Im Totenreich
Polizeikommissaranwärter Beckmesser runzelte die Stirn. »Eine unsichtbare Pforte. Männer mit schwarzen Kapuzen, die behaupten, König Ludwigs Leiche läge nicht in ihrem Grab. Diese Leute sollen also Ihrer Meinung nach den Hausmeister des Neuen Schlosses umgebracht haben? Soll ich das wirklich so zu Protokoll nehmen?«
Regina seufzte. Es war früher Morgen, sie hockte in einem Büro der Polizeistation von Prien und war todmüde. Und Tobias saß ein Zimmer weiter, wo er ebenfalls von einem Polizisten vernommen wurde. »Aber ja. Weil es genau so gewesen ist. Tobias wird Ihrem Kollegen dasselbe sagen. Wenn Sie mit uns zum Neuen Schloss kommen, können wir Ihnen den versteckten Eingang zeigen.«
»Den Zugang, von dem Sie sprechen, kann man doch bestimmt auch von außen öffnen«, meinte Beckmesser mit süßsaurem Lächeln.
»Natürlich. Aber wie das genau funktioniert, konnten wir bis dahin doch noch gar nicht wissen«, antwortete Regina entnervt.
Er warf ihr einen abschätzigen Blick zu.
Der arrogante Kerl glaubte ihr kein Wort, da war Regina sich sicher.
Hielt er sie und Tobias möglicherweise sogar für die Mörder des Hausmeisters? Jedenfalls schien er ziemlich versessen darauf zu sein, sich zu profilieren. Bestimmt würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Schuldigen zu fassen. Auch, wenn es der falsche war.
»Na hören Sie mal!«, protestierte sie. »Als wir das Schloss endlich verlassen konnten, wussten wir doch noch gar nicht, dass wir einen Toten finden würden. Wir hatten einfach nur Angst und wollten so schnell wie möglich zurück zum Zeltplatz. Wieder in das Gebäude hineinzukommen war das Letzte, was uns interessierte.«
Beckmesser lehnte sich nach vorn. »Dann sind Sie also gerannt, so schnell sie konnten.«
»Nein«, widersprach Regina. »Tobias ist doch an der Hüfte verletzt. Er kann überhaupt nicht rennen.«
Der Polizeikommissaranwärter verdrehte die Augen. »Na gut, Sie sind also gegangen. Und dann?«
Das hatte sie ihm doch schon gesagt. Hoffte er etwa darauf, dass sie sich in Widersprüche verwickeln würde? Da konnte er lange warten.
Sie erzählte noch einmal, wie sie sich vorsichtig der Kreuzung genähert und die Leiche entdeckt hatten.
Beckmesser zog die Augenbrauen hoch. »Sie bleiben also bei Ihrer Aussage. Na gut. Aber jetzt sage ich Ihnen etwas: Bei dem Hausmeister hatte schon die Totenstarre eingesetzt. Sie war sogar schon ziemlich ausgeprägt. Das muss einige Stunden gedauert haben, denn in der letzten Nacht ist es recht kühl gewesen. Als wir zu Ihnen gestoßen sind, war es aber halb vier Uhr in der Frühe. Das bedeutet: Der Hausmeister ist schon gestern am frühen Abend gestorben.«
Regina nickte heftig. »Ja, das ergibt einen Sinn. Eigentlich sollte er uns nämlich aus dem Schloss hinauslassen. Aber als wir ihn angerufen haben, hat er sich nicht gemeldet. Und wir haben es immer wieder versucht.«
Der Polizeikommissaranwärter wiegte den Kopf. »Mag sein. Aber das macht es sehr unwahrscheinlich, dass Ihre merkwürdigen schwarzen Männer ihn umgebracht haben. Überhaupt: Warum hätten sie das tun sollen – falls diese überhaupt existieren? Sie hätten ihn doch gar nicht gebraucht, um in das Schloss hineinzukommen. Wo es dort doch angeblich eine geheime Pforte gibt …«
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, versicherte Regina. »Vielleicht hat der Hausmeister sie ja beobachtet und einen von ihnen erkannt; sie haben ihn bemerkt, und …«
»Deshalb sollen sie ihn umgebracht haben?«, unterbrach er sie. »Das scheinen ja mordlustige Gesellen zu sein.«
Inzwischen schlug Regina das Herz bis zum Hals.
Er legte es offensichtlich tatsächlich darauf an, ihnen den Mord an dem Hausmeister anzuhängen. Trotzdem musste sie unter allen Umständen ruhig bleiben.
»Ich habe keine Ahnung, wer oder was dieser Leute sind«, antwortete sie.
Beckmesser setzte sich wieder gerade hin. »Tja, das weiß wohl niemand so genau. Aber ich weiß: Der Tote trug unter seinem Anorak einen Arbeitskittel. Weil sein bester Freund mein Kollege ist, ist mir außerdem bekannt, dass er darin die Schlüssel des Neuen Schlosses immer bei sich getragen hat. Doch die sind jetzt verschwunden. Und, wie schon gesagt: Ihre Kapuzenmänner haben diese garantiert nicht gebraucht. Sie dagegen …«
»Warum hätten wir uns denn in das Schloss hineinschleichen sollen?«, unterbrach ihn Regina. »Wir waren doch schon drin.«
»Das sagen Sie«, meinte er. »Vielleicht haben Sie ja einen Komplizen, der den Hausmeister getötet und ihm den Schlüssel abgenommen hat. Dann haben Sie etwas Wertvolles aus dem Schloss gestohlen und in Sicherheit gebracht. Anschließend haben Sie beide so getan, als hätten Sie die Leiche zufällig entdeckt, weil Sie glaubten, dass Sie dadurch nicht in Verdacht geraten würden. Möglicherweise haben Sie sogar den Überfall auf Sie und Dr. Hofreiter nur vorgetäuscht, damit wir nicht auf die Idee kommen, Sie für die Mörder zu halten. Die wilde Geschichte von den schwarz verhüllten Männern ist sowieso erfunden. Wie können Sie nur glauben, dass ausgerechnet ich Ihnen so einen Blödsinn abkaufe?«
Du eingebildeter Idiot, hätte Regina ihm am liebsten an den Kopf geworfen. Stattdessen ballte sie ihre Hände zu Fäusten, weil sie vor hilfloser Wut zu zittern begann.
Sie hörte Schritte hinter sich, drehte sich um und sah, dass Kommissar Holzinger hereinkam.
»Alles klar?«, fragte er.
Diensteifrig drehte Polizeikommissaranwärter Beckmesser den Bildschirm seines Laptops zu ihm hin, damit sein Chef das Protokoll lesen konnte.
»So so«, murmelte der Hauptkommissar, nachdem er es überflogen hatte.
»Mehr fällt mir dazu auch nicht ein«, seufzte Beckmesser.
»Dann sind Sie über die Guglmänner also schon im Bilde«, stellte Holzinger fest.
Polizeikommissaranwärter Beckmesser wäre fast vom Stuhl gefallen. »Wie bitte?«
Wenigstens der Holzinger wusste, wer diese Leute waren, dachte Regina erleicht...