Sie haben wirklich gelebt
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Sie haben wirklich gelebt

Von Effi Briest bis zu Herrn Karl, von Tewje bis James Bond

  1. 344 Seiten
  2. German
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Von Effi Briest bis zu Herrn Karl, von Tewje bis James Bond

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Über dieses Buch

Bestsellerautor Dietmar Grieser ist ein Literaturdetektiv der Sonderklasse.Auf seinen Streifzügen durch die Welt der Literatur, der Oper und des Films ist es ihm gelungen, die Urbilder zahlreicher literarischer Figuren von Weltruf zu erforschen. Wer steckt hinter Fausts Gretchen, hinter Thomas Manns Tadzio, hinter Fontanes Effi Briest? Wer sind die Personen, die für Schnitzlers "Leutnant Gustl", für Klaus Manns "Mephisto", für die Lara in Pasternaks "Doktor Schiwago" oder für den Krimihelden James Bond Modell gestanden haben? Auch so unsterbliche Operngestalten wie Sarastro aus Mozarts "Zauberflöte", La Traviata, Madame Butterfly oder Porgy aus Gershwins Oper "Porgy and Bess" sind nicht vom Himmel gefallen, sondern allesamt Menschen nachgezeichnet, die tatsächlich gelebt haben.

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Information

Die Welt von Porgy und Bess

Pure and fragrant – man brauche nur etwas genauer hinzusehen, dann könne man ihn gut entziffern, den Reklameslogan auf der ausgedienten Seifenkiste. »Rein und wohlriechend«. Und das bei einem Ziegenbock als Zugtier!
Mrs. Patience, vom Charleston City Guide Service dazu ausersehen, mir bei der Erkundung der Welt von Porgy and Bess zur Hand zu gehen, kichert, und sie scheint ähnliches auch von mir zu erwarten. Als Vollblut-Amerikanerin ist sie auf Erfolgserlebnisse aus und wünscht, daß ihre Pointen Beifall finden.
In diesem speziellen Fall ist ihr Verlangen doppelt berechtigt: Mehrere Nachmittage, so vertraut sie mir an, habe sie in den Bibliotheken und Archiven der Stadt zugebracht, Gott und die Welt ausgefragt, sogar eigens das Buch noch einmal gelesen – und alles bloß, damit sie dem Gast aus Europa nur ja keine Antwort schuldig bleibe.
Ich zeige mich erstaunt: Wie – die Stadtführer von Charleston sollten die Porgy-and-Bess-Nummer nicht griffbereit haben?
Eben nicht. Sie habe sich das Thema hart erarbeiten müssen. Aber nun sei sie froh darüber: Nun kenne sie sich aus, habe eine Menge dazugelernt. Ehrlich, sie sei mir richtig dankbar dafür.
Jetzt dämmert mir auch, wieso in den Prospekten von Charleston die Sache immer nur am Rande erwähnt wird: Sollte die Segregation in diesem Williamsburg des Südens immer noch so wirksam sein, daß die »weiße« Fremdenverkehrswerbung nur wenig Neigung zeigt, für eine »schwarze« Attraktion zu trommeln?
Noch etwas fällt mir auf: Das Deckblatt des örtlichen Stadtrundfahrtprospekts von 1972 zeigt eine Straßenszene aus dem alten Charleston, auf dem Trottoir eine schwarze Blumenfrau. Der gleiche Prospekt, Jahre später, zeigt die gleiche Szene – nur ohne Blumenfrau. Wegretuschiert, ausgespart. An den Flower Ladies selber kann’s nicht liegen: Auf dem Gehsteig neben dem U.S. Post Office sehe ich sie nach wie vor Morgen für Morgen in Stellung gehen, geduldig ihre frische Blütenpracht bewässernd, und wenn es auch keine ausufernden Gesänge mehr sind, sondern nur noch knappe Zurufe, mit denen sie die Passanten auf ihre Ware aufmerksam machen: Ein Stückchen Stadtbild sind sie allemal. Was also ist es dann, was sie auf einmal aus »ihrem« Prospekt verbannt hat?
Mrs. Patience mag darin keine böse Absicht erblicken. Und zum Beweis ihrer Unbefangenheit hebt sie an, das Bild des Bettlers Sammy Smalls, dessen äußere Erscheinung für die männliche Hauptfigur der Oper Porgy and Bess Pate gestanden ist, in den zärtlichsten Farben zu schildern. Als ob ich nicht genau wüßte, was für ein Halunke er in Wirklichkeit gewesen ist …
Pure and fragrant – der Bettlerkrüppel Sammy Smalls sah keinen Grund, den alten Werbespruch zu tilgen, als er daranging, sich aus einer ausrangierten Seifenkiste sein Transportmittel zu zimmern: das primitive hölzerne Behältnis als Chassis, von einem herrenlosen Kinderfahrrad, irgendwo auf einer Müllhalde geborgen, die Räder, dazu eine Ziege als Zugtier. »Rein und wohlriechend« – welch ein Witz! Mußte Sammy denn nicht gerade wegen seines bestialisch stinkenden Gefährten immer wieder den Standplatz wechseln? Hieß eine Aufschrift wie diese nicht geradezu den Hohn der Mitbürger herausfordern?
Mrs. Patience zeigt mir alte Photos – zum Beweis dafür, daß Ziegen nichts Ungewöhnliches in Charleston waren, damals um 1920. Mitten in der City hatten sie ihre eigene Weide, und eine Weide, wenn man’s genau nehme: eine Menschen-weide, sei es ja noch immer – etwa, wenn nach Büroschluß der Peanutman aufkreuze und dem Volk, das sich’s heute hier auf den Parkbänken bequem mache, im altvertrauten Sing -sang seine frische Ware aufdränge: »I have ’em hot, I have ’em cold – peaeaeaeaeaeaea-nuts!«
Und dann: Waren nicht auch Ziegen die erklärten Lieblinge der Kinder aus den wohlhabenden Familien? In den Photoalben von einst, die der Nostalgiewelle ihre schmucken Reprints verdanken – als romantisches Mitbringsel für all die South-Carolina-Pilger aus Massachusetts und Maine, aus Michigan und Minnesota –, sieht man sie im Bilde: die verzogenen Rangen mit den Matrosenblusen und Ballonhüten, ganz auf Herrenmensch getrimmt, eine schwarze Nurse als Begleitpersonal, eine schwarzweißgescheckte Ziege in der Deichsel ihres Zweirades und dazu die kesse Weidengerte in der Hand, um das blöde Vieh in die gewünschte Richtung zu lenken: bei der Nachmittagspromenade in den White Point Gardens.
Ihnen, den verwöhnten Sprößlingen der reichen Weißen, hatte Sammy Smalls, der Bettler aus der geschäftigen King Street, von früher Kinderlähmung verstümmelt, ein An -alphabet aus den Slums der Vorstadt, die Lösung seines Transportproblems abgeschaut: Nur: Was ihnen zur Lust gereichte, zum Vergnügen, war für ihn die Existenz. Das Seifenkistenwägelchen, das ihn morgens zu seinem Stammplatz und abends zurück zu seinem Quartier brachte. Und das so sehr zu seinem Markenzeichen wurde, daß ihn die Leute, die ihm im Vorübergehen einen Nickel in seine Blechbüchse warfen, bald nur noch Goatcart-Sammy nannten. Den Ziegenwagen-Sammy.
Bis einer aus der Stadt, der ehemalige Eisenwarenverkäufer, Baumwollagerkontrolleur und Versicherungsmakler Dubose Heyward, herging und eine Geschichte über ihn schrieb. Zuerst als Roman, dann (zusammen mit seiner Frau) als Theaterstück, schließlich (zusammen mit dem Komponisten George Gershwin) als Oper. In der Charleston Library Society zeigen mir die Bibliothekarinnen das Original – es ist ihr bestgehüteter Schatz: mit weichem Bleistift auf bräunliches Papier hingefetzt. Porgo. Erst später wurde Porgy daraus. Und wieder eine Weile später Porgy and Bess. Ein Welt -erfolg. Ein Welterfolg, für dessen Hauptfigur kein anderer als unser Goatcart-Sammy den Anstoß geliefert hatte. Das Modell? Ich sage es mit Zögern. Der gehunfähige Porgy, der ganz in der Liebe für seine Bess aufgeht, der im Kampf um sein kleines bißchen Glück sogar den Widersacher aus dem Weg räumt und schließlich mit seinem lächerlichen Vehikel ins ferne New York aufbricht, um die von den Verführungskünsten des Kokainhändlers Sporting Life ihm abspenstig gemachte Geliebte zu suchen, ist von seinem Prototyp Samuel Smalls ein gutes Stück entfernt. Seine Strafkarte weist Sammy als einen ziemlich windigen Burschen aus, seine Pistole saß ausgesprochen locker, und was das Ärgste ist: Er richtete sie mit Vorliebe auf Frauen …
Der Taxichauffeur, der mich durch jene nördlichen Stadtviertel zwischen Hampton Park und Mount Pleasant Street fahren soll, wo sich das polizeibekannte Privatleben des Bettlers Sammy Smalls abgespielt hat, besteht auf Nennung einer festen Adresse.
»Tut mir leid, Sir. Sie müssen mir schon genau sagen, wo Sie abgesetzt werden wollen.«
»Das ist es ja eben: nirgends. Kein bestimmter Punkt. Ich möchte einfach die Gegend kennenlernen. Nur so durch die Straßen, von Block zu Block.«
Ob ich mir vielleicht einen Scherz mit ihm erlauben wolle. Ich versuche zu erklären: »Die eine Straße hinauf, die andere hinunter. Und vielleicht da und dort einen Moment anhalten – wenn mir etwas besonders ins Auge sticht. Okay?« Mein Taxler bleibt abweisend. Hat er es nicht nötig, solche ausgefallenen Aufträge zu übernehmen? Oder will er im Gegenteil die Verhandlungen nur in die Länge ziehen, um einen guten Preis zu erzielen?
Ich beginne noch einmal von vorn: »Es geht mir nicht um eine bestimmte Adresse, nicht um ein einzelnes Haus. Mann, verstehen Sie doch! Ich möchte einfach das Viertel kennenlernen. Atmosphäre. Lebensweise. Die Menschen in ihrem Wohnbezirk.«
Jetzt ist der Groschen gefallen, der Mann hinterm Lenkrad beginnt zu begreifen. Und winkt endgültig ab: »Ausgeschlossen. Vielleicht ein Kollege. Ich nicht.«
Ich mache einen letzten Versuch: »Wie sagt ihr hier zu diesen Straßen, die nicht einfach bloß der Überwindung einer bestimmten Distanz dienen, sondern auch eine gewisse Sightseeing-Valeur haben – »scenic road«, heißt es nicht so? Etwas in dieser Art – das muß doch möglich sein?«
»Nicht in den Slums der Schwarzen.«
Stimmt also doch, was mir die ängstliche Mrs. Patience eingeschärft hat: daß es für einen Weißen nicht ungefährlich ist, sich in den schwarzen Wohnbezirken frei zu bewegen?
»Mir haben sie einmal einen Backstein gegen das Heckfenster geschleudert. Mir langt’s.«
Ich lenke ein. »Okay, Romney Street number four.«
Wir fahren los. Das ist die Adresse, die ich aus Sammy Smalls’ Strafakt kenne. Hier hat er das letzte Mal auf ein Opfer geschossen. Maggie Barnes. März 1924. Das Miststück hatte sich seine Armbanduhr unter den Nagel reißen wollen, verantwortete er sich später vor dem Sheriff. Und hatte sie, als er daraufgekommen war, nicht wieder hergeben wollen. Da zog Sammy die Pistole …
Das Villenviertel der Upper ten von Charleston liegt im Nu hinter uns: die Magnolienbäume vorm und die Azaleensträucher hinterm Haus, die Kieswege aus Austernschalen, die weißen Säulenverandas und die geduckten Kitchen houses, weit genug vom Herrschaftstrakt entfernt, damit kein Feuer auf diesen übergreifen konnte und auch keine zu enge Intimität mit dem Personal. Von Block zu Block immer weniger Backstein: Holz ist das billigere Baumaterial. Die Abfallhaufen vor den Haustüren werden chaotischer, die Blicke der streunenden Hunde kläglicher. Außer einem Supermarkt-Lieferanten, der aus seinem Station car Brot auslädt, sind wir die einzigen Weißen. Ein Wegweiser wie der drunten an der South Battery: Richtung und Distanz nach Phoenix, Washington und Hollywood anzeigend, zum Nordpol, zum Südpol und nach Paris – dergleichen Aufschneiderei wäre hier undenkbar. Gospel Extravaganza lese ich im Vorüberfahren auf einem Plakat, Food Stamps Accepted am Eingang zu einem Laden.
Der Fahrer klärt mich auf. »Das sind die Lebensmittelmarken für die Fürsorgefälle. Können nur in Grocery stores eingelöst werden – damit die Typen nicht etwa auf den Gedanken kommen, das Geld zu vertrinken. Porgy, Ihr Porgy – der wäre heute so ein Fall fürs staatliche Welfare program. Betteln – das brauchte er heute nicht mehr. Heute wäre für ihn gesorgt, heute äße er Steaks. Oder vielleicht ginge er sogar einem geregelten Beruf nach, sie haben ja jetzt überall diese Rehabilitationszentren. Auch für einen Krüppel wie ihn gäbe es einen Job.«
Romney Street Nr. 4: ein schäbiges Holzhaus, heruntergekommen wie alles hier. Mangels Air condition sitzen die Bewohner an den heißen Tagen auf der Türschwelle – drinnen ist es dann nicht auszuhalten. Eine düstere Kneipe, nur mit Identity card zu betreten, eine Bowling-Bahn, ein Flohkino, da und dort ein Corner store – viel mehr Auslauf gibt es da nicht. Das Stadion, ein Cola-Lager, schließlich die Warn -tafeln, die das Abknallen von Singvögeln unter Strafe stellen: ein Zeichen, daß wir die Stadtgrenze erreicht haben.
Hier lebte bis zum Winter 1961 in ihrer Zwei-Zimmer-Behausung, elf Dollar Miete den Monat, Mrs. Elvira Gibbs, ihren Sohn Sammy, das Porgy-Urbild, eines von insgesamt siebzehn Kindern, die sie zur Welt gebracht hat, um sieben -unddreißig Jahre überlebend …
Die Touristen, die nach Charleston kommen, sind normalerweise auf anderes aus, und nichts davon ist zu verachten: Sie wollen sich in den Magnolia Gardens ergehen, sie brennen darauf, in Middleton Place jene berühmten drei Kamelien in Blüte zu sehen, die hier seit 1787, die ersten ihrer Art in der Neuen Welt, ihren Duft verströmen, sie möchten in den Cypress Gardens Kahnpartien unternehmen, sie haben ein berechtigtes staatsbürgerliches Interesse daran, das der Stadthalbinsel vorgelagerte Fort Sumter zu besichtigen, wo am 12. April 1861 die ersten Schüsse des Bürgerkrieges gefallen sind (und wo sich – laut örtlicher Sprachregelung – die Flüsse Cooper und Ashley vereinigen, »um den Atlantischen Ozean zu bilden«), sie buchen eine Pferdedroschkenfahrt durch die gaslaternenerhellten, kopfsteingepflasterten Gassen von »colonial Charleston«, sie lassen sich in der Markthalle, für fünf Dollar in historische Leihkostüme gesteckt, »auf alt« photographieren, und sie stehen geduldig vor der »Planter’s Tavern« Schlange, um, von lieblichen Servierfräulein in knöchellangen Antebellum-Kostümen umsorgt, das Feinste vom Feinen aus dem Fischfang der vorangegangenen Nacht zu verspeisen: Flunder mit Krabbenfleisch gefüllt, Austern und Catfish und vor allem die berühmte »she-crabs soup«, die natürlich in Wirklichkeit eine »he-crabs soup« ist, weil die kostbaren Weibchen, um der Fortpflanzung der delikaten Tiere willen, unter besonderem Schutz stehen und das vom Rezept zwingend vorgeschriebene Gelb schon längst nicht mehr aus den Eiern, sondern – es lebe die Nahrungsmittelindustrie! – aus der Dose stammt.
Ihr Interesse an Porgy and Bess beschränkt sich im allgemeinen auf einen kurzen Stop in der Church Street, deren Nr. 89–91 einst jene Cabbage Row gewesen ist, die Autor Dubose Heyward zur Catfish Row umstilisiert hat. Schräg gegenüber, in Nr. 98, logierte er selbst – damals noch Angestellter einer Feuer- und Unfallversicherung. Auf dem Weg zu seinem Büro in der nahen Broad Street kam Heyward, Sproß einer im Gefolge der Depression verarmten Charlestoner Aristokratenfamilie, die in der Person des Urahns Thomas sogar einen der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung gestellt hat, Tag für Tag an jenem Häuserblock vorbei, der von Schwarzen bewohnt war und seinen Namen von jenen Gemüsehändlern bezog, die hier im Hof oder auf den Gehsteigen ihre Ware feilboten.
Das farbige Leben, das da herrschte und in das ein Weißer nur Einblick erhielt, wenn er von der Polizei war oder der Inkassant einer Lebensversicherung, machte auf den schwächlich-kränklichen Heyward so starken Eindruck, daß er auf Grund der mitreißenden Schilderung dieses Milieus in seinen Büchern wiederholt für einen »Insider«, allen Ernstes für einen Farbigen gehalten wurde – kein schöneres Kompliment für die Authentizität seiner Darstellung hätte er sich wünschen können! Bei aller Armut der Leute aus der Cabbage Row war ihm sehr wohl klar geworden, wieviel näher sie den einfachen Freuden des Lebens waren, und als er eines Tages im Lokalblatt eine Polizeimeldung vom Bettler Sammy Smalls las, der, jedermann in downtown Charleston seines wunderlichen Vehikels wegen ein vertrauter Anblick, auf eine Frau geschossen, in seinem Ziegenwägelchen die Flucht vor der Polizei ergriffen und erst nach abenteuerlicher Verfolgungsjagd im Fabrikviertel hinterm Güterbahnhof sich der Amtsgewalt ergeben hatte, schnitt er die bewußte Notiz, von ihrer Dramatik elektrisiert, aus dem »News and Courier« aus und bewahrte sie sorgfältig auf.
Wenige Monate später, inzwischen verheiratet und von seiner jungen Frau Dorothy dazu überredet, den Versicherungsjob an den Nagel zu hängen und sich als Schriftsteller zu versuchen, griff Heyward auf den Fall zurück und schrieb Porgo. Seinen ersten Roman. Das Quartier seines »Modells« verlegte er vom Stadtrand in die ihm wohlvertraute Cabbage Row und die Cabbage Row ihrerseits – unter dem Namen Catfish Row – zwei Blocks näher an die Waterfront, die Gemüsehändler kurzerhand in Fischervolk verwandelnd. Und dabei blieb’s auch, als zwei Jahre später dem Buch die Theaterfassung und der Theaterfassung weitere zwei Jahre darauf die Oper folgte.
Wer es also bei einem Porgy-and-Bess-Lokalaugenschein ganz genau nähme, hätte sich an drei verschiedenen Plätzen umzusehen: im Mount-Plea...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Vorwort
  7. Rouge et blanc
  8. Das Duell
  9. Leutnant Gustl Brüsewitz
  10. Epitaph für Tewje
  11. Venedig – der Nerven wegen
  12. Sorbas und die Folgen
  13. Der wohlverdiente Himmel
  14. »Es reizt mich in vieler Hinsicht …«
  15. Lara oder: Leben und Leiden der Olga Iwinskaja
  16. James Bond jagt nicht nur Verbrecher, sondern auch Kolibris
  17. »Der Satan hat’s mir in den Sinn gegeben …«
  18. Käthchen en gros
  19. Der Kurschatten
  20. Wer war Rudinoff?
  21. »Ich brauche Sie sehr notwendig …«
  22. Je ne sais pas
  23. Der Leihonkel
  24. Unter Freunden
  25. Der Herr Max
  26. Mozart nannte ihn Sarastro
  27. Hoher Besuch
  28. Butterfly hat überlebt
  29. Die Welt von Porgy und Bess
  30. Erinnerung an den Eugen B.
  31. Die Schande und das Glück
  32. Lederstrumpf – ein pfälzischer Auswanderer?
  33. Selbst ist der Mann