Jürgen Dusel:
Demokratie braucht Inklusion
Jürgen Dusel ist Jurist und seit 2018 der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
Was genau macht ein Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen?
Im Behindertengleichstellungsgesetz ist ziemlich abstrakt und juristisch formuliert, was meine Aufgabe ist: darauf hinzuwirken, dass der Bund, also nicht nur die Bundesregierung, seiner Verantwortung, ja, seiner Verpflichtungen gerecht wird, für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen – für Menschen mit und ohne Behinderungen.
Das bedeutet zum einen Politikberatung. Ich bin zu beteiligen bei allen Gesetzen, bei allen Verordnungen, bei allen wichtigen Vorhaben der Bundesregierung, die die Situation von Menschen mit Behinderungen betreffen könnten. Ich behaupte, das sind 95 Prozent aller Gesetze, denn es geht in Gesetzen ja meistens um Menschen.
Und: Es ist sehr viel Kontaktpflege zu Selbstvertretungsorganisationen. Ich bin quasi das Bindeglied zwischen der Zivilgesellschaft und der Bundesregierung. Aber ich habe natürlich auch andere Funktionen. So bin ich im Land unterwegs zu Vorträgen, habe viel Kontakt zu jungen Menschen mit Behinderungen. Dadurch erlebe ich hautnah, wo es gerade brennt. So kann ich der Bundesregierung Empfehlungen geben, was noch auf der To-do-Liste stehen muss.
Ihre Vorgängerin in Ihrem Amt, Verena Bentele, meinte, sie würde sich wahnsinnig darüber ärgern, dass das Thema Inklusion immer in das Bundesministerium für Arbeit und Soziales abgeschoben wird. Sie würde sich wünschen, dass auch das Wirtschaftsministerium und das Finanzministerium und alle anderen Ministerien mit involviert werden. Das Thema Inklusion sei in eine Ecke abgeschoben, und alle anderen Ministerien denken, es gehe sie nichts an. Sehen Sie das auch so?
Das trifft nicht mehr ganz so zu. Gerade wenn ich zurückblicke, wie das in dieser Legislaturperiode gelaufen ist. Da kam ein behindertenpolitischer Meilenstein beispielsweise aus dem Finanzministerium. Es ist uns gelungen, zusammen mit Olaf Scholz die Pauschbeträge im Einkommensteuerrecht für Menschen mit Behinderungen zu verdoppeln.
Das ist ein finanzpolitisches Thema, und es war richtig, dass wir das gemacht haben. Diese Pauschbeträge wurden 1975 eingeführt und seitdem nie wieder angepasst.
Wenn ich mir im Vergleich dazu die Arbeitnehmerfreibeträge, die Pendlerpauschale und so weiter anschaue, wurden diese ständig erhöht. Bei den Pauschbeträgen für behinderte Menschen, die Einkommensteuer zahlen, wurde hingegen nichts gemacht. Das war von Anfang an eine Forderung von mir, die wir umsetzen konnten.
Der andere Punkt, den ich hier anmerken möchte, ist die Veränderung des Wahlrechts – nämlich die Abschaffung der pauschalen Wahlrechtsausschlüsse von Menschen, die unter Betreuung stehen. Das kam aus dem Justizbereich. Und wir machen sehr viel zum Thema Gesundheit. Wobei ich auch da ganz klar sage, dass in diesem Bereich noch viel geschehen muss. Das Gesundheitsministerium bekommt jedoch zurzeit sehr deutlich mit, dass es einen Nachholbedarf zum Thema Menschen mit Behinderungen hat. Zu nennen sind da zum Beispiel die Impf-Priorisierung, die Zugänglichkeit zum Gesundheitssystem und vieles mehr.
Also, es ist schon besser geworden. Aber Sie haben recht, die meisten denken bei Politik für Menschen mit Behinderungen an Arbeits- und Sozialpolitik. Und das ist falsch. Denn Politik für Menschen mit Behinderungen ist in erster Linie Politik für Menschen. Dabei geht es auch um Sport, wie Verena Bentele sicher nachvollziehen kann. Es geht um Freizeit, es geht um Digitales, es geht um Verkehr. Es geht um Wohnungsbau. Es geht um Außenpolitik und Wissenschaft. Das ist besser geworden, aber es ist immer noch nicht Routine. Wir arbeiten daran.
Kommen wir zum neuen Teilhabestärkungsgesetz. Wofür bedarf es eines solchen Gesetzes? Wir haben doch schon ein Bundesteilhabegesetz. Ist das zu schwach? Braucht es einen starken Bruder?
Teilhabestärkungsgesetz heißt, dass wir Themenfelder haben, die nicht durch das Bundesteilhabegesetz abgedeckt sind. In Deutschland leben 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen. Davon sind 8,5 Millionen Menschen schwerbehindert. Rund 900.000 Menschen mit Behinderungen bekommen Leistungen nach dem Bundesteilhabegesetz. Aber wenn es um Teilhabe geht, dann geht es wirklich um mehr. Es geht beispielsweise um die Teilhabe am Arbeitsleben, und deswegen war es wichtig, dass dieses Teilhabestärkungsgesetz beschlossen wurde.
Es ist nicht perfekt. Als Behindertenbeauftragter der Bundesregierung hätte ich mir ein paar Punkte mehr gewünscht – gerade wenn es um die Teilhabe am Arbeitsleben geht. Aber das Gesetz ist auf der Basis eines Kompromisses entstanden, das ist ja immer so im politischen Geschäft. Da gibt es unterschiedlichste Interessen, und insofern finde ich es richtig, dass es nun das Teilhabestärkungsgesetz gibt.
Was hätten Sie sich denn noch gewünscht?
Im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben zwei Dinge: Zum einen geht es um die Zuständigkeit für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben. Aufgrund des hohen bürokratischen Aufwands ist es gerade für kleine und mittelständische Unternehmen oftmals schwierig, wenn sie einen Menschen mit Behinderungen einstellen wollen. Da kommt am Montag die Bundesagentur für Arbeit vorbei, am Dienstag das Integrationsamt, am Mittwoch ein Integrationsfachdienst, und am Donnerstag sagen dann die meisten Arbeitgeber, das ist uns zu kompliziert.
Ich hätte bevorzugt, dass wir wirklich einen einzigen Träger gehabt hätten. Damit wäre uns ein richtig großer Wurf gelungen. Mit dem Teilhabestärkungsgesetz gibt es jetzt zwar den ersten Verbesserungsschritt, nämlich dass es EINEN Ansprechpartner zur Information, Beratung und Unterstützung von Arbeitgebern gibt. Dieser hat aber noch keine Entscheidungskompetenz. Ich wäre gerne noch diesen einen Schritt weitergegangen – bis hin zur kompletten Entscheidungskompetenz in einer Hand.
Das ist mein weiteres Ziel für die Politik nach der Wahl: dass wir darauf hinwirken, dem Arbeitgeber einen einzigen Ansprechpartner anzubieten, der komplett das Portfolio zur Unterstützung aufmachen und dann auch die Leistungen bewilligen kann – sozusagen Teilhabeplanung für Arbeitgeber im kleinen und mittelständischen Bereich. Bei großen Unternehmen sind die meisten Personalabteilungen in der Lage, das allein zu bewerkstelligen. Aber es ist schon sehr kompliziert. Ich finde, das muss für die Praxis einfacher zu handhaben sein.
Und zum zweiten hätte ich mir gewünscht, dass wir eine vierte Stufe der Ausgleichsabgabe bekommen. Hubertus Heil hatte dies als Bundesminister für Arbeit und Soziales auch angekündigt. Denn ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Unternehmen in Deutschland kommt zu null Prozent ihrer Beschäftigungspflicht nach. Das ist nicht akzeptabel.
Ich weiß, der Vergleich hinkt, aber ich sage es dann doch: Was wäre, wenn ein Viertel aller Autofahrerinnen und Autofahrer in Deutschland sagen würde, für mich gilt die Straßenverkehrsordnung nicht? Da würde der Staat reagieren. Ich finde, wir müssen uns an die Regeln halten, die wir uns gegeben haben. Und wenn ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Unternehmen – das sind mehr als 40.000 Unternehmen in Deutschland – dieser Beschäftigungspflicht komplett nicht nachkommen, dann vertrete ich die Meinung: null Toleranz für Null-Beschäftiger. Dann müssen wir die Ausgleichsabgabe für die schwarzen Schafe verdoppeln. Das hat sich zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht durchsetzen lassen. Aber wir bleiben da dran.
Es gibt ein Argument, das jetzt auch in der Pandemie noch einmal deutlich geworden ist: Die Bundesrepublik Deutschland, der Bundestag, hat zu Recht sehr viel Geld in die Hand genommen, um Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu unterstützen, damit sie gut durch die Pandemie kommen. Sie nehmen steuerfinanziertes Geld in Anspruch, es gibt da unter anderem verschiedenste Förderprogramme. Diese steuerfinanzierten Gelder werden auch von Menschen mit Behinderungen mitfinanziert. Das ist ein Akt der Solidarität. Das ist richtig, das will ich auch gar nicht diskutieren.
Aber: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wenn wir Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Unternehmerinnen oder Unternehmer in einer bislang nicht dagewesenen Form unterstützen, dann will ich auf der anderen Seite doch erwarten dürfen, dass sie sich an die Gesetze halten und tatsächlich dann auch die Solidarität zurückgeben und sagen, wir kommen unserer Beschäftigungspflicht nach. Noch mal: Wenn ein Viertel aller Normadressaten sagen, das machen wir nicht, da zahlen wir lieber die Ausgleichsabgabe, dann muss man reagieren. Und zum einen erklären: Auch die, die die Ausgleichsabgabe zahlen, bleiben beschäftigungspflichtig und können sich nicht freikaufen. Und zum anderen muss der Staat eingreifen.
Angela Merkel beim Jahresempfang 2021 von Jürgen Dusel:
„… in unserem Land leben etwa acht Millionen schwerbehinderte Menschen. Teilhabe ist aber keine Frage von Zahlen. Sie ist keine Frage von Mehrheiten oder Minderheiten. Teilhabe berührt das Grundverständnis unseres Zusammenlebens. Sie betrifft jeden Einzelnen mit seiner unteilbaren Würde als Mensch. Jeder Mensch soll teilhaben können – in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Mit diesem Ziel vor Augen gilt es aber auch, Lern- und Erfahrungsprozesse zu durchlaufen. Denn Inklusion ist mit Sicherheit kein Selbstläufer, sondern dafür muss gearbeitet und geworben werden16.“
Doch: Wenn die ganzen Programme, die wir anbieten, die ganzen Appelle, die wir gestartet haben, nichts nützen, dann bleibt nur der Weg, die Ausgleichsabgabe zu verdoppeln. Das war jetzt politisch nicht durchsetzbar. Aber ich bin der Meinung, die Erkenntnis wächst. Das wird auch weiter ein Thema sein.
Lassen Sie uns einmal auf die Historie der Ausgleichsabgabe einen Blick werfen: Die Beschäftigungspflicht ist bereits durch das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 16. Juni 1953 eingeführt worden. Zwar ist die Zahl der beschäftigten schwerbehinderten Menschen in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Trotz Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe liegt aber die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen gesamtwirtschaftlich seit Jahren unterhalb der Pflichtquote, wie Sie gerade richtig ausgeführt haben. Was also bringt dann die Ausgleichsabgabe? Viele vertreten die Meinung: Gerade große Unternehmen zahlen den Betrag – und damit ist die Sache für sie erledigt. Und die kleinen Unternehmen, die können sich das tatsächlich nicht leisten und werden bestraft dafür. Hinzu kommt, dass durch die Pandemie sehr viele kleine und mittelständische Unternehmen in wirtschaftlicher Not sind.
Diese Argumentation setzt aber immer den Gedanken voraus, die Beschäftigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters wäre eine immense Belastung für ein Unternehmen. Dieser Gedanke ist schon falsch. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass es keinen Arbeitsplatz in Deutschland gibt, der nicht durch einen schwerbehinderten Menschen sinnvoll besetzt werden kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Die Ausgleichsabgabe hat zwei Funktionen. Die eine ist tatsächlich die Anreizfunktion, Menschen mit Schwerbehinderung zu beschäftigen. Und die zweite ist eine Ausgleichsfunktion. Die Ausgleichsabgabe ist daher keine Strafe für die Unternehmen, sondern eine Form der Umverteilung. Diejenigen Unternehmen, die zu wenig einstellen, zahlen die Ausgleichsabgabe. Und die fließt dann an diejenigen Unternehmen, die Menschen mit Schwerbehinderung einstellen und beispielsweise Unterstützung brauchen, weil sie einen Arbeitsplatz umbauen müssen oder Ähnliches.
Es muss uns einfach klar werden, dass wir auch als Staat eine Verantwortung haben. Menschen mit schweren Behinderungen können sich nicht als autonome Kunden auf dem Arbeitsmarkt verhalten. Die Gruppe der Menschen mit schweren Behinderungen ist heterogen. Und wir leben nun mal in der sozialen Marktwirtschaft, das muss man klar sagen. Und Eigentum verpflichtet.
Können Sie denn nachvollziehen, weswegen die jetzige Bundesregierung die Erhöhung der Ausgleichsabgabe abgelehnt hat? Mit welchen Begründungen hat sie das abgelehnt?
Die Bundesregierung besteht aus unterschiedlichen Ministerien. Das Arbeits- und Sozialministerium hat den Aufschlag gemacht, und natürlich fand das Wirtschaftsministerium das nicht so attraktiv. Ich möchte das mit einer typischen Familiensituation vergleichen: Wenn alle um den Küchentisch sitzen und überlegen, wohin wollen wir denn in Urlaub fahren? Dann sagen die einen: „ans Meer“, und die anderen sagen: „in die Alpen“, und die nächsten sagen: „in die Pfalz“.
Dann kommt letztlich dabei ein Kompromiss heraus. Und der bildet sich natürlich auch im Deutschen Bundestag ab. Deswegen war das zum jetzigen Zeitpunkt meiner Meinung nach nicht durchsetzbar.
Menschen mit schweren Behinderungen sind deutlich häufiger arbeitslos als Menschen ohne Behinderungen, und sie sind deutlich länger arbeitslos als Menschen ohne Behinderungen. Spannend dabei: Die Gruppe der schwerbehinderten arbeitslosen Menschen ist besser qualifiziert als die Gruppe der nicht behinderten arbeitslosen Menschen. Also auf der einen Seite nach Fachkräften suchen und auf der anderen Seite dieses Potenzial nicht nutzen? Das passt nicht zusammen. Und das hat einfach mit den Vorurteilen zu tun, die immer noch da sind. Viele Arbeitgeber scheuen sich davor, schwerbehinderte Mitarbeiter einzustellen, weil sie glauben, diese seien dann unkündbar. Ich habe lange ein Integrationsamt geleitet und weiß: Bei mehr als 80 Prozent der Anträge stimmen die Integrationsämter der Kündigung zu. In unserer Gesellschaft muss sich in dem Punkt noch vieles verändern. Wenn beispielsweise Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam zur Schule gehen würden, dann würde sich auch etwas am gesellschaftlichen Bewusstsein verändern. Die Mitschülerinnen und Mitschüler, die mit mir Abitur gemacht haben, wussten, dass man mit mir nicht Fußball spielen konnte wegen meines schlechten Sehens. Aber die kannten jemanden mit Schwerbehinderung, der dann sein Abitur geschafft hat.
Und wenn Menschen mit solchen praktischen Erfahrungen später Personalverantwortung übernommen haben, weil sie beispielsweise den elterlichen Betrieb übernehmen oder weil sie in einem Unternehmen Personalverantwortung bekommen haben: Diese Menschen stellen auch Menschen mit Behinderu...