1.1 Willkommen in der hybriden Arbeitswelt
»Homecoming« heißt die Weckmelodie auf meinem Handy, was ich heute mit einem halboffenen Auge zum ersten Mal wahrnehme. Irgendwie passt das auch zu meinem neuen Leben und Arbeiten im Home-Office. Es ist Donnerstag morgens, 5:45 Uhr, und es ist Zeit aufzustehen. Während ich auf der Bettkante sitze und auf meinen Kreislauf warte, mich in den Tag zu begleiten, geht mein erster wacher Blick auf das Handydisplay. Es blinkt, also lebt es.
Ich checke meine E-Mail-Inbox mit den 1.247 E-Mails, die ich unbearbeitet und resigniert seit Ewigkeiten vor mir herschiebe und lese die ersten News meiner New Yorker Kolleg*innen, die mich damit »im Loop« halten wollten, während ich im Land der Träume war. Nach einem schnellen Gang durchs Bad wecke ich die Kinder, denn ich habe heute familiären Frühdienst und muss schauen, dass sie rechtzeitig in ihrem virtuellen Klassenraum sitzen, denn ausgerechnet donnerstags ist einer dieser Homeschooling-Tage, die mein Leben so kompliziert machen.
Nachdem die beiden Kids versorgt und online sind, kann ich endlich frühstücken. Ich sitze mit meiner Müslischüssel neben dem Bildschirm am Schreibtisch und beantworte schnell die Fragen der US-Kolleg*innen. Um 9 Uhr eröffne ich meine tägliche virtuelle Teamrunde auf Zoom, liebevoll »Daily« genannt, mit meinen Direct Reports im Vertrieb. Nach 15 Minuten ist alles vorbei. Dann ein kurzer Blick auf den Projekt-Share in der Cloud, ein paar »open requests« beantwortet und ab geht es in das zweite Meet-up.
Zwei Stunden im Sales Review der EMEA-Region liegen vor mir. Rund zwei Dutzend meiner Kolleg*innen gewähren mir am Bildschirm Einblick in ihr Privatleben, während sie ihre Planabweichungen erläutern, und geben mir die Möglichkeit, parallel einen RFP (request for proposal) auszufüllen, der heute abgeben werden muss. Wenn ich nicht dauernd im Chat angeschrieben werden würde, hätte ich auch eine Chance, damit fertig zu werden. Glücklicherweise bricht irgendwann die Internetverbindung zusammen und ich habe einen guten Grund, mich aus der Runde zu verabschieden. Das wird auch Zeit, denn ich muss noch kochen oder, genauer gesagt, die Pizza bestellen, damit die Kinder etwas zu essen haben, wenn sie offline gehen. Nachdem die Pizzaorder online bestätigt wurde, habe ich die Gelegenheit für ein paar Telefonanrufe bei meinen Kund*innen. Die muss ich auch noch glücklich machen, denn dafür werde ich schließlich bezahlt.
[16]Nach gefühlten zehn Minuten klingelt der Pizzabote schon an der Haustür und gleichzeitig stehen meine Kinder in der Zimmertür und winken freudig zu meinen Kolleg*innen in das Ad-hoc-Meeting, in dem ich auch noch festhänge. Jetzt mache ich erstmal eine kurze Mittagspause. So war jedenfalls der Plan. Die Pause verlängert sich spontan um eine Stunde, weil mein Sohn sein Geschichtsreferat doch nicht allein auf die Beine stellen kann oder will. Ist aber alles kein Problem, die Zeit hänge ich einfach heute Abend dran. Der RFP muss ja erst um 24 Uhr raus sein. Bis dahin habe ich noch eine Menge Zeit.
Jetzt aber erstmal ins Auto, zu einem Abstecher in unser Auslieferungslager. Mein Chef hat spontan darauf bestanden, dass sich unser Team mit ihm und der Produktionsleiterin die neue Lieferung anschaut, bevor die Produkte an die Kund*innen rausgehen. Die Gelegenheit hat er dann genutzt, um sich von uns vor Ort die Ideen für die nächste Kampagne präsentieren zu lassen. Während wir alle im Konferenzraum sitzen, wird die Werbeagentur per Video-Chat noch spontan hinzugeschaltet und wir diskutierten hitzig über deren Vorschläge.
Nach nur zwei Stunden Fahrzeit für insgesamt 90 Minuten Meeting vor Ort bin ich wieder zurück. Wie gut, dass ich im Stau noch eine Telko mit zwei meiner Mitarbeiter*innen durchführen konnte. Die beiden sind sich über die Aufgabenverteilung im Projekt in die Haare geraten. Übrigens: Ich liebe mein Auto und meine Freisprecheinrichtung.
Zurück im Home-Office ist es Zeit für eine Kaffeepause. Ich logge mich in die virtuelle Kaffeeecke der Company ein und habe Glück. Mit zwei Kolleg*innen aus der Rechtsabteilung kann ich mich für zehn Minuten mal über etwas anderes als den Job unterhalten. Nach dieser kleinen Auszeit widme ich mich wieder meiner E-Mail-Inbox. Dort sind während meiner Abwesenheit 30 neue E-Mails eingegangen, die ich jetzt einmal schnell durchscrolle, weiterleite, ungeöffnet lasse, in den Papierkorb schiebe, archiviere oder selbst beantworte. Nachdem ich das geschafft habe, springe ich in meine Joggingsachen und laufe eine Runde um den Block, bevor es dunkel wird. Danach ist Duschen und Abendessen angesagt, bevor ich den RFP endlich fertig bearbeiten und versenden kann. Gerade noch rechtzeitig. Um 23 Uhr geht’s dann auf die Couch. Mein blinkendes Handy ignoriere ich jetzt schweren Herzens. Feierabend für heute.
Kommt Ihnen so ein Arbeitstag als Führungskraft bekannt vor? Dann sagen wir:
Willkommen in der hybriden Arbeitswelt!
[17]1.2 Spannungsfelder für Führungskräfte
Vielleicht stellen Sie sich die Frage, was sich hinter dem Begriff »hybrid« genau verbirgt. Mit dem hybriden Auto, das alternativ mit Strom oder Benzin angetrieben wird, hat es nichts zu tun, auch wenn damit ein vergleichbarer Sachverhalt beschrieben wird. Das Wort »hybrid« lässt sich auf das lateinische »hybrida« zurückführen, was so viel wie »Mischling« bedeutet. In der Biologie bezeichnet das Substantiv »Hybride« ein Individuum, das aus der Fortpflanzung zwischen verschiedenen Gattungen hervorgegangen ist.
In unserem Businesskontext lässt sich die hybride Arbeitswelt in diesem übertragenen Sinne als eine Kombination zwischen verschiedenen Arbeitsorten definieren, an denen man tätig ist. Die Mitarbeiter*innen können on-site, in den Geschäftsräumen ihres Arbeitgebers, oder off-site, außerhalb der Geschäftsräume, arbeiten. Das Off-site-Arbeiten wird auch Remote-Arbeiten oder Fernarbeit genannt. Beim Offsite-Arbeiten kann wiederum zwischen dem mobilen Arbeiten und dem Arbeiten im Home-Office unterschieden werden. Beim mobilen Arbeiten hat man einen wechselnden Arbeitsplatz (Mobile-Office), zum Beispiel auf der Dienstreise, oder einen Co-Working Space, der kurzfristig angemietet wird, und beim Home-Office befindet sich der Arbeitsplatz dauerhaft zu Hause. Davon zu unterscheiden sind die juristisch geprägten Definitionen der sogenannten Telearbeit und der mobilen Arbeit nach der Arbeitsstättenverordnung, auf die später eingegangen wird.
Abb. 1: On-site- und Off-site-Arbeitswelt
Die On-site-Arbeitswelt wird auch mit dem Begriff der analogen Arbeitswelt und die Off-site-Arbeitswelt mit dem Begriff der digitalen Arbeitswelt gleichgesetzt. Diese Gleichstellung in der öffentlichen Diskussion darf nicht missverstanden werden, weil natürlich auch in der On-Site-Arbeitswelt digital gearbeitet wird. So schreiben [18]Mitarbeiter*innen auch hier E-Mails oder nehmen an Video-Chats teil und benutzen in diesem Sinne digitale Medien. Hinter diesem Wortgebrauch steht die Vorstellung, dass die Mitarbeiter*innen sich in einer analogen Arbeitswelt (auch) persönlich, d. h. analog face-to-face, austauschen können, während dies in einer digitalen Arbeitswelt ausschließlich über elektronischen Medien geschieht, weil an unterschiedlichen Orten gearbeitet wird und keine persönlichen Treffen stattfinden.
In hybriden Arbeitswelten können Mitarbeiter*innen sowohl on-site als auch off-site arbeiten. Einige arbeiten ausschließlich on-site, andere nur off-site und wieder andere nutzen wechselweise beide Arbeitsorte. Im Idealfall haben sie die freie Wahl. In diesem Sinne stellt sich die hybride Arbeitswelt als eine Kombination aus analoger und digitaler Arbeitswelt dar.
Abb. 2: Analoge und digitale Arbeitswelt
Diese Arbeitswelt 4.0 darf unseres Erachtens nicht mit einer rein digitalen Arbeitswelt gleichgestellt werden. Der Digitalisierungstrend hat nur den Anteil der digitalgestützten Arbeit des Menschen erhöht, den analog durchgeführten Anteil aber nicht vollkommen ersetzt. Denken Sie an die produzierende Industrie (z. B. Automobilwirtschaft) oder an das Dienstleistungsgewerbe (z. B. Gastronomie), in der noch viele Menschen vor Ort arbeiten. In rein administrativen Bereichen ist der Anteil an digitaler Arbeit jedoch weit höher. Die Arbeitswelt 4.0 ist also hybride, wenn auch nicht in allen Branchen im gleichen Umfang.
Doch die Digitalisierung allein erklärt nicht alle Herausforderungen, denen Sie als Führungskraft heute gegenüberstehen. Dazu gehört weit mehr, was Sie im Blick behalten sollten, um Ihre Aufgabe erfüllen zu können. Denn als Führungskraft sind Sie mittelbar in vieles eingebunden, was auf unserer Welt passiert.
[19]Und es passiert eine Menge. So verschwinden über Nacht ganze politische Systeme (Welche Länder gehörten noch einmal zu Jugoslawien?), disruptive Erfindungen verändern unser Leben (Wer fotografiert noch mit einer Kamera?), erfolgreiche Unternehmen verlieren den Anschluss (Was genau macht Nokia heute?), der Klimawandel zeigt sich drastisch (Die ersten der 202 Inseln der Malediven wurden schon aufgegeben) und die Corona-Pandemie bringt die Welt aus dem Takt (z. B. durch einen massiven Einbruch im Welthandel). Gefühlt dreht sich alles schneller und der Ausgang ist ungewiss. Von oben betrachtet sieht es aus wie bei einem Hurrikan über der Karibik. Wir leben und arbeiten in turbulenten Zeiten.
»Die Welt ist VUCA« VUCA ist ein Akronym (Kunstwort) und steht für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. Es war die Antwort des US Army War College auf den Zusammenbruch der UdSSR Anfang der 1990er Jahre. Das einfache Weltbild von zwei politischen Blöcken, die sich gegenüberstehen, hatte sich aufgelöst. Es gab nicht mehr den einen Feind, was neue Sicht- und Reaktionsweisen zur Folge hatte. Der Managementtrainer Bob Johansen hat dieses Konzepts in den 2000er Jahren populär gemacht und die Folgen für Führungskräfte beleuchtet (vgl. Johansen, 2009).
Das VUCA-Weltbild kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Zum einen, wenn der inhaltlichen Frage »Was passiert?« nachgegangen wird, und zum anderen, wenn Antworten auf die prozessuale Frage »Wodurch zeichnen sich die Veränderungen aus?« gesucht werden. Die prozessuale Dimension lässt sich durch die vier Begriffe beschreiben, die hinter dem Begriff VUCA stehen:
- Volatility (= Schwankungsbreite): Eine volatile Situation zeichnet sich durch ihre Unbeständigkeit aus, wobei das Ausmaß und die Dauer der Veränderung stark schwanken. Beispiel: Aktienkurse.
- Uncertainty (= Unsicherheit): Eine unsichere Situation kann sich in verschiedene Richtungen verändern. Die Gründe sind bekannt, die Entwicklung aber nicht sicher zu prognostizieren. Was morgen passiert, ist immer schwerer abzusehen. Beispiel: Der Ausgang einer Bundestagswahl.
- Complexity (= Komplexität): Die komplexe Situation wird von mehreren abhängigen Faktoren bestimmt, deren Anzahl und Wechselwirkung nicht genau bekannt sind. Es ist nicht klar, wie die Dinge zusammenhängen. Beispiel: Die Entwicklung des Wetters.
- Ambiguity (= Mehrdeutigkeit): Eine mehrdeutige Situation kann unterschiedlich interpretiert werden. Es gibt mehr als eine Antwort auf eine Frage. Beispiel: Ursachen für einen Konflikt.
Inhaltlich lässt sich der Wandel durch langfriste Megatrends wie auch kurzfristige Ereignisse (z. B. Kriege, Unfälle, Naturkatastrophen) erklären und ist damit selbst einer permanenten vielschichtigen Veränderung unterworfen.
Die kurzfristigen Ereignisse kommen zumeist überraschend, dauern selbst nicht lange an und haben dennoch langfristige Konsequenzen. Die terroristischen Anschläge auf die Türme des World Trade Centers am 11. September 2001 sind ein Beispiel dafür. Der amerikanische Präsident George W. Bush hat daraufhin zu einen jahrelangen globalen »Krieg gegen den Terror« aufgerufen. Ein weiteres Beispiel ist der Unfall in dem japanischen Atomkraftwerk von Fukushima am 11. März 2011. Schon drei Monate später, am 6. Juni 2011, beschließt die deutsche Bundesregierung einen stufenweisen Atomausstieg bis 2022 und leitet damit die Energiewende ein. Und natürlich ist an dieser Stelle auch der Ausbruch des Covid-19 – Virus zu nennen, der am 11. März 2020 zur weltweiten Corona-Pandemie führte.
Den kurzfristigen Ereignissen, die die Welt verändern, stehen die langfristigen Megatrends gegenüber. Das Zukunftsinstitut aus Frankfurt am Main, ein im Jahr 1998 gegründeter Think Tank, hat zwölf solcher Megatrends identifiziert, die sich als die großen Treiber des Wandels darstellen (vgl. im Folgenden: Zukunftsinstitut, 2021):
- Gender Shift
- Gesundheit
- Globalisierung
- Individualisierung
- Konnektivität
- Mobilität
- Neo-Ökologie
- New Work
- Sicherheit
- Silver Society
- Urbanisierung
- Wissenskultur
[21]Wir möchten im Folgenden einige Megatrends beispielhaft skizzieren, um ihren Einfluss auf unsere Arbeitswelt darstellen zu können. An erster Stelle sei hier der Megatrend »New Work« genannt, der ein neues Verständnis von Arbeit formt. Die klassische Karriere verliert an Bedeutung, wohingegen die Sinnfrage in den Vordergrund rückt. In diesem Zusammenhang spielt auch der Megatrend der »Individualisierung« eine große Rolle, bei dem das Verhältnis von Ich und Wir neu ausgehandelt wird. Es geht um die Zunahme individueller Wahlfreiheiten und dem Fokus auf die Selbstbestimmung. Hier kommt es auch zu Generationenkonflikten in Verbindung mit dem Umstand, dass wir immer älter werden und dabei immer leistungsfähiger bleiben. Dahinter steckt der Megatrend der »Silver Society«.
Zu einem neuen Rollendenken von Frauen und Männern kommt es durch den »Gender Shift«, der vorhandene Geschlechterstereotypen zunehmend aufbricht. Der Megatrend der »Konnektivität« steht wiederum für ein Grundmuster der gesellschaftlichen Veränderung: die Vernetzung auf Basis digitaler Infrastrukturen. Der vielleicht bedeutendste Megatrend ist die »Globalisierung«, die sich durch die zunehmenden weltweiten Verflechtungen zwischen Individuen, Unternehmen, Gesellschaften und Systemen auszeichnet. Vieles, was an anderen Orten auf der Welt passiert, hat so auch Auswirkungen auf uns persönlich. Die Globalisierung lässt die Welt zu einem Dorf werden, in dem wir leben und arbeiten.
Durch die wachsende Unsicherheit und Komplexität in der Arbeitswelt wird ein langfristiges planvolles Vorgehen und Entscheiden als Führungskraft immer schwieriger. Die Volatilität der Ereignisse erfordert dabei immer kürzere Reaktionsgeschwindigkeiten und die Ambivalenz der möglichen Erklärungen und Konsequenzen lässt die Akteure widersprüchlich erscheinen. Es ist schwer, den Überblick über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhä...