Teil 1:
Sichere persönliche Verbindungen lernen
Stefan Schmid
1Einführung
Sie können sich sicher noch an einzelne, beliebte Lehrer aus Ihrer Schulzeit erinnern. Das waren die besonderen Menschen, die Sie verstanden, Sie begleitet und als die Persönlichkeit geachtet haben, die Sie damals waren. Aber können Sie sich noch an die einzelnen Unterrichtsmethoden erinnern? Wissen Sie noch, welche Methode die Lehrkraft angewandt hat, um Sie als Persönlichkeit zu achten oder Sie für das jeweilige Fach zu begeistern?
Und natürlich kennen Sie auch die andere Seite: Lehrer, die Sie abgelehnt haben, so wie Sie waren, die Sie vielleicht sogar abgewertet haben, in welcher Hinsicht auch immer. Meistens wollen Sie dann auch mit dem jeweiligen Fach nichts mehr zu tun haben. Aber auch hier werden Sie sich nicht mehr an die Methoden erinnern, die Ihnen das Fach und das Schulleben so schwer gemacht haben, sondern nur mehr an die Person.
In meinen vielen Gesprächen mit Lehramtsstudierenden und Lehrern sämtlicher Schularten aus allen deutschen Bundesländern habe ich allerdings gelernt, dass die Methoden, wie man die Schüler etwas lehren soll, im Vordergrund der Ausbildung stehen. Gelingender Unterricht soll also immer noch mit Methodenvielfalt erreicht werden. Dabei hat schon John Hattie in seinem 2014 erschienen Buch Lernen sichtbar machen die Haltung der Lehrkraft in den Mittelpunkt gelingenden Unterrichts gestellt:
»Auf die Haltungen der Lehrpersonen kommt es an! Nicht die einzelne Lehrperson macht den Unterschied, sondern alle am Unterrichtsprozess Beteiligten sind gemeinsam tätig und können am erfolgreichsten sein, wenn sie diese Gemeinschaft nutzen: Lernende, Lehrpersonen, Erzieherinnen und Erzieher, Eltern usw.« (Hattie 2014).
Ein Aspekt dabei ist, wie diese Haltung beschaffen sein soll bzw. welche Haltung die Lehrkraft haben muss, damit Unterricht gelingt. Dazu hat Claudia Solzbacher intensiv geforscht und viele wichtige Ergebnisse erarbeitet (Kuhl, Schwer u. Solzbacher 2014).
Ein anderer Aspekt ist aber, und jetzt kommen wir zu unserem Ansatz Gelbe Schule: Wer steht da vor der Klasse? Welche Persönlichkeit ist diese Lehrkraft, welche Präsenz hat sie und kann die Lehrkraft auch Lehrkraft sein – fernab von allem Rollenverständnis und der Identifikation damit? Genau das ist auch mein Coachingansatz im Führungsbereich: Es geht nicht darum, möglichst viele Führungstechniken zu kennen und zu beherrschen, sondern darum, Führungskraft zu sein, bei der Führung präsent zu sein. In enger Zusammenarbeit haben Erwin Müller und ich die Gelbe Schule entwickelt. Es ist die Haltung der sicheren persönlichen Verbindung, die folgendes Ziel hat: Menschen als Persönlichkeiten achten und bei ihrer Identitätsbildung begleiten.
Durch Seminare, Einzelgespräche, Coachings und wertvolle wissenschaftliche Theorien vermitteln wir diese Haltung so, dass die einzelne Lehrkraft sie erlernen und einsetzen kann und dass sie nachhaltig bleibt.
Es beginnt mit dem Selbstwert der jeweiligen Lehrkraft und der Erkenntnis, dass dieser Selbstwert »gesund« sein sollte. Gemäß dem Motto »Wie ich mir, so ich dir« kann ein Mensch nur dann andere Menschen als Persönlichkeiten achten, wenn er sich auch selbst als Persönlichkeit achtet. Das setzt einen gesunden Selbstwert voraus. Gesund deshalb, weil der Selbstwert von mehreren Faktoren bestimmt wird: der Selbstwerthöhe, der Selbstwertstabilität und der Selbstwertkontingenz.
Um Ihren Wert selbst auch spüren zu können, brauchen Sie einen Zugang zu sich selbst, Sie müssen Ihr Selbst aktivieren können – das Selbst als Ihr psychisches System, das Ihnen alle Ihre persönlichen Erfahrungen gleichzeitig und parallel verarbeitend präsent macht. In Ihr Selbst kommen Sie am besten in einer Stimmung der Gelassenheit und Sicherheit oder in Stille. Damit Sie dies lernen können, nutzen Sie die wertvollen Erkenntnisse der PSI-Theorie (Persönlichkeit-System-Interaktion) von Julius Kuhl und ihre dazugehörige umfassende Persönlichkeitsanalyse.
Bevor Sie aber Ihr Selbst öffnen können, sollten Sie sich in einer sicheren Umgebung befinden – innerhalb Ihres Körpers und außerhalb. Denn wenn Sie sich nicht sicher fühlen und eine Gefahr spüren, können Sie Ihr Selbst nicht erreichen. Ihr autonomes Nervensystem ist ständig am Überprüfen, ob die Umgebung in Ihnen und um Sie herum gefährlich oder sicher ist. Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges beschreibt dazu, wie Ihr physiologischer Zustand Ihren psychologischen Zustand, Ihr Verhalten und damit Ihre Gesundheit beeinflusst. Die Themen Sicherheit und Verbundenheit spielen dabei die zentrale Rolle.
Wenn Sie also Ihren Selbstwert kennen, spüren und wissen, wann Sie in Sicherheit oder gelassen sind und Ihr Selbst öffnen können, dann erarbeiten Sie sich mit dem Zürcher Ressourcen Modell (ZRM) von Maja Storch und Frank Krause Ihre ganz persönliche Haltung. Das sind meine Instrumente auf dem Weg zur Haltung Gelbe Schule. Die Instrumente von Erwin Müller sind seine jahrelange Erfahrung als Vorsitzender eines Berufsverbandes für Lehrkräfte und Pädagogen, als qualifizierter, psychologischer Beratungslehrer und vor allem als Schulleiter und damit die Erfahrung in der Führung von ca. 450 Kindern aus etwa 40 Nationen und ca. 50 Lehrkräften, pädagogischem Personal und Mitarbeitern. Zusammen haben wir ein großes »Orchester« entwickelt: Gelbe Schule.
In dem vorliegenden Buch beschreiben wir, wie die einzelnen Instrumente sich zu diesem Orchester verbinden und wie es immer auf den Menschen ankommt, der das einzelne Instrument spielt. Denn ein Instrument ohne Mensch erschafft keinen Klang.
Sie als (angehender) Lehrer oder Erzieher wissen nicht,
•aus welchem Erziehungskontext die einzelnen Kinder täglich an Ihre Schule kommen
•ob die Kinder in einer sicheren Umgebung aufwachsen oder aufgewachsen sind
•was für ein Kind Sicherheit ist und was Gefahr bedeutet
•ob die Eltern in der Lage sind, zu ihrem Kind eine sichere Verbindung aufzubauen bzw. zu Hause für eine sichere Umgebung zu sorgen
•wie sich die Persönlichkeit eines Kindes bis zum Zeitpunkt des täglichen Schulbesuches bereits entwickelt hat und weiterentwickelt
•ob es vor jedem Schultag zu Hause oder auf dem Weg Situationen gegeben hat, die für die Persönlichkeit des Kindes gefährlich waren.
All das wissen Sie nicht.
So legen die Kinder in der Schule ein völlig unterschiedliches Verhalten an den Tag – jedes Kind für sich individuell und in jeder Situation anders. Wie können hier Führung, Unterricht, Lernen und Erziehung gelingen?
Was bleibt Ihnen als Lehrer oder Erzieher im Umgang mit den einzelnen Kindern und deren Verhalten? Sie sollten zuerst die Prozesse verstehen, die das Verhalten der Kinder verursachen, erst dann können Sie etwas tun, eine Maßnahme ergreifen, eine Methode anwenden. Viele Verhaltensweisen der Kinder sind Reaktionen des Körpers auf Stress, also kein absichtliches Verhalten. Wenn Ihre ergriffenen Maßnahmen dies berücksichtigen, werden sie von Erfolg auf allen Seiten gekrönt sein.
1.1Wichtige Begriffsklärungen
Warum »Gelbe« Schule?
Wenn wir von Gelber Schule sprechen, so meinen wir damit die Haltung der sicheren persönlichen Verbindungen: »Menschen als Persönlichkeiten achten und bei der Identitätsbildung begleiten.« Wie oben beschrieben ist die PSI-Theorie von Julius Kuhl eine der wichtigen Instrumente für die Gelbe Schule. In dieser Theorie spielt die Farbe Gelb eine entscheidende Rolle: Kuhl verbindet sie mit dem sogenannten Extensionsgedächtnis und damit dem Sitz des Selbst.
Das Selbst
Wenn wir in diesem Buch vom Selbst schreiben, so meinen wir das Selbst, wie es Kuhl in der PSI-Theorie beschrieben hat:
»Das Selbst wird als ein psychisches System beschrieben, das unzählige persönlich relevante Erfahrungen in einem ausgedehnten, parallel arbeitenden Netzwerk zu einem impliziten Bild integriert. Das experimentell und hirnbiologisch begründete Funktionsprofil des Selbst umfasst, neben der weitgehend unbewussten, in Ausschnitten aber bewusstseinsfähigen parallelen Verarbeitungscharakteristik die direkte und ausgedehnte Einbeziehung von Emotionen und Körpersignalen und ermöglicht die Integration auch widersprüchlicher oder gegensätzlicher emotionaler und kognitiver Erfahrungen« (Kuhl 2020, S. 45).
2Der Selbstwert als Basis für die Haltung der sicheren persönlichen Verbindung
»Versuche nicht, ein erfolgreicher,
sondern lieber ein wertvoller Mensch zu werden.«
Albert Einstein
LAURA geht in die 1. Klasse und ist ein sehr aufgewecktes Kind. Allerdings bleibt sie immer dann, wenn die Klasse in die Pause oder in die Turnhalle geht, sitzen, und kein Erwachsener kann sie zum Mitgehen bewegen. Ihre Lehrkraft Frau Maier, Mitte 50, ist eine erfahrene Pädagogin. In ihren vielen Fortbildungen zu den Themen »Unterrichtsstörungen« oder »verhaltensauffällige Kinder« hat sie gelernt, wie man mit solchen Kindern umgeht. Also spielt sie auch bei Laura ihr gesamtes Instrumentarium aus – von Ignorieren bis hin zu Bestrafen. Aber nichts nützt. Laura bewegt sich nicht. Selbst wenn sie eine Kollegin bittet, mal mit Laura zu sprechen: Laura bleibt sitzen. Einzig den Klassenkameraden gelingt es, Laura zum Mitgehen zu überreden. Das macht Frau Maier zuerst sehr wütend, dann ratlos und dann sehr unsicher, denn sie ist der Meinung, dass sie es selbst »nicht drauf hat«, einem Mädchen der 1. Klasse »Disziplin« beizubringen. Mit dieser Unsicherheit geht Frau Maier nun in jede Stunde. Die anderen Kinder aus der Klasse bemerken diese Unsicherheit und beginnen ebenfalls, immer weniger »zu folgen« – mit dem Ergebnis, dass Frau Maier noch unsicherer wird und sie schon Angst vor jeder Stunde in Lauras Klasse hat.
Nach Rücksprache mit der Mutter erklärt diese, dass so etwas zu Hause bei Laura nie vorkomme, denn Laura sei ein aufgewecktes Kind. Das müsse wohl an der Lehrkraft liegen, noch dazu, wenn es den Klassenkameraden gelingt, Laura zum Mitgehen zu bewegen.
In einem Coaching-Gespräch erzählt Frau Maier, dass sie der Meinung ist, dass Laura all dies extra mache, um sie zu ärgern. »Was immer ich sage oder tue, es nützt einfach gar nichts. Da macht mir der Unterricht in dieser Klasse gar keine Freude mehr!«
Die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ist in Deutschland unterschiedlich geregelt,...