Christian Merlin
Die Wiener
Philharmoniker
Das Orchester und seine Geschichte
von 1842 bis heute
Band I
Aus dem Französischen
von Uta Szyszkowitz
Eine Übersicht über die Konzerte der Wiener Philharmoniker seit ihrer Gründung 1842 ist unter http://www.wienerphilharmoniker.at/konzerte/archive abrufbar.
Bildnachweis
Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv (1–12, 14–17, 19–22, 24, 26–30, 32, 33, 35–41, 43–47, 49), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto L. Gillich (13), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto S. Frey (18), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Fayer (23, 31), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Löwy (25), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Broneder (34), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Votava (42), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Hanak (48, 51), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Fischer (50, 52, 53), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Terry (54, 57–59), Wiener Philharmoniker/Historisches Archiv/Foto Vivianne (55), Benedikt Dinkhauser/Wiener Philharmoniker (56), Martin Kubik/Wiener Philharmoniker (60), Terry Linke/Wiener Philharmoniker (61), Jun Keller/Wiener Philharmoniker (62–64)
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Der Verlag dankt dem Historischen Archiv der Wiener Philharmoniker für die freundliche Unterstützung der Übersetzung aus dem Französischen.
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Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten
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Printed in the EU
ISBN 978-3-99050-081-1
eISBN 978-3-903083-64-6
Dem Andenken meines Großvaters Charles Bernard, der niemals genau wusste, ob er in erster Linie Rumäne, Jude oder Österreicher war. Geboren in der Bukowina, nannte er sich, wenn er schon kein Wiener war, immerhin einen »Bukowiener«. Inhalt
Einführung
ERSTER TEIL
Die Anfänge
1. KAPITEL
1842. Die ersten Philharmoniker
Erster Konflikt mit dem Dirigenten
2. KAPITEL
Die Holbein-Jahre
Die Vergrößerung des Orchesters
3. KAPITEL
1855–1866. Cornet und Eckert
Das Engagement von Josef Hellmesberger sen.
Der Beginn von Abonnementkonzerten und die neuen Statuten
Der Generationswechsel
4. KAPITEL
1869. Die Eröffnung des neuen Opernhauses
Der Kampf um Unabhängigkeit
Ein multiethnisches Orchester
Die erste massive Vergrößerung
Die Wiener Schule
5. KAPITEL
1870–1897. Von der Stabilisierung in die Gefährdung
Neue Gesichter
Der Eintritt von Josef Hellmesberger jun.
Die Bestellung von Arnold Rosé
Der Pensionsfonds
Der Generationswechsel und die Wiener Oboe
Von der Ventilposaune zur Zugposaune
Ein Orchester der Dynastien
Häufiger Pultwechsel
Die Erfindung der Wiener Pauke
6. KAPITEL
1897–1907. Die Reformen Mahlers
Das Zwischenspiel von Hellmesberger jun.
Die Neuordnung der Gruppen
Ein Rekord an Neuengagements
Erste Ansätze einer Internationalisierung
Die Wiener Komponente
Neue Methoden bei Neubesetzungen
Die Einführung der Böhm-Flöte
Harfennot
Der schwierige Umgang mit dem Personal
Pro und kontra Mahler
Die Wiener Identität
7. KAPITEL
1908–1917. Die Ruhe nach dem Sturm
ZWEITER TEIL
Die Erste Republik
8. KAPITEL
1918–1928. Schalk zwischen Tradition und Erneuerung
Erste Salzburger Festspiele und erste Tourneen
Eine aktive Einstellungspolitik
Die zweite massive Vergrößerung
Rückkehr zur Normalität
9. KAPITEL
1929–1938. Clemens Krauss
Burghauser gegen Krauss
Der Fall Odnoposoff
Das Engagement von Willi Boskovsky
Die Philharmoniker unter dem austrofaschistischen Regime
DRITTER TEIL
Der Nationalsozialismus
10. KAPITEL
1938–1945. Die Philharmoniker im Nationalsozialismus
Die Zwangspensionierung von jüdischen Musikern
Die Neueinstellungen vor einem tragischen Hintergrund
Das Ausscheiden von Odnoposoff
Furtwänglers Liste
Die Philharmoniker und das Exil
Die Opfer des Holocaust
Das Schicksal der »Mischlinge«
Der Status des Vereins unter dem NS-Regime
Jerger als Vorstand
Die dritte massive Vergrößerung des Orchesters
Die Philharmoniker im Krieg
Neue Fragen zum Wiener Stil
Reform der Rangordnung
VIERTER TEIL
Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
11. KAPITEL
1945–1955. Provisorium und Wiederbeginn
Die Philharmoniker als Volkssturmeinheit
Die zaghafte Entnazifizierung
Die Argumentation der inkriminierten Musiker
Eine angespannte Atmosphäre
Austritte und Wiedereintritte
Die Wiedereinladung Friedrich Buxbaums bei den Philharmonikern
Der Fall Schneiderhan
Die Trennung von Staatsoper und Volksoper
Konflikte bei den Schlagwerkern
Das Problem der Verjüngung
Spannungen mit dem Wiener Oktett
Willi Boskovsky dirigiert das Neujahrskonzert
Die Dirigenten
12. KAPITEL
1955–1992. Von der Wiederöffnung der Oper bis zur Orchestervergrößerung
Der Aufholprozess
Die Situation der Horngruppe
Die Rückkehrer aus der Volksoper
Die Verjüngung der Oboengruppe
Die Karajan-Methode
Die Intervention von Decca
Die Krise der Konzertmeister
Das Harfenproblem und die Frauenfrage
Die Affäre Hanzl
Die vierte Orchestervergrößerung und der Kampf um die Statuten
Eine spektakuläre Verjüngungsaktion
Das Engagement von Gerhart Hetzel
Neue Dirigenten
13. KAPITEL
1992 bis heute. Rückblicke und Ausblicke
Neue Mitglieder
Die Aufnahme von Frauen
Der Abschied einer Generation und die Internationalisierung
Ein Reiseorchester
Fazit
Ein wirtschaftlich-soziales Doppelmodell
Die künstlerische Unabhängigkeit
Mitgliederzahl und Rangordnung
Engagement, Beförderung und Rückstufung
Nationalität und Geschlecht
Familien und Dynastien
Die Weitergabe
Der Wiener Stil
Anmerkungen
Einige Besonderheiten der Wiener Philharmoniker
Glossar
Literatur
Personenregister
Einführung
Die Wiener Philharmoniker üben eine Faszination aus, die weit über den Kreis von Musikliebhabern und -kennern hinausgeht. Das liegt nicht nur daran, dass die Übertragung ihres Neujahrskonzerts an jedem 1. Januar von über 50 Millionen Fernsehzuschauern in über 90 Ländern empfangen werden kann. Es liegt auch an den Mythen, die sich um diese Künstlergemeinschaft ranken, eine Gemeinschaft, die aufgrund ihrer ganz besonderen Regeln einem eigenen Mikrokosmos, ja fast einer Geheimgesellschaft gleicht.
Verhältnismäßig gibt es bis heute nicht viele Bücher über die Wiener Philharmoniker.1 Die meisten sind jahrzehntealt, nicht immer akribisch, und zeichnen sich durch ihre hagiografische Haltung und Bereitwilligkeit aus, die unangenehmen Themen zu verschweigen: Noch im Jahr 2006 beschreibt der einstige Konzertmeister Walter Barylli in seinen Erinnerungen das große Glück, sehr jung in das Orchester eintreten zu können, da 1938 einige Posten vakant geworden waren, ohne zu erwähnen, warum diese Stellen plötzlich zur Verfügung standen …2 Erst 1992 erschien das bisher umfangreichste Werk: die Demokratie der Könige von Clemens Hellsberg3, Primgeiger und damaliger Historischer Archivar der Philharmoniker, deren Vorstand er einige Jahre später werden sollte. Sein Werk basiert auf der systematischen Nutzung der Archivbestände mit dem Wissen eines Insiders. Hellsberg war außerdem der Erste, der sich der Aufgabe der Erinnerung stellte, der Erste, der den im Nationalsozialismus verfolgten Philharmonikern Gerechtigkeit widerfahren ließ.
Angesichts dieser Veröffentlichungen taucht unvermeidlich die Frage auf: Warum noch ein Werk, wenn das Wesentliche bekannt ist? Weil es noch eine Arbeit gibt, die bisher nicht geleistet wurde. Wie die meisten Werke über Orchester wurden auch fast alle Studien über die Wiener Philharmoniker aus demselben Blickwinkel geschrieben: Sie gehen von den Dirigenten aus, die das Orchester nacheinander geleitet haben, vom Repertoire und von der Institution als solcher. Nie von den Musikerinnen und Musikern.
Selbst die vorbildliche Geschichte der Pariser Société des concerts du conservatoire von Kern Holoman verbannt die Liste der Orchestermitglieder in den Anhang, ohne diesen auszuwerten. Aufgrund meiner Überzeugung, ein Orchester existiere nur durch seine Mitglieder, habe ich mein Buch Au cœur de l’orchestre geschrieben, das sich mit dem inneren Leben eines Orchesters befasst. Danach erschien es mir angebracht, diese Methode nicht mehr allgemein, sondern bei einer ganz besonderen Vereinigung anzuwenden. Ich habe also die Perspektive umgedreht und als Ausgangspunkt nicht die Geschichte der Wiener Philharmoniker als Kollektiv, sondern die Geschichte der Musikerinnen und Musiker gewählt. Diese Vorgangsweise wird durch den deutschen Namen des Orchesters unterstützt: Anders als im Französischen und Englischen (Orchestre Philharmonique de Vienne, Vienna Philharmonic Orchestra), spricht man nicht vom »Wiener Philharmonischen Orchester«, sondern von den »Wiener Philharmonikern«, eine Benennung, die sich eindeutig auf die individuellen Musiker bezieht und nicht auf ihre Struktur. Mein Vorhaben war auch gerechtfertigt, da sich die Gründung des Orchesters auf ein Vereinsmodell stützt, das auf Unabhängigkeit und Selbstverwaltung setzt, ein Modell, in dem die Mitglieder selbst ihren Dirigenten wählen und sich als Bewahrer einer bestimmten Tradition des Interpretationsstils sehen.
Historiker nennen »Prosopografie« die Biografie einer Ge...