Der Onkel aus Preßburg
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Der Onkel aus Preßburg

Auf österreichischen Spuren durch die Slowakei

  1. 272 Seiten
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Der Onkel aus Preßburg

Auf österreichischen Spuren durch die Slowakei

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Über dieses Buch

Ein Reise- und Lesebuch voller überraschender Entdeckungen im Nachbarland SlowakeiKomponist Franz Lehár, Hotelkönig Eduard Sacher, Opernprimadonna Lucia Popp und Bundespräsident Theodor Körner sind in der Slowakei geboren. Auch Andy Warhols, Peter Lorres und Paul Newmans Wurzeln liegen in diesem Teil der ehemaligen k.u.k. Monarchie, und im Palais Grassalkovich zu Preßburg ist die geheime Romanze zwischen Erzherzog Franz Ferdinand und Sophie Chotek aufgeflogen. Die Schafalmen der Hohen Tatra sind berühmt für ihren "Liptauer", der Kurpark von Bardejovské Kúpele für sein Sisi-Denkmal, das alle politischen Stürme des 20. Jahrhunderts heil überstanden hat.Spurensucher Dietmar Grieser erschließt in fesselnden Reiseberichten und farbigen Biographien ein erlebenswertes Stück Europa.

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Information

Bei den Schäfern von Liptau

Als ich vor einem halben Jahrhundert nach Wien übersiedelte, zählte es mit zu meinen ersten Unternehmungen in der neuen Lebenswelt, eine Institution zu erkunden, von deren Reizen mir schon vorher mancherlei zugeraunt worden war: der Heurige. Die einfachen Weinschenken in den eingemeindeten Vororten der Millionenstadt waren zu jener Zeit in vielem »echter« als heute: Statt des protzigen Großangebots an Bouteillenweinen, das dem Genußmenschen der Überflußgesellschaft die Wahl oft schwer macht, wurden Ende der fünfziger Jahre höchstens zwei Sorten ausgeschenkt: der »alte« und der »heurige«, und auch das Speisenbuffet blieb auf einiges Wenige beschränkt: Salami, hartgekochte Eier, frische Tomaten, Radieschen und Brot.
Was jedoch bei aller Dürre des Angebots auf keinen Fall fehlen durfte, war der Liptauer. Mit keinem der mir aus Kindertagen vertrauten Brotaufstriche vergleichbar, gab es ihn in den Varianten »scharf« und »mild«, er war gleichermaßen bekömmlich wie preiswert, und nächst dem Wein war es nicht zuletzt die Güte des Liptauers, die über die Güte des jeweiligen Heurigen entschied. Über seine Zubereitung machte man sich wenig Gedanken und noch weniger über seine Herkunft: Der Liptauer war allgemein als echt österreichische Spezialität anerkannt, fast eine Art Grundbestandteil der kalten Küche. Und zu seinen Besonderheiten zählte, daß ihn kaum jemand selber zubereitete: Liptauer aß man nicht daheim, sondern beim Heurigen.
Später, als ich häufiger in anspruchsvollen Innenstadtrestaurants verkehrte, lernte ich auch jene »noble« Variante kennen, die sowohl Zusammensetzung wie Zubereitung dem Gast überließ. Vor allem im (heute nicht mehr existierenden) Liesingerkeller hinter der Oper konnte ich jenen Typ Feinschmecker beobachten, der sich die einzelnen Ingredienzien seines Liptauers separat servieren ließ und deren Mischung höchstpersönlich vornahm: in der Mitte des Tellers ein ordentlicher Batzen des obligaten Frischkäses und am Rand, einem bunten Kranz ähnelnd, an die zehn oder mehr Häuflein feingehackter Beigaben: Zwiebel und Kapern, Essiggurke und Sardelle, Schnittlauch, Paprikapulver, Kümmel, Pfeffer und Salz – nicht zu vergessen ein Flöckchen Butter. Und dazu dunkles Brot. Dann begann die Prozedur: Je nach Gusto stellte der Gast die von ihm bevorzugte Mischung her, ließ dieses weg und bestellte jenes nach, formte das Ganze zu einem cremigen Brei – und ließ es sich schmecken. »Nicht angemacht«, lautete die Order an den Kellner, wenn der Gast auf Eigeninitiative bestand.
Aber ob »angemacht« oder »nicht angemacht« – auch der ausgepichteste Gourmand wäre nie auf den Gedanken verfallen, nach dem Ursprung seiner Leibspeise zu fragen: Der Liptauer gehörte einfach mit dazu, war fester Bestandteil der österreichischen Speisekarte (der geschriebenen ebenso wie der ungeschriebenen), und damit basta.
Ich hingegen wollte es genauer wissen, ging der Sache auf den Grund und fuhr nach Liptau. Präziser gesagt: zum Lokalaugenschein nach Liptovsky Mikuláš …
In Ostrava, dem früheren Mährisch Ostrau, steige ich vom Zug ins Auto um. Die Fahrt führt über die heute kaum noch wahrnehmbare Grenze zwischen Tschechien und der Slowakei; über Čadca, Žilina und Ružomberok erreiche ich nach knapp zwei Stunden Fahrt die Bezirkshauptstadt Liptovsky Mikuláš, die zu Zeiten der österreichischen Doppelmonarchie Liptau Sankt Nikolaus geheißen hat. Es ist jener hügelreiche Landstrich zwischen den Ausläufern der Niederen und der Hohen Tatra, den nicht nur die Slowaken, sondern auch ihre polnischen Nachbarn als Ferienregion entdeckt haben: reich an satten Almwiesen, reich an idyllischen Dörfern, deren geduckte schwarzbraune Holzkeuschen mit Schindel- oder Blechdächern gedeckt sind, die ihnen wie wetterfeste Mützen tief ins Gesicht gezogen sind, reich an geheimnisvollen Höhlen und munter sprudelnden Quellen, Wasserfällen und Bächen. Vor allem aber reich an Schafherden, denen das Land seit Jahr und Tag einen ihrer größten natürlichen Reichtümer verdankt: den frischen Bergkäse, den die Einheimischen bryndza nennen und die Österreicher Brimsen.
Es ist alles von langer Hand vorbereitet: Dušan Žiaran, der Bürgermeister des in siebenhundertfünfzig Meter Höhe gelegenen 1200-Einwohner-Dorfes Jakubovany, hat zugesagt, die Führung zu einer der typischen Schafalmen der Region zu übernehmen, wo tagtäglich zu früher Morgenstunde die Herde zum Melken zusammengetrieben und an Ort und Stelle die Milch zu Käse verarbeitet wird – von Hand, wie es die uralte Tradition gebietet, also im allerbesten Sinne primitiv.
Vereinbart ist, daß wir spätestens um 7 Uhr zur Alm aufbrechen, und damit wir bei Schlechtwetter nicht im Schlamm versinken, rät man mir dringend, für das zu Fuß zurückzulegende letzte Stück Strecke Gummistiefel anzulegen. Für die Verständigung bin ich auf Augenkontakt angewiesen: Dušan ist ein kluger Mann um die sechzig, der noch während der kommunistischen Zeit die Schule besucht und daher – als einzige Fremdsprache – Russisch gelernt hat.
Je näher wir dem Ziel kommen, desto schlechter wird die Straße, streckenweise fahren wir im Schrittempo. Nur die Betonpiste, auf der von Zeit zu Zeit die kleinen Materialflugzeuge der Agrargenossenschaft landen, ist perfekt ausgebaut. Von hier aus rasch noch ein Höhenblick auf Dušans Dorf: die Häuser mit ihren nur lukengroßen Fenstern, die ihnen vorgelagerten Gemüsegärten, die Obstbaumgruppierungen, die Brennholzstöße. Auch die beiden Kirchen kommen ins Bild: die größere katholische und die kleinere evangelische.
Zu unserer Labung während der nächsten Stunden führt Dušan eines jener črpák genannten Trinkgefäße mit, die für die Gegend charakteristisch sind: aus Fichtenholz geschnitzt und über dem Griff mit einer Miniaturfigur versehen, die den Schäfer in voller Aktion zeigt – auf einen Hocker gestützt und mit beiden Händen den Euter des vor ihm stehenden Tieres bearbeitend. Auch das traditionelle Outfit des bača ist zu erkennen: der leinene Schäferkittel, der flache Hut mit der breiten, hochaufgebogenen Krempe, das solide Schuhwerk.
Wir haben Glück, treffen am Ziel die komplette »Mannschaft« an: Der Hirte (honelník) hat, bevor er mit der fünfhundertköpfigen Herde zum Weiden auf den umliegenden Wiesen aufbrechen wird, seine Schützlinge zum Melkvorgang in Stellung gebracht; »Chef« Janko und Helfer Martin machen sich über die Euter der Tiere her; die Nummer 4 schleppt die frischgewonnene Milch zu den diversen Arbeitsplätzen, an denen die nötige Reinigung, die Erhitzung und die weitere Verarbeitung erfolgt.
In einem eigenen Gehege beisammengehalten und von den weiblichen Tieren getrennt: die Widder. Der träge vor sich hin dösende Hund wird erst wieder gebraucht, wenn es nach dem Melken auf die Weide hinausgeht. Das Blöken der an den Ohren mit Farbzeichen markierten Schafe und das Bimmeln der an Ledergurten um ihren Hals geschlungenen Glöckchen sind die einzigen zu vernehmenden Geräusche, das gelbrote Billa-Sackerl in einem der Winkel der Schäferhütte der einzige »Fremdkörper« in dem ansonsten archaischen Ambiente. Wenn einmal pro Woche die Frau des Schäfers zu Besuch kommt, bringt sie aus dem Dorf alles fürs tägliche Leben Nötige mit – auch der genügsamste bača kann sich nicht ausschließlich von Milch und Käse ernähren. Wieso Billa? Die Supermarkt-Versorgung drunten im Tal – und nicht nur dort – ist fest in österreichischer Hand.
Salaš ist das slowakische Wort für Almhütte; auf den Meßblättern der Region sind sie allesamt eingezeichnet. Der Wanderer soll wissen, wo er sich während der sieben Monate dauernden Saison seinen frischen Liptauer holen oder auch nur, falls ihn ein Unwetter überrascht, unterstellen kann. Ich blicke um mich: Die schneebedeckten Berge muten von hier aus noch näher an als aus dem Tal, die Sonne verstärkt ihr strahlendes Weiß.
Während Janko, den hölzernen Bottich vor sich, die mit Labferment versetzte Milch rührt, damit sie zu Topfen erstarre, die entstehenden Klumpen abseiht, zu doppelt handgroßen Ballen formt und zum weiteren Reifen in die Käsekammer trägt, sehe ich mich ungestört auf dem kleinen Anwesen um. Hier der Brunnen mit der fürs Ausspülen der Seihtücher erforderlichen Wasserrinne, dort die Schnur zum Aufhängen und Trocknen der Tücher, hinter der Hütte der Hackklotz, wo das eingesammelte Astwerk zu Brennholz zerkleinert wird, in einem der Winkel der blechbeschlagene Hirtenstab, der zugleich Stütze und Abwehrwaffe gegen wildes Getier ist.
Dušan, der mit knappen Handzeichen für die Verständigung zwischen den Schäfersleuten und mir sorgt, deutet auf den im Erdreich vor der Hütte verankerten Holztisch samt Sitzbank: Janko will uns von »seiner« Milch kosten lassen. Mein Zögern kann ihn nicht überraschen: Ich bin nicht der erste Fremde, der bei ihm einkehrt. Wir steuern derweil auf den Höhepunkt zu: Es gibt frischen Käse, dazu Salz und Brot. Ich lasse mir anmerken, welch besonderes Erlebnis dies alles für mich ist: Wie gern würde ich Janko und seinen Helfern vom Wiener Heurigen erzählen und vom dortigen »Liptauer« und auch davon, wie dankbar ich bin, an diesem gesegneten Frühsommermorgen hoch droben auf einer Almwiese im Schatten der Niederen Tatra in die Kunst der Käsezubereitung eingeweiht zu werden.
Wie konnte ich ahnen, daß kurz vor der Verabschiedung von den gastlichen Schäfersleuten noch eine weitere Überraschung auf mich warten würde! Dušan hat schon die Wagentür für die Rückfahrt ins Tal geöffnet, da löst sich einer aus der Gruppe der Helfer, kommt auf mich zu und richtet das Wort an mich. Es ist Martin, mit seinen vierundzwanzig Jahren der Jüngste von ihnen, einer jener heutzutage nicht seltenen Aussteiger, die in der radikalen Abkehr von der Konsumwelt – zumindest für eine Weile – die Lösung ihrer Lebensprobleme erblicken.
Der hübsche Bursche mit dem grundehrlichen Blick spricht ein leidlich gutes Englisch, kann sich also auf Befragen zu seiner Situation äußern, und er tut dies mit einer Überzeugungskraft, die klar darauf schließen läßt, daß er seit Antritt seines Saisonjobs auf der Alm mit sich und der Welt im Reinen ist. Er hat sein Ingenieursstudium an der Universität ausgesetzt und läßt offen, ob er es eines Tages wiederaufnehmen wird: Jetzt geht es ihm einfach nur darum, einen ihm fremden und wohl auch vom langsamen Aussterben bedrohten Beruf kennenzulernen, der ihn nicht nur eine Weile ernährt, sondern vor allem von den Zwängen der Wohlstandsgesellschaft befreit. Er vermißt weder Telefon noch Fernsehen, seine einzige Verbindung zur Außenwelt ist das kleine alte Transistorradio, das Schäfer Janko auf dem Tisch neben dem Melkplatz stehen hat. Da ist nichts von sektiererischer Weltflucht, auch nichts von altruistischer Pose: Martin verkörpert aufs entspannteste den geglückten Versuch eines Einstiegs in ein bedürfnisloses Leben in freier Natur. Den einzigen Besuch, den er in seinem neuen Milieu empfangen hat, sind seine Eltern: Der Vater hat für Martins Entschluß Verständnis geäußert, nur die Mutter ist angesichts der entbehrungsreichen Lebensumstände auf der Alm in Tränen ausgebrochen.
Rückfahrt ins Tal, Bürgermeister Dušan Žiaran hat für mich auch einen Besichtigungstermin in einer der großen Käsereien in der Bezirkshauptstadt Liptovsky Mikuláš organisiert. Zweihundert Leute beschäftigt die seit einigen Jahren einem französischen Konzern eingegliederte Fabrik, 200000 Liter Milch werden pro Tag zu Liptauerkäse verarbeitet. Das meiste davon, so berichtet Direktor Ján Kresák, geht in den Export: Seine slowakischen Landsleute, klagt er, sind keine Käseesser. Griechenland mit 30 Kilo pro Person und Jahr führt die Statistik an, gefolgt von Frankreich und Österreich.
Kresák, auch im Geschichtlichen der Branche bestens beschlagen, gerät ins Schwärmen, wenn er in seiner Rede die alten Zeiten heraufbeschwört, als im kaiserlichen Österreich der Liptauer Brimsen einer der großen Exportartikel der Region gewesen ist, und er zitiert sogar den anno 1917 von der k. k. Hof- und Staatsdruckerei herausgegebenen Codex Alimentarius Austriacus, der im Kapitel »Käse« nicht nur die strengen Herstellungsbedingungen des Original-Liptauers im Detail aufzählt, sondern auch auf die dem Produkt eigenen Mikroorganismen eingeht. Des weiteren erfahre ich, wie im Lauf der Zeit der sich wandelnde Konsumentengeschmack den Anteil der Schafsmilch gegenüber der Kuhmilch zurückgedrängt hat oder welche Widerstände in jüngster Zeit zu überwinden gewesen sind, als es darum ging, der EU den Markenschutz für slovenská bryndza abzuringen. Auch Direktor Kresáks Schilderung des von ihm alljährlich organisierten Käsefestivals auf dem Hauptplatz von Liptovsky Mikuláš bestätigt mir, daß ich bei diesem Mann an der richtigen Adresse bin. Die Hygienevorschriften seines Betriebes gebieten es, daß ich zur Besichtigung der Werkshallen Schutzkleidung anlege: Plastikmantel, Plastikpantoffeln, Plastikhaube. Und natürlich werde ich bei der Verabschiedung mit einem bunten Sortiment von Produktproben bedacht: Auf Wochen hinaus bin ich mit Liptauer eingedeckt, kein Wiener Heuriger wird mich so bald wiedersehen …
Wie begründet meine Sympathie für dieses Land und seine Menschen ist, werde ich anderntags erfahren, wenn ich mich auf den Weg mache in die Nachbarstadt Liptovsky Hrádok, um dem dortigen Schäfermuseum einen Besuch abzustatten. Es ist der 1. Mai, also auch hierzulande Feiertag, und das bedeutet: Das Museum ist geschlossen. Am folgenden Tag will ich die Rückreise nach Wien antreten, werde also auf dieses Kuriosum, von dem ich so viel Rühmliches gehört habe, verzichten müssen. Da tritt die Rezeptionistin des Hotels, der ich mein Leid klage, in Aktion. Sie schaltet den Computer ein und hängt sich ans Telefon – mit dem Resultat, daß sie nach mühevollem Hin und Her die Kustodin des Schäfermuseums an deren Wohnadresse ausforscht, ihr die Dringlichkeit meines Begehrens unterbreitet und ihr wahrhaftig den Entschluß abringt, einen Teil ihrer Freizeit zu opfern, den Weg zum Museum anzutreten und dem Gast aus Österreich zu einem Sondertermin Einlaß zu gewähren. Pünktlich zur vereinbarten Stunde rückt die gute Seele mit Kind und Kegel an, um das Licht aufzudrehen, und so ist auch dieses Teilstück meiner Liptauer-Recherche gesichert.
Wie groß ist mein Entzücken, hinter der schäbigen Fassade des renovierungsbedürftigen Hauses in der Partizanska eine Volkskundesammlung vorzufinden, die sowohl hinsichtlich ihres Bestandes wie ihrer Präsentation landesweit ihresgleichen sucht. Nichts fehlt in diesen mustergültig gestalteten (und auch englischsprachig beschrifteten) Vitrinen: weder das traditionelle Schäfergewand aus weißem Leinenkittel, grauer Filzhose und reichbesticktem Umhang noch das an die indianischen Mokassins erinnernde Schuhwerk, der paillettengeschmückte flache schwarze Hut und der breite Ledergürtel mit den goldglänzenden Schnallen. Welch reiche Auswahl an Schaffellen, Hirtenstäben und anderen Schäferutensilien, an Milch- und Käsereigefäßen, aber auch an kunstvollen Schnitzarbeiten – bis hin zum Thema Bethlehem: die Hirten an der Krippe.
Am Beispiel erstklassig gearbeiteter Holzskulpturen erlebe ich die Liptauer Schäfer auf ihrer Wanderschaft und bei ihrer Selbstverteidigung gegen Wolf und Bär, beim Melken und bei der Käsezubereitung, beim Holzhacken, selbst bei Tanz und Spiel. Fiedel, Hirtenflöte und das bis zu fünf Meter lange Alphorn sind ihre traditionellen Musikinstrumente, das schon erwähnte črpák ihr Trinkgefäß. Sogar von einer Art Gründervater der Schafkäseerzeugung erfahre ich: Jan Vagač hat er geheißen, 1787 gilt als das Datum seiner Erfindung, in der mittelslowakischen Ortschaft Detva wird seiner bis heute dankbar gedacht.
Letzter Tag im Liptauerland, rasch noch ein paar »käsefreie« Ausflüge. Der erste führt mich zu der berühmten Holzkirche von Sväty Kríž – es ist jener eigentümliche Sakralbau aus der Zeit um 1775, dessen Grundelemente wir auch bei vielen der hiesigen Wohnhäuser wiederfinden: weißgekalkter Steinsockel und darüber die kunstvoll verfugte Konstruktion aus schwarzbraunen Holzbrettern. Joseph Lang, der Zimmermann, der das über 1000 Gläubige fassende Gotteshaus binnen eines Jahres gebaut hat, konnte weder lesen noch schreiben. Auch eine Reihe weiterer Beschränkungen galt es zu meistern: Da »seine« Kirche den aufständischen Protestanten zugedacht war, knüpfte Kaiser Leopold I. seine Baubewilligung an eine Reihe strenger Bedingungen. Die Kirche durfte nur am Ortsrand errichtet werden, durfte eine bestimmte Höhe nicht überschreiten und mußte ohne Türme auskommen, Eingang und Glocke waren auf der dem Dorf abgewandten Seite zu plazieren.
Als zwischen 1974 und 1982 der Stausee und das Wasserkraftwerk von Liptovsky mara angelegt werden, muß das komplette Dorfareal von Paludza geräumt werden, und um wenigstens dessen sakrale Mitte zu retten, wird die Kirche in ihre Einzelteile zerlegt, bei dieser Gelegenheit restauriert und anschließend am Ortsrand der zwölf Kilometer entfernten Gemeinde Sväty Kríž neu aufgebaut. Heute als nationales Kulturdenkmal geschützt, ist die Holzkirche von Sväty Kríž – nicht zuletzt ihrer im bäuerlichnaiven Stil gemalten Bibelbildnisse wegen – eine der begehrtesten Touristenattraktionen der Region, und auch ich lasse mit Freuden ihre altertümlichen Reize auf mich wirken. Die beiden Küsterinnen, die mich einlassen, verweisen auf die Tonbandanlage, die die Geschichte von Sväty Kríž auch auf englisch erläutert. Als ich mich nach erfolgtem Rundgang von den freundlichen babičiek verabschiede und meinen Obolus hinterlasse, eilen sie zum Hintereingang und läuten die Glocke. Ich blicke auf die Uhr: Es ist keine volle Stunde und auch keine halbe, sondern irgendwann zwischendrin. Ob der wohlklingende Gruß dem Gast aus der Fremde gilt?
Auch mein zweites Ziel, das Museumsdorf von Pribylina, verdankt seine Existenz dem vorerwähnten Kraftwerksbau. Es sind Überbleibsel der versunkenen Dörfer von ringsum: Bauernkeusche und Schmiede, Schulzimmer und Lehrerwohnung, die Schlafkammer des Gemeindedieners und die Korbflechterei, die dem Schäfer während der Wintermonate seinen Lebensunterhalt sichert.
Nicht immer geht es im Museumsdorf von Pribylina so still zu wie am Tag meines Besuchs: Ende Mai, wenn die Leute aus dem Liptauerland hier zusammenströmen, um miteinander den »Schäfersonntag« zu feiern, geht’s bis in die späten Abendstunden hoch her – mit Jahrmarkt und Picknick, mit Tanz und Musik.
Mit Liptauer habe ich meine Geschichte begonnen, mit Liptauer soll sie enden. Ich nehme meine letzte Mahlzeit ein, bestelle das Nationalgericht der Gegend, lasse es mir munden. Früher das typische Arme-Leute-Essen, ist bryndzové halušky heute die erklärte Attraktion aller Touristenlokale ringsum. In einer flachen Holzschüssel von charakteristischer Gestalt wird es serviert: Es sind Nockerln aus Erdäpfelteig, angerichtet mit Grammeln und Speck. Und abgeschmolzen mit – erraten! – Liptauer Brimsen.

Fromme Lügen

Sie ist siebenundfünfzig, hat nur mehr drei Lebensjahre vor sich: Kaiserin Elisabeth ist sowohl gesundheitlich wie...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Vorwort
  7. Zum Gansl-Essen nach Preßburg
  8. Das Medaillon
  9. In Preßburg fing alles an
  10. Der Schachtürke des Herrn von Kempelen
  11. Die Orgel der Franziskaner
  12. p wie Portisch
  13. Hoch hinaus
  14. Soufflé Stephanie
  15. Tafel, Griffel, Schwamm
  16. »Sie soll gleich dableiben!«
  17. Das schwarze Gold von Gbely
  18. Der Mond von Dolná Krupá
  19. Unter Freunden
  20. Der Karpaten-Dämon
  21. Sami und die Bücher
  22. Bei den Schäfern von Liptau
  23. Fromme Lügen
  24. Im Land der Varcholas
  25. Kognak für Oberleutnant Lukasch
  26. Mamas Marmelade
  27. Andenken an »ranz«
  28. Das Sacherhaus von Zelis
  29. Auf dem Zugdach zur Aufnahmsprüfung
  30. Lehár und der Europaplatz
  31. Dr. Stress
  32. Tornisterkind
  33. Vertreibung und Aussöhnung
  34. Trauung im Exil
  35. Der slowakische Großvater
  36. Tilgner kann alles
  37. … und zur Melange ein Beugel