Der gute Kaiser Franz, der Freund der Frommen und der Demokraten Schreck, ist es, den die Wiener mit Jubel empfangen, als er 1814 in die Hauptstadt zurückkehrt, nachdem er seine Soldaten, die Söhne des Volkes, in den Kampf gegen seinen eigenen Schwiegersohn Napoleon geschickt hat; jener Kaiser Franz, der das Heilige Römische Reich erlöschen und durch seinen Koch fürs Eingemachte, Metternich, nicht nur eine der stabilsten europäischen Ordnungssysteme aller Zeiten, sondern auch eine beispiellose Bewegungseinschränkung aller Untertanen einrichten lässt; jener Kaiser Franz, der zum verhaltenen Entsetzen seiner Umwelt den in Wien aus dem Sklavenstand zu hohen gesellschaftlichen Ehren aufgestiegenen Schwarzafrikaner Angelo Soliman nach dessen Ableben ausstopfen und mit einem Baströckchen angetan neben einem Warzenschwein in seinem Naturalienkabinett aufstellen lässt. Ein unendlich kleinlicher und großartiger Kaiser. Eine vielschichtige und zugleich doch so einfach gestrickte Figur, dieser Franz, den es laut Haydns Hymne durch Gott zu erhalten gilt. Ein gefährlich gemütlicher Biedermeier in Hauspantoffeln und mit dem Säbel in der Hand.
Gerade die heraufdräuende Industrialisierung, die die Welt so unbequem macht, die neuerungswütige Gründerzeit und die Hektik der Ringstraßenepoche lassen nach 1850 die ältlichen Raunzer immer öfter nach der guten alten »Backhendlzeit« rufen, in der zu spät zum Dienst kommende Beamte an ihre Schreibtische gekettet wurden, Hinrichtungen noch öffentlich waren und es sich kommod über Basteien und im »Paradeisgartl« flanieren hat lassen.
Der unvermeidliche Grillparzer hat diesen Geist des lähmenden Mittelmaßes in bleierne Worte gegossen:
Eines nur ist Glück hienieden,
Eins: des Innern stiller Frieden
Und die schuldbefreite Brust!
Und die Größe ist gefährlich,
Und der Ruhm ein leeres Spiel:
Was er gibt, sind nicht’ge Schatten;
Was er nimmt, es ist so viel!
Damit diese Form von Frieden einkehren konnte, hatten erst Ströme von Blut fließen müssen.
ERNIEDRIGUNGEN UND EIN SHOWDOWN
1806. Napoleon nähert sich dem Zenit seiner Macht und es liegt ein drückender, trügerischer Friede über Mitteleuropa. In Österreich wird Graf Philipp Stadion neuer Außenminister, und er hat eine Idee. In Spanien, so stellt er fest, hat die französische Invasion zu einem nationalen Aufstand geführt, der Napoleon schwer zu schaffen macht. Um Ähnliches in Österreich zu versuchen, müsse ein nicht unwesentliches Detail geschaffen werden: ein österreichisches Nationalbewusstsein. Der Schwabe Stadion sammelt eine lose Propagandagruppe, darunter den schlesischen Schriftsteller Friedrich Gentz, den hannoveranischen Dichter Friedrich Schlegel, den Koblenzer Literaten Clemens Brentano, den Berliner Dichter Ludwig Tieck und den preußischen Philosophen Adam Müller. Sie sollen an die nationalen Gefühle appellieren. An welche Nation denn nun? Erzherzog Johann, ein Bruder des Kaisers und der begabteste Habsburger seiner Zeit, wird Schirmherr der Propaganda und richtet flammende Aufrufe »an die deutsche Nation«. 1807 wird auf dem Josefsplatz in Wien eine Statue von Joseph II. »dem Deutschen« aufgestellt. »Josephinismus« steht plötzlich für eine konterrevolutionäre nationale Sache. – So weit die Deutschen der Monarchie.
In den Provinzen werden daneben noch historische Museen gegründet, um Österreich neu zu definieren. Konkret wird das schwierig. Mit Landwehren versucht man ein Gegenstück zur französischen »levée en masse« zu schaffen. In den deutschen Gebieten Österreichs greift das; nicht so bei den Tschechen und Magyaren, und die franzosenfreundlichen Polen will man gar nicht erst bewaffnen. Erzherzog Johann stiftet allerlei Rebellengruppen zum Aufstand an, darunter die Tiroler Bergler, die einen Partisanenkrieg gegen die bayerischen Besetzer beginnen, und auch in Dalmatien erhebt eine Rebellion gegen die Franzosen das Haupt.
Dem Kaiser Franz ist das alles zu hoch: »Was? Vaterländische Vers’ln hams g’schriebn? Wer hat Ihnen denn dös ang’schafft?«, entgegnet er dem treuen Wiener Propagandadichter Ignaz Franz Castelli, als der um Hilfe gegen die napoleonische Geheimpolizei bittet.
Wirtschaftlich muss sich Österreich 1808 nolens volens der französischen Blockadepolitik gegen England anschließen, was die heimische Textilindustrie mangels Importen ankurbelt. Aber der vergangene Krieg hat eine Inflation erzeugt, welche die städtische Bevölkerung verarmen lässt, die Bauern hingegen als Heeresverpfleger wohlhabender macht.
Erzherzog Karl, ein weiterer Bruder des Kaisers, bringt der Armee neue Tricks bei, die Tirailleur-Taktik, das Vorgehen in aufgelöster Schützenreihe. Anfang 1809 wähnt man sich gut gerüstet, Armee und Landwehr zählen 700 000 Mann. Ziemlich einsam, da die Preußen seit den Schlachten bei Jena und Auerstedt (1806) wieder einmal zum Stillhalten verdammt sind, wagt Österreich einen neuen Waffengang gegen Napoleon. Der marschiert sofort gen Wien und nimmt – ebenso wieder einmal – Quartier in Schönbrunn. Am 21. Mai will er dem Heer des nördlich der Donau heranrückenden Erzherzogs Karl begegnen, tut es auch und wird geschlagen – diesmal ist es ein erstes Mal! In der zwei Tage dauernden blutigen Schlacht in den Donauauen in der Lobau bei den Dörfern Aspern und Essling gelingt den Österreichern ein wichtiger Prestigesieg gegen den für unbesiegbar gehaltenen Kaiser der Franzosen.
Realpolitisch bedeutet er indes nichts, denn am 5. und 6. Juli siegt Napoleon bei Wagram und nimmt Österreich im folgenden Frieden von Schönbrunn neben Tirol und Vorarlberg auch Salzburg, das Innviertel, Galizien, die illyrischen Provinzen, also insgesamt 2000 Quadratkilometer mit vier Millionen Einwohnern weg, und dazu den Zugang zum Meer. Das Reich wird zum Binnenland und muss Kriegsreparationen zahlen. Inzwischen ist auch die Tiroler Guerilla unter dem so frommen wie in mehreren Bergiselschlachten standhaften Sandwirten vom Passeiertal Andreas Hofer und dem Freiheitskämpfer Speckbacher in Bedrängnis geraten. Österreich begeht Verrat an Hofer und seinen Kriegern, die grimmig weiter Widerstand gegen die Bayern leisten. Hofer wird durch Denunziation ergriffen und am 20. Februar 1810 zu Mantua hingerichtet.
Österreich ist militärisch, politisch, finanziell und moralisch bankrott. Franz entlässt Graf Stadion und enthebt seine Brüder Johann, den er in die Steiermark verbannt, und Karl aller Ämter. Er beruft den rheinischen Aristokraten Klemens Wenzel Lothar Metternich ins Amt des Außenministers. Der kennt Napoleon und weiß, wie man ihn besänftigen kann. Denn der französische Kaiser ist so richtig böse auf Österreich und will es eigentlich aufteilen und in kleine Stücke reißen, aber sein Außenminister Talleyrand hat ihn davor gewarnt und bemerkt, Österreichs Bestand sei ein Zivilisationsfaktor in Südosteuropa …
Metternich rät nun, Franzens junge Tochter Marie-Louise dem Korsen zur Frau zu geben, denn er lechzt nach Nachkommen aus einer Ehe mit einer Fürstentochter aus einem alten regierenden Haus. Ein moralischer Tiefpunkt für die Habsburger. 40 Jahre nach Marie Antoinette fährt eine weitere weinende Erzherzogin gen Paris … Als sie dem Empereur, der auch als Aigle, also Adler bezeichnet wird, am 20. März 1811 einen kleinen Aiglon schenkt, der vom überglücklichen Napoleon den Titel »König von Rom« bekommt, ist das aus Sicht des Schwiegerpapas keinen Tag zu früh, denn am 20. Februar ist Österreich in den Staatsbankrott geschlittert. Man ist nun ein Satellitenstaat Frankreichs und muss an Napoleons wahnwitzigem Russland-Feldzug teilnehmen. Die 30 000 Mann des Fürsten Karl Philipp zu Schwarzenberg können allerdings von Metternich geschickt aus dem Schlimmsten herausgehalten werden und erfrieren nicht zusammen mit Napoleons Großer Armee im russischen Winter 1812.
Des Korsen Glück hat sich gewendet. In der »Völkerschlacht« bei Leipzig 1813 machen Russen, Preußen, Schweden und Österreicher Napoleon den Garaus. Österreich stellt das größte Armeekontingent. Metternich bleibt dennoch diplomatisch vorsichtig –immerhin ist Napoleon der Schwiegersohn des Kaisers Franz. Der Empereur ist aber zu keinen Zugeständnissen bereit. Im Mai 1814 rücken die Alliierten in Paris ein, Napoleon wird nach Elba verbannt, die Bourbonenkönige kommen in Gestalt von Ludwig XVIII. zurück. Ein »Friede von Paris « wird geschlossen. Das reicht aber nicht, meinen die Alliierten. Es braucht einen großen Kongress zur Friedenssicherung, der die Welt neu ordnen soll. Er wird für September 1814 in Wien angesetzt.
DER WELTKONGRESS
»Ihr weisen Gründer glücklicher Staaten, Neigt Euer Ohr dem Jubelgesang. Es ist die Nachwelt, die Eure Thaten, Mit Segen preist Aeonen lang! Vom Sohn auf Enkel im Herzen hegen Wir Eures Ruhmes Heiligthum, Stets fanden in der Nachwelt Segen, Beglückende Fürsten ihren Ruhm.« Aus jeder Zeile quillt Triumph, in jeder Strophe wird die Gloriole der siegreichen Alliierten über Napoleon gewoben, Kaiser Franz von Österreich, König Friedrich Wilhelm von Preußen, Zar Alexander von Russland. Eine Auftragskomposition des Starkomponisten Ludwig van Beethoven begrüßt hohe Gäste aus ganz Europa: Der Chor auf die verbündeten Fürsten. Der Text stammt von Beethovens Freund, dem Journalisten Joseph Carl Bernard.
Weit nüchterner fällt der Kommentar des Volksmunds aus. In den ersten Oktobertagen 1814 kursierte in Wien ein gedrucktes Flugblatt, das die am Wiener Kongress teilnehmenden Monarchen charakterisierte:
Zar Alexander I von Russland: Er liebt für alle.
Friedrich Wilhelm von Preußen: Er denkt für alle.
Friedrich von Dänemark: Er spricht für alle.
Maximilian von Bayern: Er trinkt für alle.
Friedrich von Württemberg: Er frisst für alle.
Kaiser Franz von Österreich: Er zahlt für alle.
Das traf nachweislich vor allem für einen zu, den guten Kaiser Franz, der als Gastgeber des Kongresses tief in die Tasche griff. Doch mochte er auch zahlen – den meisten seiner Zeitgenossen erschien der Kaiser als persönlich geizige, blasse, manchmal geradezu leblose Figur, ein krummbeiniger, hagerer Mann mit etwas zu groß geratenem Kopf, mit einem Hang zu merkwürdigem Humor und frivoler Neugierde. Der Schweizer Jean-Gabriel Eynard: »Er sieht ganz gebrochen und alt aus; klein, dünn von Gestalt, mit rundem Rücken und einwärts gebogenen Knien. Sein Festkleid ist stets das gleiche: ein weißer Rock, rote Beinkleider und schwarze Stiefel. Er zeigte sich während des Gesprächs sehr schüchtern und verlegen. Man kann unmöglich weniger einem Souverän und mehr einem Kleinbürger aus einer Provinzstadt gleichsehen als er.«
Der Theoretiker der Romantik, Adam Müller, sah keinerlei Begeisterung für den Kaiser in der Gesellschaft: »Sie schätzt den Kaiser gering, nicht weil er kein Staatsmann, kein Feldherr ist, sondern weil er nicht elegant, nicht comme il faut ist.« Die sichtbare Gleichgültigkeit des Kaisers gegen die Leiden des Volks in den letzten Kriegen und auch die Verheiratung seiner Tochter Marie-Louise mit Napoleon hätten den »Nationalsinn« der Menschen abgestumpft. Obgleich Eynard einwendet, wohl unter dem Eindruck der allerletzten Monate: »Dieser Herrscher wird von seinem Volk und dem ganzen Hof sehr geliebt; überall vernimmt man sein Lob. Der Ausdruck seines Gesichts ist tatsächlich äußerst geistig, erscheint jedoch wenig geistreich.«
Trotzdem erweist sich Franz gerade auf dem Kongress als großzügig. Nicht nur, dass er geschätzte 80 000 Gulden pro Tag aufgebracht haben, sondern auch angesichts der lockeren moralischen Sitten seiner Gäste geäußert haben soll: »Nur kan Genierer!«
Zurückhaltend ist er auf anderem Gebiet. Seine Tochter Marie-Louise, gewesene Kaiserin von Frankreich, wird von ihm diskret versteckt, sie zeigt sich nicht in der Öffentlichkeit, wird höchstens von Gästen wie Talleyrand besucht. Franz lässt sie von Graf Adam Albert Neipperg charmant und galant überwachen. Zu seinem Schwiegersohn Napoleon hat der Habsburger ein ambivalentes Verhältnis: Er ...