Im Auge des Sturms
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Gregor, der Große – Eine Biografie

  1. 278 Seiten
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Im Auge des Sturms

Gregor, der Große – Eine Biografie

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Über dieses Buch

Gregor Anicius (540-604), Spross eines uralten römischen Adelsgeschlechts, war mit 30 Jahren als Stadtpräfekt von Rom auf dem Gipfel seiner Karriere, als er sein abenteuerliches Leben mit einer einfachen Klosterzelle vertauschte. Von dort zerrte ihn die von Pest und Langobardeneinfällen verängstigte Stadtbevölkerung fort und wählte ihn zum Papst. Sigrid Grabner hat sich in dieser präzise recherchierten Biografie dem herausragenden Papst und Heiligen, der den Beinamen "der Große" erhielt, auf unkonventionelle Weise genähert: Sie erzählt sein spannendes Leben "im Auge des Sturms" wie einen historischen Roman und lässt den Leser so ganz hautnah am Schicksal Gregors Anteil nehmen, der zu den faszinierendsten Gestalten der Geschichte gehört und wegen seiner theologischen Werke zu den vier lateinischen Kirchenvätern zählt. Sein Pontifikat hat Auswirkungen bis zum heutigen Tag.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783965216525

In Konstantinopel

Während ich nämlich auf Befehl meines Papstes am Hofe zu Konstantinopel der Vertretung der Kirche oblag, kam der ehrwürdige Maximianus (der Abt meines Klosters) aus Antrieb der Liebe mit den Brüdern dorthin. Als er in mein Kloster nach Rom zurückkehrte, wurde er im Adriatischen Meere von einem heftigen Sturm überfallen und erfuhr auf außerordentliche Weise und durch ein ungewöhnliches Wunder an sich und allen seinen Begleitern sowohl den Zorn als auch die Gnade des allmächtigen Gottes. Denn da ihnen zum Tode die Wellen schäumten, waren am Schiffe die Steuerruder verloren, der Mastbaum gebrochen, der ganze Schiffskasten, von mächtigen Wogen erschüttert, aus allen Fugen gegangen … Aber der allmächtige Gott, der ihre Seelen wunderbar in Schrecken setzte, erhielt noch wunderbarer ihr Leben. Denn acht Tage lang hielt sich dieses bis zum Verdeck mit Wasser gefüllte Schiff, seinen Weg verfolgend, über den Wellen, und am neunten Tage lief es in den Hafen der Stadt Kroton. Alle verließen es unversehrt, die mit dem genannten ehrwürdigen Maximian schifften. Als nach ihnen er selbst auch ausgestiegen war, versank das Schiff in die Tiefe jenes Hafens, als ob ihm durch die Entfernung jener Männer nicht eine Last, sondern eine Erleichterung genommen worden wäre.
Gregor, „Dialoge“
Die Langobarden kreisten Rom ein. Noch war der Ring nicht so dicht, dass nicht Flüchtlinge hindurchschlüpfen und in der Stadt Sicherheit suchen konnten. Der Hunger nahm zu. Soldaten mussten die Speicher am Flusshafen vor Plünderungen schützen. Wieder begannen die Römer, innerhalb der Stadtmauern Felder zu bestellen.
Mochte sich Papst Benedikt auch ohnmächtig gefühlt haben, die Menschen hatten ihm und den Diensten der Diakone vertraut. Die römische Präfektur erwies sich als unfähig und bar jeglicher Autorität. Die hohen byzantinischen Beamten hatten vor der Gefahr wieder einmal das Weite gesucht, die Verbindung zum byzantinischen Statthalter Longinus in Ravenna war durch die Langobarden unterbrochen. Eile tat not, einen neuen Bischof einzusetzen. Der in der Stadt verbliebene Adel, die Geistlichkeit und das Volk einigten sich auf den Sohn des Goten Wunigild.
Die Quellen berichten nichts darüber, ob dessen Vorfahren schon 410 mit dem Westgotenkönig Alarich nach Rom gekommen waren oder erst hundert Jahre später mit dem Ostgotenkönig Theoderich. Auch wann sie der arianischen Version des Christentums, zu der sich die Goten bekannten, abgeschworen hatten und katholisch geworden waren, ist unbekannt. Der Sohn von Eroberern und Wahlrömern war schon früh seiner Berufung als Priester gefolgt. Er galt als fromm, mutig und entscheidungsfreudig. Und so vertrauten ihm die Römer die Rettung Roms und ihrer Seelen an und erhoben ihn im November 579 unter dem Namen Pelagius II. zum Bischof. Damit verstießen sie gegen die Anordnung, dass jeder Papst vor seiner Weihe erst vom Kaiser bestätigt werden musste. Auf diese Bestätigung konnten die Römer nicht warten. Viele Monate wären vergangen, ehe die Boten den Weg nach Konstantinopel zurückgelegt und mit dem kaiserlichen Schreiben das belagerte Rom wieder heil erreicht hätten. Die Stadt brauchte, um überleben zu können, sofort eine starke Hand.
Unmittelbar nach der feierlichen Weihezeremonie in Sankt Peter bat Pelagius Gregor zu sich. Der Tod hatte seinen Vorgänger daran gehindert, den Mönch von Sankt Andreas selbst zum Diakon zu weihen. Nun gab sich Gregor der Hoffnung hin, der neue Papst fände einen würdigeren Mann als ihn für dieses Amt, und die Angelegenheit hätte sich erledigt.
Pelagius war ein ehrfurchtgebietender Priester, trotz seiner Jahre und seines hohen Wuchses noch nicht gebeugt. In ihm und Gregor begegneten sich die Vertreter eines jungen unverbrauchten Volkes aus dem Norden und eines alten römischen Adelsgeschlechts. Von robuster Gesundheit, selbstgewiss und in sich ruhend der eine; schmalgliedrig, feinnervig, befrachtet mit der Last einer tausendjährigen Zivilisation der andere. Aber beide von tiefer Achtung füreinander erfüllt. Gregor warf sich vor Pelagius nieder, um in ihm den Nachfolger des Apostels Petrus zu ehren. Der Papst hob den schmächtigen Mönch vom Boden auf und stellte ihn behutsam auf die Füße.
Die beiden Männer verschwendeten nicht viel Zeit mit gegenseitigen Komplimenten. Pelagius meinte nur, Gregor höre es zwar nicht gern, wenn man seine Zeit als Präfekt von Rom lobend erwähne, aber eben deswegen sei er der Mann dieser Stunde. Wie Papst Benedikt es gewollt, aber nicht mehr hatte vollbringen können, werde er, Pelagius, ihn zum Diakon und zum Dienst am Altar weihen. Doch wenn Rom auch dringend der Dienste des neuen Diakons bedürfe, noch dringendere Aufgaben warteten auf ihn in Konstantinopel. Als päpstlicher Gesandter, als Apokrisiar, solle er sich beim Kaiser für die Rettung Roms verwenden. Er müsse dafür sorgen, dass sich der Zorn des Kaisers über die ohne dessen Billigung vollzogene Papstweihe nicht verfestige. Vor allem müsse er ihn überzeugen, schnellstens Hilfe gegen die Langobarden zu schicken – Geld, Truppen, fähige Feldherrn. Wenn dies nicht gelänge, sei Rom verloren, und keiner wisse das so gut wie Gregor. Als ehemaliger Präfekt könne er die Situation der Stadt einschätzen und eindrücklich darstellen. Als Angehöriger der Familie der Anicier werde er in Konstantinopel auf Verwandte treffen, die ihn bei seiner Mission unterstützen und ihm leichten Zugang zum kaiserlichen Hof verschaffen würden. Außerdem sei es ihm wie keinem anderen gegeben, mit empfindlichen byzantinischen Potentaten umzugehen, die jetzt dieses und im nächsten Augenblick etwas anderes sagten und keines von beiden meinten. Wer mit dem Feldherrn Narses einen so guten Faden gesponnen habe, werde auch das Herz des Kaisers erreichen.
Die Gefährlichkeit der Mission stünde außer Frage. In dieser Jahreszeit, da Stürme und Nebel die Schifffahrt behinderten, überquere kein vernünftiger Mensch das Meer, es werde schwer sein, überhaupt ein Schiff zu finden. Fast aussichtslos sei es, unbehelligt von den Langobarden die Küste zu erreichen, und dennoch müsse es gewagt werden. Wir haben keine andere Wahl!
Pelagius sprach schnell und entschieden, er sah den Widerspruch Gregors voraus und wollte ihn schon im Ansatz ersticken. Am Ende seiner Rede meinte er lächelnd, die Lage Roms sei so aussichtslos, dass Gregor nur Erfolg haben könne. Wann sollten wir unser Gottvertrauen beweisen, wenn nicht jetzt?
Gregor hatte mit wachsender Unruhe zugehört. Wenn er, der Unwürdige, von der Kirche zum Dienst am Altar, den er nie angestrebt hatte, gerufen wurde, musste er sich fügen. Doch was Pelagius von ihm darüber hinaus verlangte, widerstrebte ihm bis ins Herz. Mehr als ein Jahrzehnt hatte er sich im Dienste Roms nicht geschont, und auch als Mönch diente er den Bewohnern der Stadt. Im Kloster hatte er endlich jenen Frieden gefunden, den die Welt nicht geben kann. Und nun sollte er sich wieder weltlichen Geschäften zuwenden? Noch dazu in der allen Lastern verfallenen Kaiserstadt Konstantinopel. Weit entfernt und unberührt vom Elend Roms, würde man dort seine Worte hören, aber nicht verstehen, geschweige denn Hilfe schicken. Diese Mission konnte nur scheitern. Der Fürst dieser Welt war Satan. Ihm kam man nicht mit Finessen, Intrigen, Diplomatie bei, denn darin übertraf ihn keiner. Nur das Beispiel eines Lebens in der Nachfolge Christi, dessen Reich nicht von dieser Welt war, und inständiges Gebet konnten den Frieden befördern. Dazu brauchte er, Gregor, sein Kloster nicht verlassen. Wenn Gott das Gericht über Rom und den Erdkreis beschlossen hatte, wer war dann er, ihm in den Arm fallen zu wollen! Niemand durfte ihn der Flucht bezichtigen, wenn er den Auftrag des Papstes ablehnte.
Gregor lasse ihn an den Propheten Jonas denken, erwiderte Pelagius und zitierte: „Mach dich auf den Weg und geh nach Ninive, in die große Stadt, und droh ihr das Strafgericht an. Denn die Kunde von ihrer Schlechtigkeit ist zu mir heraufgedrungen“, befahl der Herr. Was habe Jonas nicht alles angestellt, um diesen Auftrag nicht erfüllen zu müssen! Schließlich musste er doch klein beigeben und ins lasterhafte Ninive ziehen und habe dort, wie befohlen, die Menschen zu Reue und Umkehr aufgefordert. Und das Unwahrscheinliche sei geschehen: Die Einwohner von Ninive ließen ab von ihrem lasterhaften Treiben, übten Buße und retteten so sich und die Stadt vor dem Untergang.
In einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, schloss Pelagius: „Wir kennen nicht Tag und Stunde des Gerichts, und deshalb wirst du, unser geliebter Bruder Gregor, unverzüglich nach Konstantinopel reisen und den Auftrag deiner Kirche, durch die Gott zu dir spricht, erfüllen. Was es austrägt, liegt allein in seinem Ermessen.“
Gregor würgte an diesen Worten wie an einer bitteren Speise. Ihm war übel, er fühlte sich krank. Widerwillig und nur, um vielleicht doch noch seinen klösterlichen Frieden zu retten, wies er auf seine schwache Gesundheit hin, deutete an, dass er kaum Nahrung bei sich behalten könne und häufig von Ohnmachten heimgesucht werde.
„Die Seeluft während der Reise wird dir guttun“, beschied ihn Pelagius. Der Völkerapostel Paulus habe während seiner vielen Reisen auch keine Rücksicht auf seinen körperlichen Zustand nehmen können.
Gregor hätte erwidern können, die Mission des Paulus sei die Verkündigung des Evangeliums gewesen und nicht diplomatische Aufwartungen am kaiserlichen Hof, doch er ließ es. Schweren Herzens unterwarf er sich dem Willen des Papstes.
Jahre später schrieb er an seinen Freund Leander, den er in Konstantinopel kennenlernen sollte: „Wie beim Entstehen eines heftigen Sturms die Wogen des Meeres ein nur leicht befestigtes Schiff aus dem sichersten Hafen mit Gewalt losreißen, so fand ich mich plötzlich unter dem Vorwand des Kirchendienstes in ein ungestümes Meer der Weltgeschäfte versetzt, und erst nach dem Verlust der Klosterruhe, an die ich mich nicht fest genug hielt, erkannte ich, wie sehr ich mich daran jederzeit hätte halten sollen. Zwar pries man mir die Tugend des Gehorsams, um mich zum Altardienst zu bringen, ich lud mir aber unter diesem Vorwande dasjenige auf, was jedermann, wenn es ungestraft geschehen könnte, fliehen und bitter beweinen sollte.“
Nach der Weihe zum Diakon bat Gregor um die Erlaubnis, einige Mönche aus seinem Kloster mit nach Konstantinopel nehmen zu dürfen, damit er auch dort ein Leben nach der klösterlichen Regel führen könne. Außerdem riet er dem Papst, der Senat möge ebenfalls eine Abordnung zum Kaiser schicken. Auf diese Weise vermeide man, weltliche und geistliche Dinge unzulässig miteinander zu vermischen.
Pelagius stimmte allen Wünschen zu. Wichtig war ihm nur, dass sein Apokrisiar sich so bald wie möglich auf den Weg machte. Doch eine Bitte müsse er noch äußern. Gregor möge seinem Freund Peter zureden, das Kloster zu verlassen und ebenfalls in kirchliche Dienste zu treten. Er brauche in dieser schweren Zeit einen tatkräftigen Mann wie ihn an seiner Seite.
„Es soll geschehen“, erwiderte Gregor. Ausgerechnet Peter, der engste Freund! Seine beherrschte Miene verriet nicht, wie elend ihm zumute war. Der Papst ahnte es dennoch, denn er sagte: Wem viel gegeben wurde, von dem wird auch viel verlangt.“
Jäh aus seinem zurückgezogenen Leben herausgerissen, stand Gregor nun vor der Aufgabe, innerhalb weniger Wochen eine unsichere Reise von ungewisser Dauer und mit fragwürdigem Ausgang vorzubereiten. Er musste seine Brüder im Kloster, die Senatoren und seine Mutter Silvia von etwas überzeugen, was er selbst gar nicht wollte. Zu seinem Erstaunen traf er nirgends auf Widerspruch, nicht einmal auf Bedenken. Im Senat meldeten sich mehr Freiwillige für die Abordnung nach Konstantinopel als mitreisen konnten. Die ausgewählten Mönche des Klosters Sankt Andreas freuten sich, Gregor begleiten zu dürfen. Peter fühlte sich geehrt von dem Vertrauen, das Pelagius in ihn setzte, und für Silvia stand es außer Frage, dass ihr Sohn dem Wunsch des Papstes gehorchte. Er würde seine Mission gut erfüllen wie alles, was er bisher getan hatte. Noch immer hatte er vor jeder Aufgabe gezweifelt, ob er ihr auch gewachsen sei. Insgeheim pries sie Pelagius für seine Menschenkenntnis. Kein treffenderes Argument als das Beispiel des Propheten Jonas hätte er vorbringen können, denn ihr Sohn hatte etwas von diesem Jonas an sich: Eigensinn, langes Bedenken, Überzeugungskraft. Manchmal musste man ihn auf den Weg stoßen, der ihm bestimmt war.
Mutter und Sohn schieden voneinander in dem Bewusstsein, sich in diesem Leben vielleicht niemals wiederzusehen. Silvia fiel der Abschied leichter als ihm. Sie fühlte, was dem Sohn nur der Verstand sagte: Sie würden sich über Länder und Meere und selbst über den Tod hinaus immer nahe bleiben.
Die Abordnung des Senats und Gregor mit seiner Begleitung reisten nacheinander und auf getrennten Wegen. Man wollte sichergehen, dass wenigstens eine Gruppe ihr Ziel erreichte. Lange vorbei waren die Zeiten, da die kaiserliche Kurierpost Gesandte der Regierung schnell und gefahrlos zu jedem beliebigen Hafen Italiens brachte, wo stets ein Schnellsegler bereitlag. Vor dreihundert Jahren hatte man auf ausgebauten Straßen und sicheren Schiffswegen vom Euphrat bis nach England, vom Rhein oder von der Donau bis zum Nil reisen können. Nun dienten die verwahrlosten Straßen als bequeme Einfallswege für die Barbaren, und Piraten machten vor allem das Tyrrhenische Meer unsicher. Die Langobarden hatten die Landverbindungen nach Ravenna und Rimini im Osten unterbrochen, sie belagerten die Häfen Porto und Pozzuoli im Westen. Pelagius war am 26. November 579 zum Bischof geweiht worden. Von November bis in den April hinein galt mare clausum, denn schwere Stürme machten die Schifffahrt unmöglich. Es ist anzunehmen, dass Gregor und seine Begleiter sich über die Berge an die Ostküste durchschlugen, von dort per Schiff über die Adria nach Dhyrrachium, dem heutigen Durres in Albanien, übersetzten und auf der Via Egnatia nach Konstantinopel reisten. Die Fahrt mit einem Handelsschiff von Brindisi durch Mittelmeer, Ägäis, Dardanellen und Marmarameer wäre noch zeitaufwendiger und gefährlicher gewesen.
Welchen Weg Gregor auch genommen haben mag, er kann Konstantinopel nicht vor dem späten Frühjahr 580 erreicht haben. Trotz seiner schwachen Gesundheit überstand er die Strapazen der Reise unerwartet gut. Da die Senatoren noch nicht eingetroffen waren und er ihnen beim Kaiser den Vortritt lassen wollte, nutzte er die Zeit, sich im Neuen Rom umzusehen.
Was er sah, schien ihm vertraut und doch unendlich fremd. Wie Rom war Konstantinopel auf Hügeln erbaut, von denen aus es die einander gegenüberliegenden Gestade von Europa und Asien beherrschte. Der Kaiserpalast stand von seinen Ausmaßen her den Gebäuden auf dem Palatin in nichts nach. Die Hagia Sophia übertraf an Schönheit und Größe die konstantinische Basilika der Peterskirche in Rom und war von einem Kranz edler Kirchen umgeben. Die Stadt schmückte sich mit Portiken, unzähligen Statuen, Säulen und Obelisken, aus Griechenland und Asien zusammengeraubt. Aquädukte brachten aus den Bergen frisches Wasser und ergossen es in prächtige unterirdische Zisternen, so dass Paläste und Thermen keinen Mangel an dem kostbaren Nass litten. Die Kornmagazine waren mit dem aus Nordafrika und Ägypten herbeigeschafften Getreide reichlich gefüllt.
Die Bewohner amüsierten sich bei Wagenrennen im Hippodrom, im Zirkus, in den Theatern, Gärten, öffentlichen Thermen. Sie drängten sich in den engen Gassen und auf den Foren: hochgewachsene Goten und gedrungene Awaren, robuste Slawen, zierliche Griechen, dunkelhäutige Afrikaner, Franken, Langobarden, Hunnen, Perser – die ganze Welt schien es nach Konstantinopel zu ziehen, um an seinem Reichtum teilzuhaben.
Beim Gang durch eine der Gassen fiel einige Meter von Gregor entfernt plötzlich ein Haus in sich zusammen. Wie einst in Rom machte der Wohlstand die Menschen nicht solider, sondern gierig. Man baute schnell und nachlässig, suchte einander in der Zurschaustellung von Pracht und Größe zu übertrumpfen. Konstantinopel war wirklich ein zweites Rom und offensichtlich verurteilt, das Schicksal seines Vorbilds zu wiederholen. Die Herrscher und ihre Untertanen nannten sich nun zwar Christen, aber sie lebten so, als hätte sich seit den Tagen des Kaisers Augustus nichts geändert.
Doch nicht diese Erkenntnis versetzte Gregor in eine schwermütige Stimmung. Er wusste ja, wie schwach die Menschen und wie stark die Versuchungen des Teufels waren. Wer sie vom Abgrund zurückreißen wollte, lief Gefahr, verlacht, verfolgt oder sogar getötet zu werden. Nicht ohne Grund hatte Jesus seinen Jüngern geraten, ohne Falsch wie die Tauben und klug wie die Schlangen zu sein. Mehr als die allgemeine Leichtfertigkeit bedrückten Gregor die Gespräche mit seinen Verwandten und mit den Priestern vom Patriarchat. Sie bestätigten ihn in seiner Meinung, dass Kaiser Tiberios ebenso wie sein Vorgänger Justin nicht das geringste Interesse daran haben konnte, sich der sterbenden Stadt am Tiber anzunehmen. Für die Herrscher lag das Zentrum des römischen Imperiums am Bosporus, und dort würde es bleiben, mochten Perser und Awaren noch so viele Kriege und Aufstände gegen Konstantinopel anzetteln. Die einstige Hauptstadt am Tiber bedeutete den Kaisern nicht viel mehr als eine zum Raub freigegebene Schatzkammer in der fernen Provinz, auf die sie zwar Anspruch erhoben, aber sich ebenso wie die Barbaren aus ihr bedienten, so lange noch etwas zu holen war. Von Konstantinopel war keine Hilfe wie noch zu Zeiten Kaiser Justinians und seiner Feldherren und Narses zu erwarten. Er, Gregor, stand hier auf verlorenem Posten. Auch wenn er mit Engelszungen redete und den Hof für sich und seine Sache einnehmen könnte, Kaiser Tiberios musste das Hemd näher sein als die Tunika.
Ein heftiges Heimweh erfasste Gregor nach den verödeten Hügeln, den Gräbern der Märtyrer, den darbenden Römern, nach all dem Verfall und der Armut. Dort gehörte er hin. Lieber wollte er mit Rom sterben als im Schatten des Kaiserpalastes von Konstantinopel leben.
Der weitere Verlauf der Ereignisse bestätigte seine düsteren Vorahnungen. Es dauerte Wochen, bis Kaiser Tiberios geruhte, den Apokrisiar des Papstes zu empfangen. Die Senatoren, nach einer gefahrvollen Überfahrt endlich in Konstantinopel eingetroffen, waren erst gar nicht bis zum Zentrum der Macht vorgedrungen. Sie mussten ihr Schreiben an den Kaiser einem Hofbeamten übergeben. Die Abgesandten des römischen Senats, der einst ein Weltreich regiert hatte, wurden wie lästige Bittsteller abgespeist. Schweigend hörte sich Gregor ihre Klagen an. Wider besseres Wissen nahm er den Kaiser in Schutz und tröstete sie mit dem Versprechen, noch sei nicht aller Tage Abend, und er werde sein Bestes für Rom tun.
Endlich kam der Tag, da er über kunstvolle Mosaike durch Vorhöfe, Vorhallen und Zimmerfluchten schritt, immer wieder von anderen Domestiken mit umständlichen Titeln in Empfang genommen und geleitet, mit immer neuen Hinweisen versehen, wie er sich dem Kaiser zu nähern habe, wann er auf die Knie zu fallen, wann und wie lange er sich auf den Boden zu werfen, in welchem Ton er zu sprechen, wohin er zu blicken habe. Seine Verwandten hatten ihm schon einiges über das Zeremoniell am kaiserlichen Hof erzählt und ihn auf die wichtigsten Personen, „die Erleuchteten“, vorbereitet: den Präfekten des geheiligten Schlafgemaches, den Oberdirektor der Kanzlei, den geheimen Redenschreiber, den Grafen der geheiligten Geschenke, den Schatzmeister der Privatdomänen, die beiden Grafen der Palasttruppen. Es würde Jahre brauchen, prophezeiten sie, all die hochtrabenden Titel, die Verbindungen und Animositäten bei Hofe, den Ablauf der Zeremonien zu erlernen.
Die Vorstellung, Jahre in einem Land verbringen zu müssen, das die Einfachheit der römischen Sitten durch asiatischen Pomp verdarb, erschreckte Gregor. Er wollte alles tun, um dieser Stadt so schnell wie möglich den Rücken kehren zu können. Aber er steckte in einem Dilemma: Wenn Tiberios sich Roms Wünschen gegenüber unzugänglich zeigte, würde Gregor in Konstantinopel bleiben müssen, bis er den Kaiser für sich eingenommen hatte. Errang er beim Kaiser schnellen Erfolg, würde ihn Papst Pelagius erst recht an dieser Stelle belassen, um weitere Vergünstigungen für Rom zu erwirken. Wie er es auch drehte und wendete, er musste hier voraussichtlich länger ausharren als ihm recht war.
Auf dem endlos scheinenden Weg durch die Prunkgemächer des Großen Palastes hatte Gregor Zeit, dem Feldherrn Narses und so manchem byzantinischen Beamten in Rom, mit dem er in seiner Zeit als Präfekt zu tun gehabt hatte, im Stillen Abbitte zu leisten. Wie sehr musste ihre Eitelkeit und ihre Liebe zum pompösen Zeremoniell im verarmten Rom, das selbst im Glanz des Kaiserreiches weitgehend seine ungezwungenen republikanischen Sitten beibehalten hatte, gelitten haben. Auch wenn der Stolz der Römer sich nur noch auf die Macht vergangener Zeiten berufen konnte, hatte Gregor damals für das anmaßende Auftreten der Byzantiner nur Befremden und Verachtung empfunden. Er hätte Mitleid mit ihnen haben sollen. Wer am Hof von Konstantinopel aufgewachsen war, lernte von Kindheit an sich zu demütigen und seinerseits Tiefergestellte zu demütigen. Woher sollte so ein Beamter wissen, dass ein wahrhaft freier Mann niemals Gefallen daran finden konnte, andere zu erniedrigen!
Gregor beschloss, sich nicht länger mit moralischen Erwägungen aufzuhalten, und konzentrierte sich auf seine Mission und den Kaiser. Wenn überhaupt, würde er nur etwas erreichen, wenn er dem Herrscher und seinem Hof vorurteilslos begegnete. Tiberios, ein enger Freund des kürzlich verstorbenen Kaisers Justin II., hatte jahrelang die Regentschaft für den an einer Geisteskrankheit Leidenden geführt. Es hieß, Kaiserin Sophia, jene, die den Feldherrn Narses einst so tief gekränkt hatte, habe Tiberios unmittelbar nach Justins Tod ihre Han...

Inhaltsverzeichnis

  1. Impressum
  2. Begegnung
  3. Aufbruch in die Welt
  4. Der Präfekt
  5. Der Mönch
  6. In Konstantinopel
  7. Die Pest
  8. Der Konsul Gottes
  9. Aus der Kraft des Geistes
  10. Langobarden vor Rom
  11. Der Menschenfischer
  12. Der Schmerzensmann
  13. Epilog
  14. Namensverzeichnis
  15. Zeittafel
  16. Literaturangaben (Auswahl)
  17. Sigrid Grabner
  18. E-Books von Sigrid Grabner