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Ach, was kann in ein paar
Monaten schon passieren?
Unser Arbeitsalltag ist seit Monaten völlig über den Haufen geworfen. Besprechungen werden abgesagt oder auf später verschoben und online abgehalten. Manche dürfen noch immer nicht wieder ins Büro, andere müssen Wege finden, innerhalb all der Corona-Maßnahmen sicher weiterarbeiten zu können. Wann und wo wir arbeiten, war bis März 2020 völlig klar und selbstverständlich, doch das ist inzwischen anders. Es ist eine Veränderung, die Teil eines weltweiten Kulturschocks ist und großen Einfluss auf jede Unternehmenskultur hat. Ich erlebe sie als eine chaotische Zeit, die mich fortwährend fordert, andere Routinen und Fähigkeiten zu entwickeln – mit vielen kurzfristigen Änderungen und Zweifeln daran, was all das langfristig bedeutet.
Wenn mir jemand vor einem Jahr gesagt hätte, dass ich im Oktober 2020 mit Maske einkaufen gehe, Hotels und Restaurants für vier Wochen geschlossen sind, ich fast alle meine Vorträge online halte (oder in großen Sälen vor einer Handvoll Menschen und mit komplizierter Wegführung), dass Händeschütteln (von Begrüßungsküssen ganz zu schweigen) zu einer verpönten Geste geworden ist, unser öffentliches Gesundheitswesen wegen eines Virus unter Druck steht, Schulen geschlossen wurden und weltweit Millionen Menschen sich in einem Lockdown befinden … ich hätte ihn nur ungläubig angesehen.
Fragen zur Zusammenarbeit
Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen uns damit abfinden. Wir alle sind, unabhängig davon, was einzelne Personen über das Virus, die Maßnahmen und die Politik denken, mit Fragen wie den folgenden konfrontiert: Wie funktioniert Führung remote? Wie arbeitet man gemeinsam an einem Projekt, ohne sich treffen zu können? Wie bewahrt man den Stolz auf das Unternehmen und die Verbindung mit seinem Team, wenn man sich für längere Zeit nicht real sehen kann. Wie sorgt man dafür, dass niemand vereinsamt oder gerade jetzt unter der Arbeitslast zusammenbricht? Wie arbeitet man neue Mitarbeitende ein? Wie nimmt man Abschied? Wie klärt man unbequeme Dinge und sorgt trotz Abstand für gute Stimmung? Wie lassen sich die Chancen nutzen, um veraltete Arbeits- und Lebensweisen zu verbessern? Was kann man heute tun, um langfristig besser dazustehen? Wie kann man gerade jetzt innovativ sein? Welche neuen Rituale braucht es jetzt? Wie passt man seine Unternehmenskultur an diesen neuen Kontext an?
All das sind Fragen, die mich als Unternehmerin, als Sprecherin bei verschiedensten Organisationen, als Mensch und als kulturelle Anthropologin beschäftigen. Ich weiß genauso wenig wie Sie, wie es in einem Jahr aussehen wird. Und angesichts der Erfahrungen des vergangenen Jahres kann sich die Welt wirklich in alle Richtungen entwickeln. Eins weiß ich jedoch sicher: Durch die Art, wie wir weltweit mit COVID-19 umgehen, sind unsere Routinen zerbrochen. Manche müssen sich ungeheuer schnell bewegen, um überall mithalten zu können. Andere fühlen, wie ihr Leben zum Stillstand gekommen ist. Etliche Aktivitäten sind ausgesetzt. Und jeder Mensch hat zu all dem seine eigene Meinung und reagiert anders auf diese jähen Veränderungen.
In der Woche, in der ich das schreibe, titelt das Financieele Dagblad »Einsamkeit schnürt den im Homeoffice Arbeitenden die Kehle zu« und berichtet, dass im Frühjahr in vielen Unternehmen eine gewisse Euphorie entstand, weil es funktioniert, dass innerhalb weniger Tage Hunderte von Mitarbeitende von zu Hause arbeiten konnten. Ein halbes Jahr später hat sich die Stimmung verändert. Alle klammerten sich an die Idee, dass sie nach dem 1. September wieder ins Büro zurückkehren können, doch nun stellt sich die Frage, wie lange das alles noch dauern wird. Manche Organisationen reden von Juni 2021, aber auch Januar 2022 habe ich schon gehört. Die anfängliche Halleluja-Stimmung ist weg. Wie werden wir gemeinsam miteinander die kommenden Monate, oder Jahre, gut durchstehen? Und wie gestalten wir Dinge, die wir wirklich gut finden, nachhaltig? Laut Financieele Dagblad sind zwei Drittel der von ihnen befragten CEOs der Meinung, dass die Unternehmenskultur Schaden nimmt. Ich hoffe, dass dieses Buch helfen wird, die schwersten Schläge aufzufangen, da der Verlust an sozialen Kontakten auf breiter Linie zunimmt.
Fremde im eigenen Land
Durch Corona fühle ich mich manchmal wie eine Fremde im eigenen Land. Nur wenn man voller Hingabe in eine vollkommen unbekannte Welt eintaucht, kann man neue Einsichten gewinnen. Das ist es, was ich mache, wenn ich im Rahmen meiner Arbeit auf Reisen bin, um andere Kulturen kennenzulernen. Und genau das mache ich nun im eigenen Land, wo alte Regeln nicht mehr verlässlich gelten. Meine anthropologische Sichtweise hilft mir dabei enorm. Sie ist meine Perspektive auf die Welt und die Brille, durch die ich dieses Buch geschrieben habe.
Mit anthropologischem Blick
Dinge anthropologisch zu betrachten, heißt, seine eigene Meinung zurückzustellen. Also statt zu glauben, man hätte alles verstanden, sich Zeit zu nehmen und sich auf das Unbekannte einzulassen. Auf diese Weise versuche ich zu ergründen, was die Ereignisse in der Welt in mir auslösen. Anthropologisch zu beobachten bedeutet, das Fremde zu erleben, ohne dass die eigene Meinung dabei ständig dazwischenfunkt. Das ist nicht immer einfach. Sicher nicht, wenn man vom Lauf der Dinge überrascht wird, und auf keinen Fall, wenn dies gegen die eigenen Wertvorstellungen verstößt. Dann hat man plötzlich Gedanken wie: gut oder nicht gut, schön oder hässlich, richtig oder falsch. Natürlich kann man so urteilen, doch für eine anthropologische Sichtweise sollte man in der Lage sein, dieses Urteil zurückzustellen, da man sich sonst niemals in die aktuelle Situation hineinversetzen kann.
Wenn es Ihnen gelingt, die eigenen Interpretationen von den Beobachtungen zu trennen, eröffnet sich Ihnen die Möglichkeit, außerhalb des eigenen Kontexts zu beobachten und zu fühlen. Statt »Was für ein Quatsch, dass das so sein muss« zu denken, könnten Sie sich fragen: »Woher kommt es, dass mich das berührt? Was ist daran für mich so wichtig?« Vorurteilsfrei beobachten bedeutet, der Geschichte der Kollegin, der Begriffswelt der Teenager auf dem Sofa, den Argumenten der Geschäftsführung … wirklich zuzuhören. Nicht eingefärbt durch die eigene Meinung oder Emotion, nicht aus Verblüffung über den anderen, sondern mit dem festen Wunsch, sich in den anderen hineinversetzen und ihn verstehen zu wollen – bereit und willens zu sein, sich berühren zu lassen und die eigene Meinung anzupassen. Und selbst dann bleibt es fraglich, ob Sie den anderen wirklich kennenlernen. Eine anthropologische Sichtweise öffnet eine Welt von Möglichkeiten, die wir in diesen unbeständigen Zeiten dringend brauchen. Wenn wir aus dieser Perspektive auf altes Verhalten und überkommene Gewohnheiten schauen, können wir uns neu entscheiden.
Die Arbeit hat das Gebäude verlassen
Dieses Buch handelt nicht davon, was ich von den Maßnahmen halte, welche Auswirkungen COVID-19 auf unsere Gesellschaft haben wird oder welche Risiken alle möglichen Verschwörungstheorien oder politischen Bewegungen in sich bergen. Der Fokus ist kleiner, konkreter und praktischer – es geht um die Arbeit. Ich denke, dass wir nach allen Erfahrungen, die wir jetzt sammeln, nicht wieder zu einer Normalität zurückkehren werden, in der wir die ganze Woche zwischen neun und fünf gemeinsam in einem Gebäude sitzen müssen. Ich will damit sagen: »Die Arbeit hat das Gebäude verlassen, work has left the building.« Das wiederum hat große Auswirkungen auf unsere Arbeitskulturen und unsere Art zu kommunizieren, zu führen und zusammenzuarbeiten. Viele Menschen sind gerade durcheinander. Clevere Unternehmen investieren jetzt in eine Wende zur Professionalisierung der Remote-Arbeit, um für Mitarbeitende und Kund:innen reizvoll und interessant zu sein und zu bleiben. In den kommenden Kapiteln gebe ich viele Tipps und teile Überlegungen, wie man diese Wende einleiten kann.
Zudem eröffnet uns die aktuelle Situation enorme Chancen, die Themen, mit denen wir in der alten Normalität wirklich nicht zufrieden waren, tiefgreifend und nachhaltig zu verändern. In diesem Buch finden sich weniger Lösungsstrategien, sondern vielmehr Ideen, wie wir diese besondere Zeit für verschiedenste lebenswichtige Transformationen, mit denen wir uns schon seit Jahren herumschlagen, nutzen können. Im Kleinen (z. B. bessere Work-Life-Balance, mehr Ruhe und Aufmerksamkeit für uns und einander, weniger Staus) wie im Großen (z. B. Bürokratie im Gesundheitswesen, Klimaveränderungen, Flüchtlingsströme, Staus, CO2-Emissionen, Mangel an Lehrkräften, Tierschutz).
Dieses Buch ist eine Zusammenfassung meiner Überlegungen, Erfahrungen und Ideen zu den aktuellen Themen. Das betrifft sowohl das plötzliche Remote-Arbeiten als auch den Umgang mit vielen unerwarteten einschneidenden Veränderungen. Es enthält neben neuen Texten auch überarbeitete Versionen bereits veröffentlichter Artikel. Die Idee, innerhalb von zehn Tagen ein Buch zu schreiben, ist im Rahmen der selbst auferlegten Challenge entstanden, im Oktober 2020, während des zweiten Teil-Lockdowns. Und mein Herausgeber, Lektor, Setzer und die Druckerei haben sich der Herausforderung angeschlossen, um das Buch in Rekordzeit in die Buchläden zu bringen. Normalerweise dauert es von der Idee bis zum Buch rund ein Jahr. Uns ist es in sechs Wochen gelungen. Weshalb diese Challenge? Weil ich gemerkt habe, wie viele Menschen sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen wie ich, und ich diese Suche gern kurzfristig unterst...