raumgebundener Kausalstrukturen
Eins vorweg: Bei genauerer Hinsicht leuchtet nicht unbedingt ein, dass diese Leistungen alle auf der gleichen Fähigkeit beruhen müssen (Halpern, 1992): Gleichwohl wollen wir sie einmal genauer betrachten. Unter Wahrnehmung der Hauptraumrichtungen versteht man neben der Unterscheidung von rechts und links vor allem die Fähigkeit, auch bei geneigter Körperlage die Richtung der Vertikalen angeben zu können. Probanden werden dabei in einem verdunkelten Raum in unterschiedliche Körperschräglagen gebracht und aufgefordert, eine Leuchtlinie so einzustellen, dass sie ihnen senkrecht erscheint. Dabei treten systematische Fehler auf, die indessen noch nicht geschlechtstypisch sind. Bietet man die Vertikale jedoch in einem visuellen Umfeld dar, das seinerseits geneigt ist, beispielsweise vor einem Streifenfeld oder in einem schrägstehenden quadratischen Rahmen, dann besteht bei allen Probanden die Tendenz, die anschauliche Senkrechte der visuellen Hauptachse dieses Umfeldes anzugleichen. Diese auch als »Feldabhängigkeit« bezeichnete Tendenz ist bei Frauen im Allgemeinen stärker ausgeprägt als bei Männern (d = −0,44) (Linn & Petersen, 1985). Daraus leitet sich pragmatisch die Konsequenz ab, dass Forscher, die die optisch-vestibuläre Interaktion bei der Wahrnehmung der Vertikalen analysieren, bevorzugt mit weiblichen Versuchspersonen arbeiten (Bischof & Scheerer, 1970).
Mit einem einfachen Test, der in der Abbildung 19.1 wiedergegeben ist (
Abb. 19.1), lässt sich dieser Geschlechtsunterschied anschaulich demonstrieren. Die Probanden haben die Aufgabe, die Wasserstandslinie in das geneigte Glas einzuzeichnen. Hier treten nun bei Frauen erstaunlich viele Fehlleistungen auf, selbst Studentinnen zeichnen die Linie schief anstatt horizontal ein, richten sich also offensichtlich nach dem Neigungseindruck des Glases.
Abb. 19.1: Testbild zur Prüfung der »Feldabhängigkeit«
Zur Raumorientierung zählen alle Leistungen, die dazu dienen, sich in einem Gebiet zu orientieren und zurechtzufinden, beispielsweise wenn man aus einer anderen Richtung kommt als der bisher gewohnten oder bei der Suche nach dem Ausgang aus einem Labyrinth. Auf die vom Sprachgefühl empfundene Beziehung dieser Kompetenz zur allgemeinen Intelligenz verweist die meist im übertragenen Sinne verwendete Rede vom »sich auskennen« (im Schweizerdeutschen noch deutlicher »drauskommen«). Ferner fällt in diesen Bereich die Fähigkeit, Richtungszeichen adäquat zu interpretieren, und schließlich auch das Zielen und Treffen beim Werfen, in dem Männer deutlich überlegen sind, was sich in einer Effektstärke von d = 1,0–2,0 niederschlägt (Kimura, 1992).
Männer scheinen sich bei ihrer Orientierung im Raum nach einer Art inneren Landkarte zu richten, mit deren Hilfe sie Winkel und Richtungen integrieren, um auf dieser Basis unreflektiert zu »wissen«, wo es hingehen muss. Seit es Computerspiele gibt, ist Sich-Zurechtfinden in virtuellen Räumen ein weiteres Anwendungsgebiet für die räumliche Orientierung, und auch hier sind Jungen und Männer im Vorteil (Halpern et al., 2007).
Selbstverständlich können sich auch Frauen orientieren; sie machen es nur anders als Männer. Sie halten sich in erster Linie an Ortsmarken, merken sich zum Beispiel, an welchem Gebäude man links oder rechts abbiegen muss. Dabei kommt ihnen ihr ausgezeichnetes Gedächtnis für die Anordnung verschiedener Objekte zueinander zugute (d = −0,30). Überprüfen lässt sich diese Fähigkeit z. B mit einem Test, bei dem auf einer Bildtafel eine Reihe von Objekten abgebildet ist, deren Ort man sich merken soll. Auf einer zweiten Bildtafel mit anderer Anordnung ist sodann herauszufinden, welche von den Objekten ihren Standort geändert haben (Voyer et al., 2007).
Abb. 19.2: Testbilder zur Prüfung der mentalen Rotation
Unter der
Transformation räumlicher Bezugssysteme versteht man insbesondere Leistungen der
mentalen Rotation. Wir werden ständig mit der Notwendigkeit konfrontiert, Objekte unter veränderten Perspektiven wiederzuerkennen, sei es, weil wir sie vorher aus einem anderen Blickwinkel wahrgenommen haben, oder sei es, weil sich ihre Position mittlerweile geändert hat. Solche Lageveränderungen müssen in der Vorstellung gleichsam rückgängig gemacht werden. Im Test sollen Versuchspersonen also etwa erkennen, dass den in Abbildung 19.2 abgebildeten vier Darstellungen zwei verschiedene Raumfiguren zugrunde liegen (
Abb. 19.2), von denen die eine durch die beiden linken, die andere durch die beiden rechten Bilder aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt ist. Bei Aufgaben zur mentalen Rotation ist der Vorsprung der Männer recht eindeutig und variiert allenfalls in Abhängigkeit von den eingesetzten Tests
(d = 0,94; 0,73) (Linn & Petersen, 1985; Hyde, 2005). Wenn Frauen Aufgaben dieser Art lösen, dann brauchen sie etwas länger. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, die es erlauben, die jeweils aktivierten Gehirnpartien zu lokalisieren, haben gezeigt, warum das so ist. Während Männer eine erhöhte Aktivität in der Region des Scheitellappens aufweisen, somit also eher ganzheitlich vorgehen und sozusagen »auf Anhieb« sehen, welche Figur äquivalent ist, verfahren Frauen, wie die Aktivierung des rechten Stirnlappens nahelegt, seriell-analytisch, d. h., sie zerlegen die Figuren und analysieren, wie die einzelnen Teile zueinander angeordnet sind (Jordan et al., 2002; Jordan, 2010).
Räumliche Bezugssysteme müssen auch transformiert werden, wenn es gilt, Pläne und Landkarten richtig zu lesen. Man muss sich vorstellen, wie der eingezeichnete
Weg in Wirklichkeit verläuft, wie die Entfernungsverhältnisse in die Realität umzusetzen sind, aber auch, wie ein Haus, dessen Grundriss vorliegt, in die Umgebung eingepasst ist. Vielfach müssen dabei dreidimensionale Gebilde in zweidimensionale Darstellungen umgesetzt werden und umgekehrt muss man sich die zweidimensionale Abbildung als dreidimensionales Gebilde vorstellen können. Eine gewisse Beziehung zur oben erwähnten »Feldabhängigkeit« besteht bei Aufgaben, bei denen es darum geht,
räumliche Zusammenhänge, insbesondere Figur-Grund-Trennungen,
umzustrukturieren. Welche Funktion diese Fähigkeit im Alltagsleben hat, ist nicht so deutlich; sie ist aber beispielsweise vorausgesetzt, um ein Puzzle richtig zusammenzusetzen. Eine weitere Testmöglichkeit bieten die sogenannten
eingebetteten Figuren (
Abb. 19.3).
Abb. 19.3: Die links abgebildete Figur ist aus dem komplexen Muster rechts »herauszusehen«.
Als Letztes ist schließlich noch das Verständnis raumgebundener Kausalstrukturen zu nennen. Es spielt eine wesentliche Rolle bei der Einsicht in technische Vorgänge. Wenn Teile eines Systems interagieren, muss man verstehen, wie ihre Bewegungen zusammenspielen, also beispielsweise, wie bei einer Maschine Zahnräder, Hebel und Transmissionsriemen ineinandergreifen.
Analysiert man die einzelnen Aufgaben genauer, die zur Prüfung des räumlich-visuellen Vorstellungsvermögens herangezogen werden, dann stellt sich die Frage, ob dabei nicht zusätzlich auch andere kognitive Fähigkeiten miterfasst werden. Um z. B. die links abgebildete Figur in Abbildung 19.3 (
Abb. 19.3) von der komplexen Konfiguration, in die sie eingebettet ist, zu isolieren, muss man sich vom Gesamteindruck lösen können. Nun könnte in diesem Fall aber auch eine motivationale Komponente ins Spiel kommen, nämlich die Bereitschaft, etwas Bestehendes »aufzubrechen«, also eigentlich zu zerstören. Ähnliches ist bei Puzzles gefordert, bei denen die Einzelteile für sich jeweils eine Ganzheit bilden. Diese muss man sich als Elemente in einem größeren Zusammenhang vorstellen, in dem sie nur noch Teile sind. Auch hier muss also die ursprüngliche Gestalt ignoriert werden. Ferner wäre daran zu denken, ob bei Aufgaben dieser Art nicht auch
analytische Fähigkeiten ins Spiel kommen, auf die wir weiter unten zu sprechen kommen.
19.3 Die Vielfalt verbaler Fähigkeiten
Dem gängigen Stereotyp zufolge ist es um die verbalen Fähigkeiten der Frauen besser bestellt als um die der Männer. Die bisher größte Meta-Analyse stammt von Hyde und Linn und kommt zu dem Ergebnis, dass der Vorteil der Frauen gegenüber den Männern, wenn man alle Bereiche zusammennimmt, zwar statistisch gesichert, aber nur geringfügig ist (d = −0,11 für Erwachsene). Vielfach wurde er wohl deshalb betont, weil man aus Gerechtigkeitsgründen das Bedürfnis hatte, den männlichen Vorsprung auf dem visuell-räumlichen Sektor zu kompensieren (Hyde & Linn, 1988). Einen anderen Gesichtspunkt führt Halpern ins Feld. Wenn man wie Hyde und Linn die Effektstärken aus verschiedenen Bereichen der sprachlichen Kompetenz mittelt und dabei auch solche einbezieht, in denen keine Geschlechtsunterschiede bestehen, dann kommt man insgesamt zu einem mageren Ergebnis, das dann aber die tatsächlichen Fähigkeitsschwerpunkte nivelliert (Halpern, 1992) und den Geschlechtsunterschied scheinbar zum Verschwinden bringt.
Es gibt jedenfalls eine Palette der unter das Stichwort »verbale Fähigkeiten« fallenden Leistungen, bei denen Frauen besser abschneiden. Bereits in der sprachlichen Frühentwicklung sind kleine Mädchen im Vorteil. Sie erwerben rascher gewisse Phoneme, z. B. »ba« und »ma«, sie bilden früher Wörter und Sätze, artikulieren besser und sind überhaupt verbal gewandter. In der Schule haben sie weniger Schwierigkeiten beim Lesenlernen. Legastheniker, wie übrigens auch Stotterer, finden sich vorzugsweise unter den Jungen. Der Vorsprung der Mädchen manifestiert sich zunächst in den ersten drei bis vier Lebensjahren, geht dann in der mittleren Kindheit zurück, um in der Pubertät im Alter von 10 bis 11 Jahren richtig offenkundig zu ...