1.1.1 Etablierte GesamtentwĂŒrfe
âGriechische Geschichteâ erwuchs als Gegenstand historischer Forschung und Bildung in Europa aus OrientierungsbedĂŒrfnissen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Mit dieser Feststellung ist sie allerdings nicht der Beliebigkeit und Dekonstruktion preisgegeben. Denn zum einen stellt sie ein StĂŒck Tradition, ein Segment unserer Wissensordnung dar, das nicht einfach ignoriert werden kann. Zum anderen geht es im vorliegenden Buch immer wieder um die guten GrĂŒnde, die es erlauben, auch jenseits des kulturell Tradierten weiterhin von einer âGriechischen Geschichteâ zu sprechen.
Ăberblicke zur Forschungsgeschichte berĂŒcksichtigen den jeweiligen Zeithintergrund: Idealisierung der Hellenen im Klassizismus und Neuhumanismus [reprĂ€sentativ 1.2.1: Curtius, Griechische Geschichte]; ârealistischeâ Hinwendung zu Macht, Staat und Wirtschaft mit positivistischer Methodik im spĂ€teren 19. Jahrhundert; Suche nach neuen Sinnhorizonten in der Krise nach 1918 [NĂ€f, Deutungen] usw. Eine zweite Linie bildete die zunehmende Professionalisierung der wissenschaftlichen Forschung. Gediegene Grundrisse bieten J. K. Davies, Griechische Geschichte; C. Ampolo, Storie greche; K. Christ, Hellas; essayistisch U. Walter, ErzĂ€hlungen; fĂŒr bio-bibliographische Informationen s. Kuhlmann / Schneider [1.6.2]; zum weiteren Kontext, den Themen und Verwendungen s. jetzt S. Rebenich, Die Deutschen und ihre Antike. Ein Inventar von bis heute fortwirkenden Interpretationsmustern hat G. Billeter vorgelegt [Anschauungen]. Ein in Deutschland lange Zeit âheiĂesâ Thema umreiĂt P. Funke [Das antike Griechenland: eine gescheiterte Nation?], eines der imperialen Macht GroĂbritannien T. Harrison [Through British Eyes]. Wie verschieden der Gegenstand in seiner rĂ€umlichen Ausdehnung aufgefasst wurde, zeigt A. Hartmann, Was ist Griechische Geschichte. Forschungstrends und Perspektiven umreiĂen [alle 1.5] J. Davies [Greek history], R. Osborne [Changing Ancient Greek History] und H.-J. Gehrke [Methodologische Ăberlegungen].
Die Rekonstruktion der pragmatischen Geschichte kann fĂŒr das 6., 5. und 4. Jahrhunderts seit den um 1900 entstandenen groĂen Werken [alle 1.2.1] von Ed. Meyer und K.-J. Beloch als gesichert gelten. Letzterer akzentuierte auch Wirtschaft und Demographie, wĂ€hrend G. Busolt [Griechische Geschichte] v. a. ein Quellenrepertorium bietet. Daneben stehen die Ă€ltere âHistory of Greeceâ von G. Grote, ausgezeichnet durch eminente historisch-politische Vernunft [Nippel, Grotes History of Greece; zum Autor s. Demetriou, Companion], sowie die âGriechische Kulturgeschichteâ von J. Burckhardt [1.2.1], die an scharfen Beobachtungen reich ist und wirkmĂ€chtige Konzepte (Polis; agonales Prinzip) prĂ€gte; dazu Burckhardt / Gehrke, Jacob Burckhardt und die Griechen.
Gedanklich tiefschĂŒrfend und sprachlich prĂ€gnant, wie sie ist, bleibt die Interpretation von A. Heuss [1.2.1: Hellas] lesenswert, zum Autor s. die BeitrĂ€ge in Gehrke, Alfred Heuss. V. Ehrenberg [1.2.1: From Solon to Socrates] sieht in den beiden titelgebenden Gestalten die âmoderation and clarity of mind which are the mark of Athenian greatnessâ reprĂ€sentiert. Griechische Geschichte war einst ein Projekt der AufklĂ€rung, nicht der Verfremdung. Zum Verfasser s. eindringlich H. Schaefer, Victor Ehrenbergs Beitrag. Leider nie ĂŒbersetzt wurde die ebenfalls bis zum Tod des Sokrates reichende Darstellung, in der G. de Sanctis wĂ€hrend des Faschismus der Freiheit der Griechen und ihren geistigen Errungenschaften ein Denkmal setzte [1.2.1: Storia dei Greci; s. Christ, Hellas, 278â282].
Orientierende Sammelwerke
Faktenreich und fĂŒr die wissenschaftliche Orientierung unentbehrlich sind die BĂ€nde der âCambridge Ancient Historyâ [1.3: CAH]; Ă€hnlich breit angelegt, doch insgesamt âmodernerâ ist das italienische Sammelwerk âI Greciâ [1.3: Settis; dazu U. Walter, Historische Zeitschrift 271, 2000, 93â122]. Viele BeitrĂ€ge im âOxford Handbook of Hellenic Studiesâ von Boys-Stones und Graziosi [1.3] reflektieren die Bestimmung des Gegenstands dezidiert kritisch und problematisieren die Begriffe âHellenic/Hellenismâ selbst sowie die vielfĂ€ltigen Zugriffe auf die âgriechische Weltâ: Gerade durch eine lange und starke Tradition verfestigte Konzepte mĂŒssten immer wieder auf ihre Voraussetzungen und Triftigkeit hin ĂŒberprĂŒft werden; vgl. S. 3: âThe ancient Greek world is contested, fragile, and phantasmatic; it is constructed by a gaze that looks intensely back into the past.â Ăhnlich grundsĂ€tzlich verwerfen Ulf / Kistler [1.2.2: Entstehung] die Frage nach möglichen âAnfĂ€ngenâ der Geschichte der Griechen und nach KontinuitĂ€ten sowie generell alle Essentialisierungen von Volk, Nation oder Kultur zugunsten eines komplexen Ineinander von âemischenâ und âetischenâ Perspektiven (Selbstbeschreibung bzw. AuĂensicht) im Rahmen eines langwierigen Ethnogeneseprozesses. Man kann allerdings fragen, wo ĂŒberhaupt noch Bastionen ĂŒberholter Vorstellungen zu stĂŒrmen sind.
Neuere einbĂ€ndige Ăberblicke
Kondensate des aktuellen Forschungsstandes finden sich in 1.3: Gehrke /Schneider, Geschichte der Antike (BeitrĂ€ge von J. Wiesehöfer, E. Stein-Hölkeskamp / K.-J. Hölkeskamp und P. Funke). EinbĂ€ndige Darstellungen haben zuletzt R. Schulz, C. Orrieux / P. Schmitt-Pantel, I. Morris / B. Powell, K.-W. Welwei, V. Parker und R. Osborne vorgelegt [alle 1.2.1]. Schulz [Kleine Geschichte] betont die anfĂ€ngliche Randlage von Hellas gegenĂŒber den MĂ€chten des Vorderen Orients, aus der sich ab dem 6. Jahrhundert eine Dialektik aus Anziehung und AbstoĂung entwickelte. Schrittmacher der Entwicklungen seien die ungewöhnliche MobilitĂ€t der Griechen seit frĂŒhester Zeit sowie der Krieg gewesen. Orrieux / Schmitt-Pantel [History] reprĂ€sentieren die Tradition französischer manuels und beziehen Forschungskontroversen ein. Morris / Powell [The Greeks] geben eine sehr klare, durch viele Quellenzitate anschauliche Darstellung. K.-W. Welweis Synthese [Griechische Geschichte] sucht zahlreiche Detailprobleme der Forschung zu berĂŒcksichtigen, ist dadurch aber nicht immer einfach zu lesen. In einem mit kĂŒhnen Thesen (etwa: KontinuitĂ€t seit der Bronzezeit; oligarchische ZĂŒge in der Athenischen Demokratie; Hellas im 4. Jahrhundert stark ĂŒberbevölkert) aufwartenden Buch zieht V. Parker [History of Greece] ausdrĂŒcklich den Quellenbefund einem stĂ€rker abstrahierenden und synthetisierenden Zugriff vor; vgl. U. Walter, Sehepunkte 14, 2014, Nr. 7/8; R. Osborne, Bryn Mawr Classical Review 2014.09.11: âreactionaryâ. Osborne seinerseits [Greek History] sieht â mitunter ĂŒberpointiert â den Gang der Dinge durch âLabilitĂ€t und Fluktuation, nicht stabile Entwicklungslinienâ [R. Schulz, Klio 88, 2006, 242] geprĂ€gt. Walter [1.2.1: Griechenland] verbindet Daten, strukturgeschichtliche ErklĂ€rungen, tabellarische Ăbersichten und Karten.
Detaillierte, farbig gestaltete historische Karten bilden den Kern des âDNP-Atlasâ [1.7.1: Wittke u. a., Historischer Atlas], durch den die Ă€lteren weltgeschichtlichen Kartenwerke (Putzger; Westermann) weitgehend ĂŒberholt sind.
Die Spannung zwischen den Transformationen der griechischen Antike im Laufe der Rezeptionsgeschichte und dem ârealhistorischenâ Stratum sucht ein umfangreicher Sammelband durch RĂŒckgriff auf das Konzept des Erinnerungsortes aufzulösen [1.3: Stein-Hölkeskamp / Hölkeskamp, Die griechische Welt]. Verschiedene HandlungsrĂ€ume und -stile beleuchten die BeitrĂ€ge in 1.3: Vernant, Der Mensch, etwa den Homo Oeconomicus, den BĂŒrger oder den Krieger. In zehn Eigenschaften (z. B. Neigung zur Seefahrt) will E. Hall [Die alten Griechen, 2017] eine zwar historisch gewachsene, aber doch charakteristische hellenische MentalitĂ€t aufweisen.
1.1.2 ZĂ€suren und Epochenbegriffe
Ein grundlegendes und unabdingbares Ordnungsmuster historischer Forschung ist die Periodisierung; s. U. Walter, 1.6.1: DNP 9, 2000, 576â582. GröĂere geschichtliche Abschnitte werden gegenĂŒber dem gleichförmigen Fortschreiten der Zeit so mit Sinn aufgeladen (und qualitativ differenziert), dass sie unter dem gewĂ€hlten Aspekt jeweils eine plausible Einheit (Periode, Epoche, Zeitalter) bilden und einzelne Ereignisse den Rang von Epochenwenden oder ZĂ€suren erhalten. Diese Einheiten werden qualitativ unter bestimmten, erklĂ€renden Perspektiven unterschieden, und dies wiederum bildet zugleich Rahmen und Voraussetzung fĂŒr weitere Forschungen. Ungeachtet ihrer AbhĂ€ngigkeit von den jeweils bevorzugten Kriterien bleibt Periodisierung als Ausdruck einer wissenschaftlichen Konsolidierung wie auch neuer Akzentsetzungen und Paradigmen, ferner in der Organisation der akademischen Disziplinen sowie im Geschichtsunterricht unentbehrlich.
Dass der Griechischen Geschichte eine auf der Hand liegende Tektonik fehlt, zeigt sich auch an den etablierten Epochenbegriffen. Die beiden gĂ€ngigen Bezeichnungen fĂŒr den im vorliegenden Band behandelten Zeitraum â Archaische Zeit, konventionell von ca. 800 bis 490 oder 479/78 gerechnet, und Klassische Zeit (490 oder 479/78 bis 322) â sind ihrem Ursprung nach Ă€sthetisch-kulturgeschichtliche QualitĂ€tsbegriffe; dazu 1.4: Walter, Archaische Zeit; Ders., The Classical Age. Wir behalten beide Bezeichnungen grundsĂ€tzlich bei, legen jedoch eine modifizierte Gliederung zugrunde (s. Bd. 1, S. 158 ff. und u. S. 28 f.). Die Charakterisierung âDie Griechen machen groĂe Politikâ geht auf A. Heuss zurĂŒck [1.2.1: PropylĂ€en Weltgeschichte III, 23 f.], der sie allerdings fĂŒr das 5. und 4. Jahrhundert gebraucht. Eine ZĂ€sur um 400 lĂ€sst sich jedoch rechtfertigen [1.2.3: Hornblower, The Greek World, 190â216]; auch die Athenische Demokratie erfuhr in dieser Zeit wesentliche Modifikationen (u. 3.7). Weit verbreitet ist auf der Ereignisebene folgende Binnenperiodisierung der Epoche zwischen den Schlachten von Marathon (490) und
Chaironeia (338) bzw. dem Lamischen Krieg (322): Perserkriege (500/490â479/8), PentekontaĂ«tie (479/8â431), Peloponnesischer Krieg (431â404), ĂŒberlappende Versuche von Hegemoniebildungen griechischer Staaten und Aufstieg Makedoniens zur Vormacht (404â338), endgĂŒltige Niederlage Athens gegen Makedonien (322). Dabei stellt der Peloponnesische Krieg, aufgefasst als ein in sich geschlossener Ereignis- und Sinnzusammenhang, eine Konstruktion des Geschichtsschreibers Thukydides dar [1.5: Strauss, Problem of Periodization], die zeitgenössisch kaum beachtet und erst in der Neuzeit kanonisch wurde. Stets zu bedenken ist jedoch, dass die gĂ€ngigen wie die modifizierten Epochenbezeichnungen und ZĂ€suren fĂŒr den groĂen Zusammenhang und die Hauptakteure des Kernlandes, v. a. Athen, Sparta, Korinth und Theben, plausibel sind, wĂ€hrend lokal ganz andere Einschnitte naheliegen bzw. in den Gemeinschaften memoriert wurden. Auch fĂŒr die Westgriechen ergibt sich eine andere Sequenz; hier waren es einzelne Tyrannen, die buchstĂ€blich âEpoche machtenâ [3.9: Funke, Western Greece]. â Zu Begriff und Definition des Hellenismus gibt der Oldenbourg-Grundriss von H.-J. Gehrke (20033) Auskunft; als Gesamtschau zu empfehlen ist A. Chaniotis, Die Ăffnung der Welt. Eine Globalgeschichte des Hellenismus, 2019. â Die gĂ€ngigen Epochenbegriffe behaupten sich zĂ€h gegen Revisionsversuche, das zeigen gerade die an ihnen festhaltenden, ansonsten oft sehr innovativen neueren Darstellungen und âCompanionsâ, die in der Bibliographie aufgelistet sind [1.2.2 und 1.2.3]. Speziell zur Archaik s. u. S. 28 f.