Sind Frauen die besseren Mörder?
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Sind Frauen die besseren Mörder?

Spektakuläre Fälle einer Gerichtspsychiaterin

  1. 190 Seiten
  2. German
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Sind Frauen die besseren Mörder?

Spektakuläre Fälle einer Gerichtspsychiaterin

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Über dieses Buch

Eine Reise in die Abgründe der weiblichen SeeleFrauen sind die besseren Mörder, aber nicht die schlechteren Menschen. Sie töten raffinierter, kreativer und entschlossener, aber sie sind nicht böser als Männer. Dieses Buch ist eine tiefenpsychologische Reise in die Abgründe der weiblichen Seele. Gerichtspsychiaterin Dr. Sigrun Rossmanith, die auch prominente Mörderinnen untersucht hat, zeigt, wen und warum Frauen töten und wie sie dabei vorgehen. Oft haben Frauen, die töten, eine lange Opfergeschichte, sei es durch sexuellen Missbrauch oder häusliche Gewalt. Der Tatort ist zumeist Beziehung und Familie. In spannenden Fallgeschichten aus ihrer Praxis gibt die Autorin Einblicke in den bizarren Alltag von Mord und Totschlag und berichtet über ihre außergewöhnlichen Begegnungen mit Täterinnen. Dabei wird klar: Das ganz normale Böse könnte in jeder von uns stecken, und damit auch eine potenzielle Mörderin.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783902862747

Leben schenken und Tod bringen

Der Geist des Tals stirbt nicht,
das heißt das dunkle Weib.
Das Tor des dunklen Weibs,
das heißt die Wurzel von Himmel und Erde.
Ununterbrochen wie beharrend
wirkt es ohne Mühe
.
»Tao Te King«, Laotse
Mancher wird niemals Mensch, bleibt Frosch,
bleibt Eidechse, bleibt Ameise.
Mancher ist oben Mensch und unten Fisch.
Aber jeder ist ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin.
Und allen sind die Herkünfte gemeinsam, die Mütter,
wir alle kommen aus demselben Schlunde; aber jeder strebt,
ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziel zu.
Wir können einander verstehen;
aber deuten kann jeder nur sich selbst
.
»Demian«, Hermann Hesse
Eine alleinerziehende Mutter entschloss sich, aus dem Leben zu scheiden und ihre zwei kleinen Kinder in den Tod mitzunehmen. Sie mixte ihnen einen Cocktail aus Schmerz- und Schlaftabletten, den sie mit Himbeersaft süßte. Sich selbst wollte sie am Ende mit einer Überdosis töten. Die Kinder tranken das Gemisch und schliefen rasch so tief ein, dass nichts mehr sie wecken konnte. Die Mutter ging trotzdem auf Nummer sicher und schnitt einem Kind noch die Pulsadern auf. Zwischendurch kamen ihr aber immer wieder Bedenken, ob der von ihr gewählte Weg auch der richtige war. Gründe gab es in ihren Augen genug: Der Vater der Kinder war längst weg, der neue Partner drohte damit, sie zu verlassen, sie war arbeitslos und sollte in den nächsten Tagen wegen ihrer Mietrückstände delogiert werden. Ihre Lösung sollte eine endgültige sein, aber jetzt war sie sich nicht mehr ganz sicher. Ihre Ambivalenz hat das Schlimmste dann gerade doch noch verhindert. Bevor sie versuchte, sich selbst zu richten, verständigte sie eine Freundin per SMS. Alle drei haben überlebt. Die Mutter erhielt eine Freiheitsstrafe.
Bis zur fünften Schwangerschaftswoche sind alle Menschen weiblich. Erst dann greift das Schicksal hier und da ein. Die Frau ist also nicht aus der Rippe des Mannes geschnitzt. Der Mann ist aus den weiblichen Urzellen entstanden. Allein damit schenken Frauen Leben. Und sie gebären es. Dass eine Mutter tötet, ist eigentlich unvorstellbar. Es macht einem Angst. Und doch passiert es immer wieder. Auch Sigmund Freud hat sich vor der unsichtbaren Macht der Frau gefürchtet. Er hat sie beschnitten und als neurotisch abgestempelt. Mit ihrem Penisneid würden Frauen an Minderwertigkeitskomplexen leiden, weil ihnen das beste Stück ja fehle, sie hätten einen Kastrationskomplex, und alles zusammen müsse überkompensiert werden. Als hätten Frauen sonst nichts an sich.
Aber ganz unrecht hatte der Vater der Psychoanalyse auch nicht. Manche Frauen neigen schon zur Überkompensation. Einige stürzen sich in die Karriere. Andere in die Familie. Kaiserin Maria Theresia gestand zwar zu, dass das Kinderkriegen sie schwäche und altern ließe, vielleicht gab es ihr aber auch Kraft. Noch heute gibt es Frauen, die sich ohne Nachwuchs nicht vollständig fühlen. Ledige Mütter sind mittlerweile nichts Außergewöhnliches mehr. Eine Schwangerschaft steigert den Selbstwert. Die Frau wird weniger anfällig für Kränkungen. Vorausgesetzt, sie nimmt die Schwangerschaft an und kämpft nicht dagegen. Das Kind, das in ihr heranwächst, verleiht der Mutter viel Kraft, es ist die weibliche Urpotenz.
Trotzdem blieb die Frau für Freud nur eine minderwertige Version des Mannes. Ein Wesen ohne Penis, das sich entweder mit ihrer Unzulänglichkeit abfindet oder übers Ziel schießt. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung, nach einer Karriere und die bewusste Verweigerung der Mutterrolle waren für ihn nur neurotische Kompensationsversuche, durch die sie mit den Männern rivalisieren.
»Wir heißen alles, was stark und aktiv ist, männlich«, sagte er, »und alles, was schwach und passiv ist, weiblich.«
Man könnte meinen, dass es heute genau andersherum ist. Männer bemühen sich, weich und lieb zu sein. Vor allem, wenn sie sich unbewusst mit ihrer Mutter identifizieren. Und das Weibliche ist das starke Geschlecht. Frauen bestimmen über das Leben. Waren einst noch die Väter die alles entscheidende Kraft in der Familie, wissen wir mittlerweile, dass es biologisch gesehen die Mütter sind. Sie haben von Anfang an einen Draht zu den Kindern. Wobei: Väter, die täglich mindestens vier Stunden mit ihren Kindern verbringen, werden für ihre Bedürfnisse ebenso sensibel wie Mütter es sind. Und die emotionale Beziehung ist dann genauso stark.
Frauen sind robuster, zäher, belastbarer und frustrationstoleranter als Männer. Sie können mit Schmerzen besser umgehen und über ihr Leid auch sprechen. Wenn sie das Gefühl haben, dass sie Hilfe brauchen, unterziehen sie sich eher einer Psychotherapie. Wie viel Frauen aushalten können, zeigt sich vor allem bei der Geburt. Experimente haben ergeben, dass Männer die Schmerzen der Geburtswehen höchstens zwei Stunden aushalten würden. Könnten sie Leben schenken, wären sie damit wohl ziemlich geizig, und die menschliche Rasse wäre hart am Aussterben. Frauen liegen tagelang in den Wehen, überleben Dammschnitte, lassen sich im Genitalbereich die Geburtseinrisse nähen und können danach trotzdem noch lächeln. Frauen leiden nur dann an Minderwertigkeit, wenn sie neurotisch fixiert sind oder von ihrer Umgebung niedergehalten werden und sich nicht ihren Fähigkeiten entsprechend entwickeln können.
Unglaublich, welches Zerrbild der weiblichen Psyche Freud in sich trug. Vermutlich, gab er selbst die Antwort, sei es der Angst des eigenen Unbewussten vor der Macht der Mutter entsprungen. Mütter eignen sich wunderbar als Sündenböcke. Oft macht man sie allein für seelische Auffälligkeiten oder Krankheiten verantwortlich, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass ein neurotisch gestörtes Kind in einer ebensolchen Familie aufwächst, zu der ja auch ein Vater oder eine männliche Ersatzperson gehört. Auch das Fehlen eines Vaters kann natürlich die Psyche anknacksen. Vielleicht ist die Verunglimpfung von Müttern aber auch als Gegenpart zur Idealisierung notwendig.
Freud erkannte dennoch klar, dass sich im weiblichen Urschoß die beiden großen Gegenspieler, nämlich Lebensund Todestrieb, verschränken. Ein Abbild vom destruktiven Urschoß ist die mit Zähnen ausgestattete Vagina. Ein Motiv aus asiatischen Mythen, das in der westlichen Welt vor allem Freud verbreitet hat. Für ihn passte der Mythos gut zu seinen Kastrationsangst-Theorien. Das Bild geistert im männlichen Unbewusstsein umher und zeigt sich oft genug in Potenzstörungen. Tatsächlich gehört aber eine Portion Vertrauensvorschuss für den Mann dazu, in die weibliche Höhle lustvoll einzudringen. Auch das Haupt der Medusa wurde symbolisch mit dem weiblichen Genital gleichgesetzt, das von Haut und Haar umgeben ist und in dessen Mitte sich das Abbild eines »gigantischen Mundes als Eingang zur Hölle« befindet. Die griechische Göttin Athene verwandelte Medusa in ein Ungeheuer, auf dessen Kopf Schlangen wuchsen und dessen Anblick alles Leben erstarren ließ. Das Haupt ist Sinnbild für das ewige-Leben-Schenken, aber auch für verführerisch destruktive Kräfte.
Die Frau hat Macht über Leben und Tod. In manchen Stammeskulturen ist es üblich, dass sie darüber bestimmen kann, ob sie das Neugeborene annimmt oder nicht. Innerhalb weniger Stunden entscheidet sie sich gegen oder für ihr Kind, und findet sich keine Ersatzmutter, ist es dem Tod geweiht. In unserer Gesellschaft entscheiden die Mütter ebenfalls, ob in ihrem Leib ein Mensch heranwachsen soll oder nicht. Frauen fühlen instinktiv ihre Macht am Puls des Lebens, auch wenn ihnen diese Macht gar nicht bewusst ist, und Männer sie angstvoll verleugnen. Aber auch Frauen kann sie durchaus Angst machen. Werdende Mütter spüren, dass sie keine Kontrolle über das wachsende Leben in sich haben. Wird die Angst zu groß, bewirkt der Schutzmechanismus der Verdrängung und Verleugnung dass sie ihre Schwangerschaft einfach ausblenden. Sie finden Pseudo-Argumentationen für die körperlichen Veränderungen und werden später von der Geburt regelrecht überrascht. Sie können sich in Panik gar nicht mehr für oder gegen eine Abtreibung oder die Baby-Klappe entscheiden, sondern bleiben in der Ambivalenz stecken. Lebensspendende und lebensvernichtende Kräfte verschränken sich.

Von Urbildern und Anteilen

Jede reale Beziehungserfahrung hat als idealisiertes Gegenstück ein seelisches Urbild, auf das sie sich bezieht. Und jeder Mensch weist in seiner Seele solche Urbilder auf. C. G. Jung nannte sie Archetypen. Seiner Ansicht nach stammen sie aus dem kollektiven Unbewussten der Menschheit, das eine Ergänzung des individuellen Unbewussten ist. Damit untrennbar verbunden ist beispielsweise die Vorstellung einer schutzgebenden, gebärenden und spendenden Frau. Es ist die Fantasie einer idealisierten, ausschließlich guten Mutter, die niemand hat, auch wenn viele sie ein Leben lang suchen. Um zu überleben, brauchen wir sie auch gar nicht. Es genügt eine Mutter, die gut genug ist, auf unsere Bedürfnisse einzugehen. Und doch reicht das den meisten nicht. Die Mutter soll wissen, was man braucht und Wünsche von den Augen ablesen. Das prägt sich vielen als bleibende Wunschfantasie ein und ist gleichzeitig einer der mächtigsten Beziehungskiller, weil niemand dazu immer imstande ist. Trotzdem sucht man nach der Erfüllung. Es ist ein Paradoxon: Je weniger die reale Mutter der Idealvorstellung entspricht, desto stärker fixiert man sich auf sie.
In Urbildern sind gute und schlechte Anteile zu einer Ganzheit zusammengefasst. In allen Religionen und Kulturen gibt es die idealisierte Vereinigung der Gegensätze. Und auch die Aufspaltung in ausschließlich gute und ausschließlich böse Urbilder. In der griechischen Mythologie ist die Göttin Gaia die Versinnbildlichung der Mutter Erde. Sie bringt das Leben hervor und nimmt die Menschen nach ihrem Tod in ihrem Schoß auf. Sie ist Mutter und Todesgöttin in einem. Andererseits gibt es auch Göttinnen, die jeweils nur eine Seite des Mutterarchetyps verkörpern. Da wäre die hinduistische Göttin Parvati, die liebende, geduldige, ideale, gütige und beschützende Mutter. Kali ist ihre dunkle Seite, Göttin der Zerstörung, des Todes und der Erneuerung. Hermann Hesse hat das Urmutterthema im Roman »Demian« beleuchtet. »Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören.«
Vermutlich macht der zerstörende Mutteranteil nicht nur Männern Angst und wird aus dem Bewusstsein verdrängt. Aber Leben spenden und Leben nehmen sind zwei Urkräfte, die stets miteinander verbunden sind. Schon bei der Zeugung sterben unzählige Samenzellen, während in den meisten Fällen nur eine ihr Ziel erreicht. Bei der Geburt wird die Mutter-Kind-Einheit gewaltsam zerrissen, auch bei der sogenannten sanften Geburt. Die Frau hat Schmerzen. Manchmal werden sogar ihre Genitalien zerstört. Und so manche in den Wehen liegende Frau glaubt am Höhepunkt der Geburt, dass sie selbst sterben muss. Für das Leben ihres Kindes.
Auch wenn Menschen sterben, wünschen sich viele in einem großen Schoß geborgen zu sein, der stets mit dem Schutz der Mutter verbunden wird. Die Vorstellung nimmt die Angst. Es ist gewissermaßen das Pendant zur Geburt. Es ist die Belebung des Mutterarchetyps. Damit ist nicht unbedingt die reale Anwesenheit der Mutter gemeint, auch wenn man sie sich wünscht. Auf Intensivstationen hört man von Schwerverletzten manchmal laute Schreie nach der Mutter. Selbst wenn die Patienten gar nicht recht bei Bewusstsein sind. Auch von Tätern ist bekannt, dass sie oft kurz nach der Tat ihre Mutter anrufen oder sich, im Falle eines befürchteten Todes, von ihr verabschieden. Die Mutter ist wie ein sicherer Hafen, in den man sich zurückziehen kann.

Der verborgene Zwilling

Im Gefängnis saß ich einmal einer schmächtigen, blassen 19-Jährigen gegenüber. Ihre Augen waren rot, sie hatte geweint. Der gerichtliche Vorwurf lautete: Kindstötung unter dem Einfluss der Geburt. Sie konnte, im Vergleich zu sonstigen Mordanklagen, wegen des Gretchenparagraphen mit mildernden Umständen rechnen. Maximal fünf Jahre. Sie zeigte mir zwei frische Schnittverletzungen an den Handgelenken. Sie hatte versucht, sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufzuschneiden. Sie wollte sterben, nachdem ihr bewusst geworden war, dass sie ihr Neugeborenes ertränkt hatte. Und dann erzählte sie mir ihre unglaubliche Geschichte. Eine Geschichte, von der ich anfangs dachte, sie wäre erfunden. Aber im Zuge des Gerichtsverfahrens stellte sie sich als wahr heraus.
Nach einer Vergewaltigung wurde das junge Mädchen schwanger. Keinesfalls wollte sie das Kind behalten, also ließ sie eine Abtreibung vornehmen. Was sie nicht wissen konnte, und der Gynäkologe hatte es nicht bemerkt: Es waren Zwillinge, die da in ihr heranwuchsen. Nach der Abtreibung war sie ohne ihr Wissen also immer noch schwanger. Ihre zunehmende Leibesfülle erklärte sie sich und den anderen mit Heißhungerattacken, die ausbleibende Regelblutung schrieb sie dem Stress zu. Als sie von Wehen überrascht wurde, dachte sie an Bauchkrämpfe und eine Durchfallerkrankung. Doch dann setzten die Wehen richtig ein. Mutterseelenalleine gebar sie das Kind in einer öffentlichen Toilette. Sie war so schockiert, dass sie das Neugeborene in der Klomuschel ertränkte und in einem Plastiksack im nächsten Müllcontainer entsorgte.
Wegen der starken Blutungen, und weil sie fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren, musste sie in ein Krankenhaus. Dort versuchte sie, alles irgendwie zu erklären, verstrickte sich in ihren Ausreden, und niemand glaubte ihr. Anfangs wusste sie nicht einmal, was Wirklichkeit und was Einbildung war. Sie war benommen, völlig verwirrt und konnte sich nicht erklären, warum es aus diesem Albtraum kein Erwachen gab. Das Spital musste Anzeige erstatten, die junge Frau wurde festgenommen.
Der Gefängnisalltag ist für niemanden leicht zu überstehen. Für eine Kindsmörderin schon gar nicht. Sie ist das Gegenstück zu einem männlichen Straftäter, der Minderjährige sexuell missbraucht hat. Beide stehen in der Häfenhierarchie ganz unten und werden oft genug gemobbt. Man hat die 19-Jährige beschimpft und verspottet. Manche Mithäftlinge meinten sogar, ihre Tat rächen zu müssen. Wegen der steigenden Aggressivität und Übergriffe in ihrer Zelle musste sie isoliert werden. Aber das machte ihr nicht so sehr zu schaffen wie die Vorstellung, dass sie mit ihren Händen ihr eigenes Kind getötet haben soll. Ebenso wenig konnte sie glauben, schwanger gewesen zu sein, geschweige denn, eine Geburt hinter sich gebracht zu haben. Sie hatte kaum Erinnerungen daran, und die wenigen, die sie hatte, waren verschleiert. Es war, als hätte sie in dieser Stresssituation keine Schmerzen gespürt. Oder sie hat sie einfach vergessen.
Als ihr bewusst wurde, dass sie ihren neugeborenen Sohn ertränkt hatte – und es dauerte lange, bis sie mir überhaupt sagen konnte, dass es ein Sohn war –, wollte auch sie nicht mehr leben. Sie schnitt sich die Pulsadern auf und wurde gerade noch rechtzeitig in ihrer Zelle gefunden. Während unseres Gesprächs fragte sie sich mehrmals, warum sie keine andere Lösung finden konnte. Dass sie das Kind noch nicht einmal in eine Baby-Klappe gelegt hatte, damit andere sich darüber freuen, machte ihr schwer zu schaffen. Sie hatte nur einen Gedanken: Ich bin eine Kindsmörderin. Und sie hatte das Gefühl, dass sich ihr Leben schlagartig verändert hatte. Nie mehr würde es so sein, wie es einmal war. Damit hatte sie recht.
Manche Frauen wünschen ihren Vergewaltigern den Tod. Erst recht, wenn sie schwanger werden. Erstaunlicherweise können andere aber die Gewalttat und den Erzeuger ausblenden und ihren Nachwuchs annehmen. Sie sind liebevoll im Umgang mit ihrem Kind, das gegen ihren Willen, unter Widerstand, Qualen und Demütigungen entstand. Das ist wohl eine Gabe der Natur. Andere Frauen töten die Leibesfrucht nach der Vergewaltigung oder bringen das Kind um, nachdem sie ihm das Leben geschenkt haben. Die Pille danach und die Baby-Klappe sind für Mütter, die unter der Geburt töten, keine Alternative. Ihnen fehlen bestimmte soziale Fähigkeiten, mitunter passiert die Tat auch instinktiv. Was natürlich keine Entschuldigung ist. Wenn ihnen die Tragweite ihres Handelns bewusst wird, versuchen mehr als die Hälfte der Täterinnen sich das Leben zu nehmen.
Dass eine Frau nicht merkt, dass sie schwanger ist, ist gar nicht so ungewöhnlich, wie es klingen mag. Und wenn sie es merkt, will sie es vielleicht nicht wahrhaben. Kindsmörderinnen, die unter der Geburt töten, verleugnen oft ihre Schwangerschaft oder klammern sie aus Angst davor, nicht zurechtzukommen oder abgelehnt zu werden, einfach aus. Das kann so weit gehen, dass sie weiterhin Verhütungsmittel nehmen und das zunehmende Gewicht ihrem veränderten Essverhalten zuschreiben. Es kommt auch vor, dass sie gar nicht so viel zunehmen. Und häufig hört die Regelblutung auch während der Schwangerschaft nicht auf. Wehen halten sie für eine Kolik oder eine Durchfallerkrankung. Die ambivalenten Gefühle dem Kind gegenüber verhindern auch, dass sie rechtzeitig abtreiben. Ihre Kinder gebären sie zurückgezogen in Einsamkeit. Manche beißen die Nabelschnur einfach durch, reißen oder schneiden sie ab. Die Tötung erfolgt fast immer mit den Händen. Das Neugeborene wird erstickt, ertränkt, erschlagen, eingefroren oder mumifiziert. Überführt werden die Täterinnen meistens, weil man die Leiche entdeckt, oder weil sie nach der Geburt medizinische Betreuung brauchen.
Nicht alle Kindsmörderinnen, die unter der Geburt töten, sind in einem seelischen Ausnahmezustand, in dem sie Dinge tun, die sie sonst nie tun würden. Etliche Frauen berichten auch von Gefühlen der Fremdheit und Unwirklichkeit. Es ist, als wären sie zweigeteilt. Sie schauen sich emotionslos bei der Tötungshandlung zu. Das kommt auch bei geisteskranken Frauen, die töten, vor, wobei sie nicht zu den klassischen Kindsmörderinnen unter der Geburt gehören. Frauen, die unter der Geburt töten, sind seelisch weitgehend unauffällig, so makaber das klingen mag. Sie sind meistens sehr jung, unverheiratet und stammen aus sozial ärmeren Schichten.
Um den Kindstötungen vorzubeugen, gibt es mittlerweile viele wissenschaftliche Untersuchungen. Aber leider immer noch zu wenige Erkenntnisse.
Auch nach der Geburt sind viele Mütter nicht glücklich, man nennt das postpartale Depression. Im Unterschied zum Baby-Blues kann es Monate dauern, bis die wieder abklingt. Die betroffenen Mütter freuen sich nicht, sind teilnahmslos und lustlos und fühlen sich wegen ihrer Gefühle schuldig. Sie agieren wie Roboter. In den USA outen sich mitunter Stars und geben ihre Depression offen zu. So hat Brooke Shields in ihrem Buch »Down Came the Rain« geschrieben, dass ihr Baby auf ihrem Schoß saß, und sie es in ihrer Vorstellung durch die Luft fliegen und gegen eine Wand krachen sah. »Ich wusste zwar, dass ich ihm nie etwas antun würde – aber ich hatte dieses Bild im Kopf.« Ein Bild, das viele Mütter kennen. Es gehört aber einiges dazu, so offen damit umzugehen.

Zahlen, Gesetze und Hintergründe

In der Familie kommt es am zwe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Antwort
  7. Die Mörderinnen und ich
  8. Es gibt fast immer einen Grund
  9. Das Märchen von der friedfertigen Frau
  10. Der kranke weibliche Geist
  11. Leben schenken und Tod bringen
  12. Wenn Frauen Männer töten
  13. Nicht alles bleibt in der Familie
  14. Männliche und weibliche Vorgehensweisen
  15. Der Weg zur Gewalt – das Mitgefühl
  16. Nachwort und eine entscheidende Antwort
  17. Anhang