Raus aus dem Rummel!
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Raus aus dem Rummel!

Ein Plädoyer gegen die touristische Monokultur

  1. 204 Seiten
  2. German
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Raus aus dem Rummel!

Ein Plädoyer gegen die touristische Monokultur

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Über dieses Buch

"Angesichts eines Tourismus, der zu einem gewaltigen, bedrohlichen Moloch herangewachsen ist, müssen wir eine klare, eindeutige Richtungsentscheidung treffen."Gerade in den Alpen zeigen sich die Auswirkungen der touristischen Monokultur überdeutlich: verstopfte Straßen, Lifte und Pisten auf allen Gipfeln, ein Wettrüsten der Hotelanlagen. Doch ist es das, was Gäste suchen? Michil Costa, streitbarer Hotelier, Kulturmensch, Umweltschützer und Visionär plädiert für eine neue Sinnstiftung im Tourismus – gegen die Industrialisierung und für eine Kultur der Gastfreundschaft, die auf Werten beruht: Gemeinwohl, ökologische Nachhaltigkeit und Humanität.» Überlegungen eines Pioniers des nachhaltigen Alpentourismus» Inspiration für die Tourismuswirtschaft» Vorwort von Massimo Cacciari, Philosoph und ehemaliger Bürgermeister von Venedig

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Information

Jahr
2022
ISBN
9788872838402

Der Tourismus

Von der Industrialisierung des Reisens

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Corvara – eines der wenigen verbliebenen alten Häuser im Ort, die Ciasa Vedla vor dem Hintergrund des Sassongher

Dolomieu

Wie alles begann

Es war einmal ein Dorf im Gebirge. Wer dort lebte, blickte mit Ehrfurcht und Befangenheit auf die hohen Berge. Diese Gipfel hatte man nicht zu erobern, man erwies ihnen aus sicherer Entfernung den gebührenden Respekt. Sie machten Angst. Dort oben waren die Geister der Verstorbenen zu Hause, und in kalten, langen Winternächten ahnte man, dass sich auch der Teufel herumtrieb. Höchstens einmal ein Gämsenjäger wagte sich in die felsigen Höhen. Nein, es war gescheiter, man blieb, wo man war. Viel zu essen hatten die Menschen in ihrem Bergdorf nicht, aber das Leben war immer noch besser als unten im sumpfigen, krank machenden Tal. Die Leute hatten sich einfache Häuser gebaut an den steilen Hängen, möglichst dicht beieinander, denn der Boden war kostbar; man benötigte ihn zum Leben und konnte es sich nicht leisten, ihn zu verbauen. Die Menschen halfen einander, weil es anders gar nicht ging.
Eines Tages kam ein Geologe in das Gebirge. Den Felszacken über dem Dorf gab er den Namen Dolomiten. Auch andere Wissenschaftler wurden jetzt auf diese Berge aufmerksam. Auch die ersten Touristen ließen nicht mehr lange auf sich warten, zur großen Überraschung der Bergbauern, die – es war der Beginn des 20. Jahrhunderts – es nicht fassen konnten, dass ihre arme Bergheimat auf einmal für reiche Menschen aus aller Welt interessant wurde; zudem kamen die Gäste nicht etwa auf dem Rücken von Pferden oder Maultieren angetrabt, sondern reisten hochmodern in den ersten Automobilen an. Für die, die dort ständig lebten, blieb die Bergnatur ein Ort der Mühsal und Entbehrungen, doch gleichzeitig entwickelte sie sich zum Inbegriff für Erholung und Freiheit für diejenigen, die nur vorübergehend Station machten. In kurzer Zeit verlor das Urlaubmachen seine auf die Aristokratie beschränkte Exklusivität und wurde von der Kulturhegemonie des Bürgertums vereinnahmt, das bis zum Einsetzen des Massentourismus sein wenigstens halbwegs elitäres Wesen zu bewahren versuchte. Biarritz, Côte d’Azur, Sankt Moritz, Capri, Cortina waren weniger Urlaubsorte denn Insignien für Macht und Privilegien. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Dolomiten-Staatsstraße gebaut, auch „Große Dolomitenstraße“ genannt, und eine Buslinie führte von Bruneck ins Gadertal hinein, was unser Tal langsam, aber unwiderruflich veränderte. Es war das, was der Diplomat George F. Kennan als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete. Als hätte sich die Büchse der Pandora geöffnet und ein Übel wäre ihr entwichen, das die Geschichte des ganzen 20. Jahrhunderts vergiften würde. Der Erste Weltkrieg mit der Dolomitenfront, die sich zwischen Marmolada, Col di Lana, Lagazuoi und den Tofane entlangzog, setzte dem Traum der Menschen von einem friedlichen Dasein abrupt ein Ende. Wie der Tourismus besteht auch der Krieg aus Begegnungen, doch die Soldaten, die sich auf diesen hinreißend schönen Gebirgsflanken bekämpften, konnten mit der Schönheit der Gebirgslandschaft wenig anfangen. Für diese jungen armen Männer, die man zu Tausenden in den Krieg und den sicheren Tod geschickt hatte, bedeuteten die Dolomiten nichts als schwärzeste Bergfinsternis. Jeder Frühling in diesen furchtbaren Kriegsjahren wurde von den langen, entsetzlich harten Wintermonaten entweiht. Auch die Nachkriegszeit war hart, und damit nicht genug: Schon bald stand ein weiterer schrecklicher Krieg an. Der „Fremdenverkehr“ kehrte erst wieder in den 1950er-Jahren in die Dolomiten zurück. 1956 dann zogen die Olympischen Winterspiele in Cortina die weltweite Aufmerksamkeit auf sich. Auch im Gadertal wurden die ersten Skilifte gebaut und parallel dazu die ersten Hotels. Die Entwicklung verlief bis in die 1970er-Jahre langsam, aber kontinuierlich. Die Gäste kamen aus Italien, Deutschland und England und brachten wirtschaftlichen Wohlstand in die Berge.
Die Dolomitenfront
Im Jahr 1915, ungefähr zehn Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, begannen sich das Königreich Italien und Österreich-Ungarn in den Alpen und ganz besonders in den Dolomiten ganz fürchterlich zu bekämpfen. Die gesamte Gebirgsfront war circa 600 Kilometer lang und verlief in etwa parallel zur heutigen Grenze zwischen Trentino-Südtirol auf der einen sowie der Lombardei und Venetien auf der anderen Seite, nämlich entlang der Karnischen Alpen, des Val Pontebbana, der Julischen Alpen über den Monte Canin und entlang der aktuellen Grenze zu Slowenien und der Adria. Die Dolomitenfront selbst betraf das Becken von Cortina, die Tofane, das Val Travenanzes, die Bergmassive Lagazuoi, Sas de Stria, Setsass, Col di Lana, Sief, Sass di Mezdì und Marmolada mit Punta Penia sowie die ladinischen Täler von Ampezzo, Badia (Gadertal) und Fodom (Buchenstein). Gekämpft wurde immer in Höhen über 2.000 Meter, meist in eisiger Kälte, häufig im Schnee und allgemein unter Bedingungen, die jenseits des für den Menschen Erträglichen lagen: Faktoren, die zur besonderen Schwierigkeit und Grausamkeit der Dolomitenfront in diesem absurden Stellungskrieg beitrugen. Es war ein Krieg, der sich hauptsächlich in Tunneln und Schützengräben abspielte, die in Fels und Eis gehauen worden waren; gekämpft wurde unter anderem mit Minen und Dynamit. Als blutiges Sinnbild für diesen so besonderen Krieg gilt heute die Explosion unter dem Col di Lana. Die Österreicher hatten den Berg eingenommen, aber die italienischen Truppen legten unterhalb des Gipfels heimlich einen unterirdischen Tunnel an, die „Galleria di Sant’Andrea“. Ausschließlich in Handarbeit, nur mit Hilfe von Spitzhacken, Keilen und Meißeln, damit der österreichische Feind nichts davon mitbekam. Bei seiner Fertigstellung war der Tunnel unter dem Gipfel des Col di Lana 52 Meter lang und hatte die Form eines Bajonetts, mit einem Stollen an jedem Ende. In diesen Stollen wurde insgesamt über fünf Tonnen Sprengmaterial deponiert, das von 300 Soldaten heraufgeschleppt worden war. Am 17. April 1916 um 23.35 Uhr wurde die Sprengladung gezündet. Die Explosion war so stark, dass der gesamte Berggipfel in die Luft flog. Es entstand ein 50 Meter breiter und 12 Meter tiefer Krater. Die Zahl der Opfer konnte nie genau ermittelt werden, aber sie wird auf über 100 geschätzt. 150 österreichisch-ungarische Soldaten wurden außerdem gefangen genommen.
Quelle: www.frontedolomitico.it
Es waren in vielerlei Hinsicht denkwürdige Jahre. Aus dem sehr persönlichen Erinnerungsschatz des Hotelierkinds will ich ein paar Souvenir-Postkarten herausziehen: Mein Vater Ernesto arbeitete im Sommer als Klempner und im Winter als einer der ersten italienischen Skilehrer überhaupt. Der Skilehrerjob ermöglichte ihm und seinesgleichen unbeschwerte Jugendjahre und ein gewisses Einkommen in einer Gegend, die wenige Jahre zuvor noch wirklich arm gewesen war. Für seinen Vater – meinen Großvater – war diese Armut noch sehr präsent gewesen: Dass man keine guten Schuhe hatte, keine freien Tage und nur selten wirklich satt war, gehörte für meinen Großvater zur Normalität. Doch für Ernesto änderten sich die Dinge. Er legte sich sein erstes Motorrad zu, konnte sich modische Outfits leisten und unbeschwerte Liebesabenteuer. Was die Frauen betraf, befolgte dann aber auch Ernesto letztlich das alte Sprichwort „Bleibe im Lande und nähre dich redlich“: Er lernte meine Mutter kennen; die beiden heirateten und eröffneten gemeinsam das Hotel La Perla. Meine Großmutter stand in der Küche, meine Mutter kümmerte sich sonst so ziemlich um alles; alle barsten vor Tatendrang und Energie, und so lief das Hotel von Anfang an gleich richtig gut. Die Arbeit machte richtig Spaß, und meine Eltern feierten mit den Gästen bis tief in die Nacht. Ernesto arbeitete nun nicht mehr als Skilehrer, obwohl Skilehrer ungemein wichtig geworden waren – der Skilehrer brachte den Gästen auf der Piste das Skifahren bei und bewährte sich nach Pistenschluss als Freund und Begleiter. Mein Vater aber war jetzt Ehemann von Anni und konzentrierte sich daher auf das Hotel, wo er sich als geborener Gastgeber erwies: Abends sang und unterhielt er die Gäste in unserem hoteleigenen Club 44, einem schwer angesagten Schuppen, in dem auch der unwiderstehliche Sänger und Schlagzeuger Gegè Di Giacomo auftrat. Das Multitalent aus Neapel spielte im Trio von Renato Carosone, dessen enormer internationaler Erfolg maßgeblich auch auf den Einlagen von Gegè beruhte. Gegè und mein Vater verstanden sich blind; der Club 44 lief auf Hochtouren. Meine Mutter Anni erzählt noch heute gern davon, wie eines Abends Nino Benvenuti vorbeisah – legendärer Boxer, Weltmeister im Mittelgewicht von 1967 bis 1970 und Nationalidol. Der große Nino, der den Ausspruch „Wir boxten, weil wir danach kostenlos heiß duschen konnten“ geprägt hatte, bestellte Hummer. Anni stellte ihm dazu, wie üblich, eine sogenannte Fingerschale auf den Tisch. Statt seine Finger darin zu baden, packte Nino die Schale mit dem heißen Wasser – und leerte sie in einem Zug. Herrliche Zeiten.
Als ich ein Kind war, warteten wir ab dem Beginn der kalten Jahreszeit auf den ersten Schnee. Es war ein unbeschwertes Warten, und sobald die ersten Flocken fielen, rannten meine Brüder und ich ins Freie, bewarfen uns mit Schneebällen und schippten, was das Zeug hielt. Abends saßen wir zusammen vor dem Kamin, hauchten die kalten Fensterscheiben an, lauschten den Geschichten unserer Großmutter und freuten uns auf Weihnachten. Und auf die ersten Touristen. Unsere Eltern hatten richtig viel zu tun, doch der Heiligabend war – und ist auch heute noch – stets der Familie vorbehalten, nicht den Touristen. Das hört sich banal und selbstverständlich an, ist es aber keineswegs, denn viele Menschen, die bei uns im Tourismus arbeiten, feiern die Geburt von Jesus Christus ein paar Tage im Voraus. Natürlich ist die Weihnachtszeit für den Tourismus in unseren Bergen die wichtigste Saison des Jahres, aber es wäre uns absurd vorgekommen, die Gäste nicht wenigstens an diesem besonderen Abend den Mitarbeitern zu überlassen. Wie auch immer: Wenn wir ein leises Klingeln vernahmen, wussten wir – das Christkind war da. Das Fenster stand immer noch einen Spalt offen, das Jesuskindl war ja gerade erst davongeflogen, und mit großen, staunenden Augen versammelten wir uns vor dem geschmückten Christbaum, vor den davor ausgebreiteten Päckchen und Paketen. Heute ist unsere Familie erheblich größer als damals, seit vielen Jahren zählt auch unser Wahlbruder Stefan Mayr dazu. Aber das Warten aufs Christkind ist immer noch ein Moment großer Freude für alle, und eine einzige Flasche Chablis, der Lieblingsweißwein meiner Mutter, reicht uns zum Feiern schon lange nicht mehr.
Ich besuchte die Mittelschule im Nachbardorf. Eines Tages schneite es so stark, dass ich die vier Kilometer dorthin zu Fuß gehen musste, weil die Autos nicht fuhren und der Schulbus schon gleich gar nicht. Nur Ski fahren, das ging. Schon als ganz kleine Kinder fingen wir damit an. Unzählige Male bin ich im Alter von dreieinhalb Jahren mit meinen Holzski den kleinen Hang hinter dem Hotel hochgestiegen und wieder abgefahren, bevor ich das erste Mal mit dem Skilift fahren durfte. An den Sessellift vom Col Alt und daran, wie seine Sesselchen langsam nach oben schaukelten, kann ich mich noch gut erinnern. Wir waren glückliche Kinder. Wenn wir im Lift hockten, erspähten wir manchmal ein Reh, ein andermal einen Skistock, den ein Gast hatte fallen lassen und den wir natürlich retteten, nach wilden Fahrten durch den Tiefschnee. Heute ist aus dem alten Sessellift eine Umlaufbahn mit einer Kapazität von 2.800 Personen pro Stunde geworden. In wenigen Minuten schnurrt sie nach oben, hat Sitzheizung und Wi-Fi, falls man unterwegs sein Smartphone checken oder eine E-Mail versenden möchte. Schließlich will man heute auch im Urlaub ständig online sein. Ob es wohl schneien wird, fragen wir uns schon lange nicht mehr, höchstens, ob es kalt genug sein wird für die Produktion von Kunstschnee, pardon, von technischem Schnee, wie man heute sagen muss, sonst ärgern sich die Hersteller. Ich gestehe, dass ich es herrlich fände, wenn nach starkem Schneefall mal nicht sofort der Lärm der Pistenraupen und Schneepflüge einsetzen würde. Heute reichen ja schon fünf dünne Schneezentimeter, um das große Karussell der blinkenden, piepsenden, salzstreuenden Räumfahrzeuge in Gang zu setzen. Natürlich verstehe ich, dass Straßen, Fußwege und Parkplätze begeh- und befahrbar bleiben müssen, das entspricht ganz dem flotten Optimierungsgeist, der uns aus allen Ecken entgegenweht. Doch was durch diesen Kontrollwahn der Unternehmerhirne gänzlich verloren geht, sind die romantischen Aspekte einen solchen Naturschauspiels. Statt das Schneetreiben zu genießen, fühlt man sich zwischen all den kleinen und großen Räumfahrzeugen wie auf der Autobahn. Zum Thema künstlicher, äh … technischer Beschneiung möchte ich übrigens noch ein paar Details liefern: Zur Herstellung von 2,5 Kubikmeter künstlichem Schnee werden 1.000 Liter Wasser benötigt. Im gesamten Alpenbereich gibt es 23.800 Hektar Skipisten, die künstlich beschneit werden (können), wofür jedes Jahr rund 95 Millionen Kubikmeter Wasser verbraucht werden. Das entspricht dem Wasserkonsum einer Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern. In Südtirol sind wir Spitzenreiter in Sachen technischer Schnee: 80 Prozent unserer Skipisten werden damit versorgt, was auch durch staatliche Gelder gefördert wird, die 23 Prozent der Investitionskosten decken. Ein Kubikmeter technischer Schnee kostet zwischen drei und fünf Euro. Bei 23.800 Hektar alpinen Skipisten können wir von Investitionskosten für Beschneiungsanlagen in Höhe von über drei Milliarden Euro ausgehen. Diese Daten, die die Internationale Alpenschutzkommission CIPRA in ihrem Bericht Künstliche Beschneiung im Alpenraum zusammengetragen hat, sollen uns zu der großen Frage führen, die sich dahinter verbirgt. Und die lautet so: Welche Berge wollen wir eigentlich haben? Und zu welchen Bergkonsumenten entwickeln wir uns gerade?
Doch zurück zu meinen geliebten Erinnerungs-Postkarten. In unserem Dorf am Fuße des Sassongher machten immer mehr Hotels, Restaurants und Bars auf. Sogar ein Kino hatten wir irgendwann. Dort lief einmal das Musical Jesus Christ Superstar, eine meiner schönsten Erinnerungen aus diesen Jahren, weil mir die Musik so gefiel. Ich ging zusammen mit meinem besten Freund Mike hin. Mike fiel mit seinem jugendlichen, guten Aussehen auf in unserer Dorfgemeinschaft aus Bauern, Zufallshoteliers und Handwerkern, zu der er zwar irgendwie dazugehörte, aus der er aber auch unbedingt wegwollte, um seinen eigenen Weg zu gehen. Obwohl er seine Honda 125 rockermäßig im Harley-Davidson-Stil aufgemotzt hatte, war er verrückt nach Discomusik. Ich hingegen, Mike 2, fuhr total auf psychedelische Musik ab und ein bisschen auch auf Punk. An den Wochenenden legten wir als DJs in der Bussola in Corvara auf. Von den zwölf Lokalen, in denen man sich damals austoben konnte und in denen sich die Stimmung mehr nach Großstadt als nach Südtiroler Bergdorf anfühlte, existiert heute kein einziges mehr. Wenn ich Musik an einem solchen Ort erlebte, gelang es mir irgendwie, das tiefste Weltgefüge zu begreifen. Das, was meine Augen nicht sehen konnten. Auch meine damaligen Idole gingen in die Bussola. Giorgio, der Latin Lover. Der schöne Pippo, ein Skilehrer. Oder Oswald, Gott hab ihn selig, dem das einzige Pelzgeschäft in unserem Tal gehörte. Sie eroberten Mädchen und fuhren tolle Autos. Wer in ihrem Umfeld verkehrte, gehörte dazu und hatte es geschafft. Oder glaubte wenigstens, es geschafft zu haben. Mein Freund Mike 1 brachte die Tanzfläche gern mit I Feel Love von Donna Summer zum Kochen, diesem unwiderstehlichen Heuler aus der Feder von Giorgio Moroder, unserem weltberühmten Lokalmatador. Wenn ich auflegte, gab es die Stones oder die Clash, also Punk mit intellektueller Note. Als Hotelier vergleiche ich heute den Job des DJs gerne mit dem des Barkeepers. Denn bei genauerer Betrachtung ist auch der Barkeeper ein DJ. Er verwandelt schlichtes Trinken in eine Kunst, wie ein Schamane, der mit dem Geistigen kommuniziert, um seinem Publikum einen großartigen Abend zu ermöglichen. Ein guter Barkeeper ist wie ein Freund, zu dem du absolutes Vertrauen haben darfst. Auch meinem Freund Mike vertrauten die Menschen. Er sah immer smart aus und war von Mädchen umschwärmt, während mein Erfolg sich auf ein paar Teenies beschränkte, die meine Locken cool fanden, meine schwarze Lederjacke und meine Radiosendung auf Rai Ladinia namens „Mike’s Pop Shop“, die sich in „Mike’s Rock Shock“ verwandelte, wenn ich die richtig harten Sachen aus den Hüllen zog. Wir feierten ordentlich, so sollte es auch sein. Aber dann war die Party plötzlich vorbei. Mike 1 stürzte am 1. Juni 1981 beim Drachenfliegen tödlich ab.
Künstliche Beschneiung
Wenn von künstlicher Beschneiung gesprochen wird, ist damit die Produktion von (nicht natürlichem) Schnee durch technische Prozesse gemeint, bei denen feinste Wassertropfen in die kalte Luft gesprüht werden, wo sie zu winzigen Eiskristallen gefrieren. Dieser Prozess erfolgt mithilfe sogenannter Schneekanonen oder Schneelanzen. Ideal für die Schneeproduktion sind Wetterverhältnisse mit einer Lufttemperatur von unter –4 °C, einer Luftfeuchtigkeit von unter 80 Prozent und einer Wassertemperatur von höchstens 2 °C. Die künstliche Beschneiung wurde erstmals vor etwa 50 Jahren in den USA praktiziert. In den Alpen wird sie seit Ende der 1980er-Jahre eingesetzt. Heute sind 90 Prozent der Südtiroler Skigebiete mit Beschneiungsanlagen ausgestattet. Für die Produktion künstlichen Schnees wurden zwischen 2006 und 2017 zwischen fünf und zehn Milliarden Liter Wasser pro Saison verbraucht. Das macht sechs bis zwölf Prozent des jährlichen Gesamtwasserverbrauchs Südtirols aus. Dazu kommt ein erheblicher Energieverbrauch. Mit 1.000 Liter Wasser lassen sich durchschnittlich zwei bis zweieinhalb Kubikmeter Schnee erzeugen. Die Beschneiung von einem Hektar Skipiste kostet etwa 140.000 Euro. In Südtirol wird die Produktion von technischem Schnee durch staatliche Hilfsmittel gefördert, die bis zu 23 Prozent der Kosten decken. Ohne Beschneiung wäre es aufgrund des Klimawandels und seiner Konsequenzen nicht möglich, im Winter einen durchgehenden Skitourismus zu gewährleisten.
Quellen: Michael Matiu, Eurac 2021, Dossier: „Schnee, die Entwicklungen in Südtirol und den Alpen“; Felix Hahn, CIPRA International 2004, Dossier Kunstschnee
Zwei Monate zuvor hatte in Südtirol ein symbolträchtiges Rockkonzert stattgefunden. Die Status Quo, damals eine der bekanntesten Bands der Welt, waren nach St. Ulrich in Gröden gekommen. Es war die erste Tournee einer englischen Band durch Italien nach den Randalen in der Arena von Verona und im Vigorelli-Stadion von Mailand in den 1970er-Jahren. Überhaupt waren es die Zeiten des Protestes, Zeiten, in denen Musik eine Botschaft hatte, in der bei Konzerten die Stadien verwüstet wurden. Der Auftritt der Status Quo hatte symbolhaften Charakter, weil im Tourneeprogramm neben den ganz großen Rockbühnen wie der Wembley Arena in London, der Münchner Olympiahalle, dem Palasport in Rom und Adressen in Paris und Mailand eben auch das Eisstadion eines kleinen, abgelegenen Dolomitendorfes Platz gefunden hatte. Die legendäre Band, die in St. Ulrich nur widerwillig auf die Bühne kam, weil es ihr viel zu kalt war, hatte im Hotel Oswald eingecheckt, das ge...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Vorwort von Massimo Cacciari
  5. Einleitung
  6. Die Reise. Gastfreundschaft und Tourismus
  7. Der Tourismus. Von der Industrialisierung des Reisens
  8. Die Touristen. Menschliches Verhalten und Missverhalten
  9. Hausgemacht. Ideen und Projekte aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
  10. This is the end, beautiful friend. Am Ende einer langen Reise beginnt alles von vorne
  11. Danksagungen
  12. Literaturverzeichnis
  13. Bildnachweis
  14. Impressum