Europäische Identität
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Europäische Identität

Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums

  1. 272 Seiten
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Europäische Identität

Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums

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Christliche Werte haben die Kraft, Europa zu einen!Die Geschichte Europas wurde durch die christliche Tradition geprägt. Doch diese verblasst. Was bedeutet das für den europäischen Gedanken?Wolfgang Sander zeigt mit seinem Essay, dass wir kein neues Narrativ brauchen, sondern eine Rückbesinnung. Er plädiert für eine Renaissance der christlichen Werte. Denn wenn es uns gelingt, sie für heute weiterzudenken, liegen hier die entscheidenden Ressourcen für eine verbindende, zukunftsfähige europäische Identität!- Europa ist mehr als die EU: auf der Suche nach unserem kulturellen Gedächtnis- Unsere Herkunft: die christlichen Wurzeln Europas- Was zeichnet die Einheit des Konstrukts Europa aus?- Die Zukunft der europäischen Einigung und die Erneuerung der christlichen KirchenIn Vielfalt vereint? Was macht den inneren Zusammenhang Europas aus?Wolfgang Sander schärft mit seinen Fragen und Antworten unseren Blick auf Europa und die EU. Wie verhält sich der christliche Glaube zu den Wissenschaften, wie zu den so genannten europäischen Werten, wie zu Diversität und religiöser Vielfalt in modernen Gesellschaften? Wie lässt sich Freiheit anders denken, wie Narzissmus und Egoismus überwinden? Wie sieht die Zukunft der Kirchen aus? Denn eine Entchristlichung Europas wäre nicht Ausdruck einer Modernisierung der europäischen Kultur und Identität, sondern ein Zeichen ihrer Auflösung. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, dem entgegenzuwirken!

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783374071531

1. Wir Europäer:

Europäische Identität als Aufgabe und Problem

»Denn niemand von uns erschafft die Welt, in der wir leben, ganz neu. Wir alle gelangen zu unseren Werten und inneren Verpflichtungen nur im Dialog mit der Vergangenheit. Aber ein Dialog ist kein Determinismus.«
(Kwame Antony Appiah)9
Wie sinnvoll ist es, überhaupt von ›europäischer Identität‹ zu sprechen? Tatsächlich gibt es eine Reihe von Schwierigkeiten, wenn man den Identitätsbegriff auf Europa als kulturelles Konstrukt anwenden will. Sie beginnen aber auch schon bei diesem Begriff selbst. Was also soll unter ›Identität‹ verstanden werden und welche Probleme wirft dieses Konzept auf?
Meist wird dieser Begriff ja zunächst auf die Persönlichkeit von Individuen bezogen – wer ich bin (oder wie ich mich im Verhältnis zu meiner Umwelt sehe), das scheint meine Identität zu sein. In diesem Sinn entspricht der Begriff ›Identität‹ in etwa dem, was in anderen Denktraditionen gemeint ist, wenn Menschen als Personen oder als Subjekte betrachtet werden. Als Begriff gibt es ihn überhaupt erst seit dem 19. Jahrhundert.10 In den Sozialwissenschaften und der Psychologie fand der Identitätsbegriff besonders im Anschluss an Erik H. Eriksons 1950 erstmals erschienene Studie »Kindheit und Gesellschaft« weite Verbreitung, in der die Ausbildung von »Ich-Identität« als einer von mehreren Aspekten der gelungenen Bewältigung von acht Phasen der psychosozialen Entwicklung beschrieben wurde.11
Es gehört zu dieser Vorstellung von Identität, dass diese in Auseinandersetzung der Individuen mit Regeln und Erwartungen aus der gesellschaftlichen Umwelt entsteht. Dass Identität nicht einfach Ausdruck eines von Geburt an gegebenen und unveränderlichen Wesens eines Menschen ist, sondern sich prozesshaft und unter Umständen auch in Konflikten und Brüchen entwickelt, gilt heute in den Wissenschaften als weithin akzeptierte Sichtweise.12 Oft wird in diesem Zusammenhang auch die Ansicht vertreten, dass das Problem der Identität sich überhaupt erst in der Moderne stelle, weil erst hier die Einzelnen mit einer Vielzahl an unterschiedlichen und sich ggf. auch widersprechenden Rollenerwartungen und Identitätsangeboten konfrontiert seien. Francis Fukuyama erläutert dies am Beispiel des fiktiven Bauern Hans, der im 19. Jahrhundert in einem sächsischen Dorf aufwächst und dann in das Ruhrgebiet reist, um in einem Stahlwerk zu arbeiten. In seinem Dorf war sein Leben noch klar geregelt und innerhalb dieser Regeln vorhersehbar: »Er wohnt in demselben Haus wie seine Eltern und Großeltern. Er ist mit einem Mädchen verlobt, das für seine Eltern akzeptabel war. Er wurde vom Ortspfarrer getauft. Und er plant, dasselbe Grundstück zu bestellen wie sein Vater. Es fällt Hans nicht ein zu fragen: ›Wer bin ich?‹, da die Antwort bereits von den Menschen in seiner Umgebung geliefert worden ist.«13 Diese Frage stellt sich, so Fukuyama, für Hans aber in seiner neuen Umgebung, in der er einer Fülle neuer, widerstreitender und nicht leicht zu durchschauender Einflüsse im persönlichen, beruflichen und politischen Umfeld ausgesetzt ist und zu denen er sich verhalten muss.
Manche postmodernen Subjekttheorien gehen noch weiter und betrachten angesichts der Vielfalt sozialer Kontexte, in denen sich Individuen in heutigen westlichen Gesellschaften parallel bewegen, eine kohärente Identität als Illusion. Der Einzelne kann hiernach in unterschiedlichen Umwelten, so etwa in Familie, Beruf, Sport, in einer Interessengruppe, einem sozialen Netzwerk, verschiedene Identitätsmuster ausbilden und dadurch quasi immer auch jemand anderer sein. Hier wird allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn die sozialpsychologische Forschung bestätigt, was die Alltagserfahrung erwarten lässt: dass Menschen ohne das Gefühl eines kohärenten inneren Zusammenhangs nicht etwa freier, sondern krank werden.14
Es wird weiter unten noch zu fragen sein, ob die Probleme, die mit dem Identitätsbegriff angesprochen werden, tatsächlich alle so neu sind, wie dieser Begriff selbst es ist, ob also in vormoderner Zeit Menschen wirklich durchweg so selbstverständlich wussten, wer sie sind, wie es das zitierte Beispiel des Bauern Hans suggeriert. Festzuhalten ist hier aber zunächst, dass erstens Identitätsfindung für Individuen eine prozesshafte Entwicklungsaufgabe ist und dass zweitens hierbei die Zugehörigkeiten der Individuen zu unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen eine wesentliche Rolle spielen. Es ist offensichtlich, dass soziale Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen je eigene Identitätsformen entwickeln und Identitätsangebote offerieren, sei es nun eine Familie oder eine jugendliche Peer-Group, ein Verein oder eine kulturelle Initiative, eine Religionsgemeinschaft oder eine berufliche Profession, eine Stadt oder ein Unternehmen, eine politische Partei oder ein Interessenverband, eine Nation oder eine transnationale NGO. Es sind divergierende Formen und Ebenen kollektiver Identität. Dies führt zu der Frage, wie europäische Identität zu verstehen ist.

Die vielen Facetten des Wir: kollektive Identitäten

Menschen sind soziale Wesen, die seit jeher in kleineren und größeren Verbünden leben. Mit dem Begriff der kollektiven Identität ist nun gemeint, dass diese Zusammengehörigkeit für das Selbstverständnis der Angehörigen eines Kollektivs bedeutsam ist: »Eine Identität zu haben kann Ihnen ein Gefühl davon vermitteln, wie Sie in die soziale Welt hineinpassen. Das heißt, jede Identität bietet Ihnen die Möglichkeit, als ›ich‹ unter mehreren ›wir‹ zu sprechen und damit zu einem ›wir‹ zu gehören.«15 Nicht jede Form von Gemeinsamkeit unter Menschen wird in diesem Sinn zum Anlass einer kollektiven Identitätsbildung. Beispielsweise ist dies bei den Mitreisenden in einem Flugzeug weniger der Fall als bei Fans eines Fußballvereins, bei Brillenträgern weniger als bei Veganern, bei der Augenfarbe weniger als bei der Hautfarbe. Überdies unterliegt die Auswahl von als identitätsstiftend angesehenen Gemeinsamkeiten in der menschlichen Geschichte starken Wandlungen, wie gerade das Beispiel der Hautfarbe zeigt, die erst in der Neuzeit im Zuge des modernen Sklavenhandels, des Kolonialismus und der Rassentheorie zu einem hochgradig relevanten Identitätsmerkmal werden konnte.16
Gleichwohl gehört zum ›wir‹ einer kollektiven Identität immer auch die Unterscheidung vom ›ihr‹, von den anderen also, die die bestimmenden Merkmale der jeweiligen Identität nicht teilen – sei es weil sie es nicht können, weil sie es nicht wollen oder weil sie es nicht dürfen. Für politische Ordnungen sind diese Unterscheidungen unvermeidlich, gerade auch wenn sie demokratisch sein sollen: »Ohne eine definitive Vorstellung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit können weder Partizipation umfassend begründet noch Solidarität formell institutionalisiert werden«.17
Dieses ›Othering‹ hat heute in liberalen Gesellschaften einen schlechten Ruf, weil mit ihm die Abwertung von als ›anders‹ kategorisierten Menschen verbunden sein kann. Dies ist aber nicht zwingend der Fall. Gewiss kann eine wichtige Leistung kollektiver Identitäten, Übersichtlichkeit in die soziale Welt zu bringen und Orientierung zu stiften, nur um den Preis von Vorurteilen erbracht werden. Solche Vorurteile sind unvermeidlich. Niemand könnte sich in komplexen Gesellschaften orientieren, wenn man sich ein Bild von anderen Menschen, auf die man in der Öffentlichkeit stößt, erst machen dürfte oder könnte, wenn man diese Menschen intensiv persönlich kennengelernt hat. Aber es macht für ein gedeihliches Zusammenleben einen entscheidenden Unterschied, ob diese Vorurteile als vorläufige Urteile fungieren, die für Veränderung durch neue Erfahrungen offen sind, oder als dauerhaftes Ressentiment, das sich gegen solche Erfahrungen gerade abschottet.
Kollektive Identitäten können auf sehr verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Dimensionen angesiedelt sein.18 Sie können konkreter oder abstrakter sein, einander ergänzen, sich überschneiden oder wechselseitig ausschließen. Sie können überdies für die Einzelnen von sehr unterschiedlichem Gewicht sein; manche mögen für das eigene Leben als eher peripher bedeutsam erlebt werden, andere ins Zentrum des eigenen Selbstverständnisses rücken. Sie können auch ziemlich kurzlebig sein, wenn sie Menschen verbinden, die sich mit einem modischen Trend identifizieren oder bei Heranwachsenden einen gewissermaßen experimentellen Charakter annehmen; sie können aber auch jahrhunderte- oder jahrtausendealte Kontinuitäten aufweisen. All dies wiederum kann zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sehr unterschiedlich sein.
Es ist deshalb immer problematisch, wenn bestimmte Formen von kollektiver Identität essenzialisiert werden. Dies geschieht, wenn eine solche Identität auf einen unveränderbaren Wesenskern zurückgeführt wird, der die Menschen, die diesem Kollektiv angehören, angeblich prägt. Wenn zum Beispiel Muslime per se als fundamentalistisch, Frauen als sanftmütig oder Deutsche als ordentlich kategorisiert werden, liegen wahrscheinlich solche Essenzialisierungen vor. Allerdings soll damit nicht gesagt werden, dass Religion, Geschlecht oder Nation keine relevanten Formen von kollektiver Identität seien. Sie sind es sehr wohl, aber was es konkret heißen soll, als Muslim, Frau oder Deutscher zu leben, kann sehr unterschiedlich sein.
Das ›Wir‹ hat also sehr verschiedene Facetten. Europäische Identität kann nur eine von ihnen sein. Aber sie ist mit vielen anderen Facetten von Zugehörigkeit verwoben. Keinesfalls lässt sie sich auf die Ebene der europäischen Integrationspolitik nach 1945 und deren Effekte beschränken. Dies wird schon deutlich, wenn man in historischen Rückblicken zunächst nur auf einer beschreibenden Ebene nach Besonderheiten der europäischen Kultur im globalen Vergleich sucht. Max Weber hat schon 1920 eine Aufzählung dieser Besonderheiten in zehn Punkten vorgelegt, Richard Schröder hat diese Liste aufgenommen und um weitere Aspekte ergänzt.19 Viele von ihnen haben sich im Verlauf der Neuzeit von Europa aus in der Welt verbreitet, bleiben aber gleichwohl auch für das heutige Europa prägend. Zu ihnen gehören unter anderem die modernen Wissenschaften, die analytische, also nicht einfach nur als Hofberichterstattung angelegte Geschichtsschreibung seit Thukydides, die politische Theorie seit Platon und Aristoteles, das nicht-religiöse Recht als Grundlage des Staates seit dem Römischen Reich, die Dualität zwischen Kirche und Staat, die Erfindung der Nationen, Kapitalismus und Sozialismus, der christliche Individualismus und sein Niederschlag in kodifizierten Grund- und Menschenrechten. Unschwer lässt sich bei den meisten dieser Stichworte sofort die Verbindung zu den eingangs genannten drei metaphorischen Städtenamen Athen, Rom und Jerusalem herstellen.

Die Gefahren der Identitätspolitik

Der amerikanische Philosoph Michael Walzer hat am Beispiel seines eigenen Lebens die Vielfalt möglicher Facetten von Identität als Chance für ein friedliches Zusammenleben beschrieben:
»Wenn ich mich sicher fühlen kann, werde ich eine komplexere Identität erwerben. […] Ich werde mich mit mehr als einer Gruppe identifizieren; ich werde Amerikaner, Jude, Ostküstenbewohner, Intellektueller und Professor sein. Man stelle sich eine ähnliche Vervielfältigung der Identitäten überall auf der Welt vor, und die Erde beginnt, wie ein weniger gefährlicher Ort auszusehen. Wenn sich die Identitäten vervielfältigen, teilen sich die Leidenschaften.«20
Selbstverständlich ließe sich Walzers Hoffnung auch auf andere Kombinationen von Identitätsfacetten in anderen Biographien an anderen Orten beziehen. Aber zugleich spricht Walzer hier indirekt eine Gefahr von Identitäten an: Sie sind zumindest potenziell mit Leidenschaften verbunden, und diese Leidenschaften lassen sich auch politisch mobilisieren und instrumentalisieren. Je weniger, so lässt sich Walzers Argument auch lesen, es Menschen gelingt, mehrfache soziale Zugehörigkeiten produktiv in ihr Selbstverständnis zu integrieren, also gewissermaßen entspannt mit der Vielfalt von sozialen Erfahrungen umzugehen, desto größer ist die Gefahr, dass das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben von Kämpfen um Identitätsansprüche geprägt sein wird. Das kann innerhalb einer regionalen oder nationalen Gesellschaft der Fall ein, aber auch im globalen Zusammenhang der Weltgesellschaft,21 zum Beispiel als Konflikt zwischen Nationen oder Religionen.
Ein geschichtsmächtiges Beispiel für diese Gefahren von Identitätspolitik ist der Nationalismus. Er folgt zwar nicht zwingend aus der Konstruktion von nationalen Identitäten, wie sie in den beiden letzten Jahrhunderten, von Europa ausgehend, weltweit zu beobachten war. Aber der Nationalismus ist doch die dunkle Seite der globalen Verbreitung des Nationalstaats als politisches Ordnungsmodell. Sein Kern besteht in der Dominanz von nationaler Identität über andere Formen kollektiver Identitäten, und nicht selten wurde diese Dominanz mit repressiven Mitteln oder offener Gewalt durchgesetzt: »Viele der Völkermorde des 20. Jahrhunderts – an den Armeniern in der Türkei, an den Juden Europas und an den Tutsi in Ruanda – wurden im Namen eines Volkes an einem anderen begangen, um eine homogene Nation zu schaffen. Doch sie bildeten nur das äußerste Ende eines Spektrums, zu dem auch Massenvertreibungen, erzwungene Assimilation und die Unterdrückung von Minderheiten gehören.«22 Das jüngste und hoffentlich letzte Beispiel hierfür in Europa ist das Massaker in Srebrenica im Bosnienkrieg, der Teil der Kämpfe um die Bildung von Nationalstaaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren war.
Nationale Identitäten als Legitimationsgrundlage für Nationalstaaten sind ein historisch junges Phänomen. »Man schaut auf das glänzende Gebäude der Nationalstaaten – und sieht, dass die Farbe noch feucht ist.«23 Im Jahr 1900 gab es in Europa 22 und weltweit 50 Nationalstaaten, im Jahr 2014 waren es in Europa 50 und weltweit 195.24 Vor der Entstehung der Nationalstaaten war die politische Landschaft in Europa über viele Jahrhunderte von multinationalen Reichen wie dem Heiligen Römischen Reich (das am Ende in über 260 Kleinstaaten und andere Herrschaftsgebilde unterteilt war), der Habsburgermonarchie, dem Britischen Empire und dem Osmanischen Reich geprägt. Der Begriff ›Nationen‹ stand vor der Bildung von Nationalstaaten nur für regionale, kulturelle und sprachliche, nicht aber für politische Gemeinschaften; Hamburgern und Bayern wäre es vor dem 19. Jahrhundert wohl kaum in den Sinn gekommen, sich gemeinsam als Teil einer deutschen Nation zu verstehen, so wenig wie Mailändern und Sizilianern als Teil einer italienischen. Wenn der deutsche Kaiser Wilhelm II. noch 1890 vor einer preußischen Schulkonferenz mit einem polemischen Seitenhieb gegen die humanistischen Gymnasien verlangte, diese sollten »nationale junge ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Über den Autor
  4. Impressum
  5. INHALT
  6. Zur Einführung
  7. 1. Wir Europäer: Europäische Identität als Aufgabe und Problem
  8. 2. Herkunft: Die christlichen Wurzeln Europas
  9. 3. Keine Lösungen: Radikalisierte Aufklärung, religiöse Regression und Vielfalt als Selbstzweck
  10. 4. Zukunft: Eine christliche Renaissance für Europa
  11. 5. Ausblick: Zur Zukunft der europäischen Einigung
  12. Anhang
  13. Literaturverzeichnis
  14. Endnoten
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