Dass er einmal am 1. Mai, dem âKampftag der Arbeiterâ, Worte mit dem preuĂischen Kronprinzen wechseln wĂŒrde, hĂ€tte sich Wilhelm Pieck (1876 â 1960) als linker Sozialdemokrat in den Vorkriegsjahren sicher nicht trĂ€umen lassen. Doch bei einem Truppenbesuch in Lothringen 1916, fĂŒr den er mit den ĂŒbrigen Soldaten seiner Kompanie in aller FrĂŒhe hatte antreten mĂŒssen, reichte ihm Wilhelm von PreuĂen (1882 â 1951), Kommandeur der 5. Armee sowie der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, die Hand und fragte ihn nach Alter, Wohnort und dem Befinden seiner Familie. AnschlieĂend verabschiedete er sich. âAuf Kommando muĂte noch Hurra geschrien werden. Dann stieg er ins Auto und fort.â1 Die kurze Szene, die Pieck in einem Tagebuch festgehalten hat, wĂ€re kaum weiter bemerkenswert, hĂ€tte er nicht ein Jahr zuvor eine Demonstration gegen den Krieg vor dem Reichstag organisiert, bei der er verhaftet und fĂŒr mehrere Monate in MilitĂ€rgewahrsam genommen worden war. Nun, nach seiner zwangsweisen Rekrutierung nach Frankreich im MĂ€rz 1916, blieb ihm als Ausdruck seiner oppositionellen Haltung nur mehr, den Hohenzollern in wenig schmeichelhaften ZĂŒgen als âhagere Figur mit spindeldĂŒrren Beinenâ und krankhaftem Aussehen darzustellen.2
Piecks Weg von der Antikriegsdemonstration an die Westfront ist ein eindrĂŒckliches Beispiel fĂŒr die gewaltigen VerĂ€nderungen, durch die der Krieg die Welt der linken Sozialdemokraten um Rosa Luxemburg (1871 â 1919) und Franz Mehring (1846 â 1919) aus den Fugen geraten lieĂ. Ăber die langfristige Bedeutung des Ersten Weltkrieges fĂŒr das Leben, Denken und Handeln der spĂ€teren GrĂŒndungsmitglieder der KPD herrscht in der historischen Forschung jedoch wenig Klarheit. Zwar ist die Geschichte der Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung wĂ€hrend des Krieges ergrĂŒndet und auch die Oppositionsarbeit der Gruppe Internationale und des Spartakusbundes wiederholt thematisiert worden.3 Welche Stellung die Zeit des Krieges in der Erfahrungswelt und Erinnerung der spĂ€teren Kommunisten besaĂ und welchen Wandlungen sie von der Weimarer Republik bis in die Anfangsjahre der DDR unterworfen war, ist bislang jedoch kaum thematisiert worden.4 Ăberdies wird die Frage, ob mit der historischen ZĂ€sur des Ersten Weltkrieges ein Umbruch politischer Vorstellungen und Handlungsweisen einherging, bis heute sehr unterschiedlich beantwortet. Auf der einen Seite findet sich die These von der Radikalisierung des linken FlĂŒgels der Sozialdemokratie infolge der Burgfriedenspolitik der Partei- und FraktionsfĂŒhrung, eines enthemmenden Kriegserlebnisses und der russischen Revolutionen von 1917.5 So hat Andreas Wirsching âdie mentale Ausgangsdisposition des frĂŒhen Kommunismusâ als âeine Mischung aus Bedrohungsangst und hemmungsloser AggressivitĂ€tâ charakterisiert, âderen Dimension und IntensitĂ€t nur vor dem Hintergrund des sĂ€kularen Weltkriegstraumas und des russischen BĂŒrgerkrieges zu begreifenâ seien.6 Auf der anderen Seite herrscht die schon 1919 von dem sozialdemokratischen Politiker und Publizisten Paul Lensch (1873 â 1927) vertretene Ansicht, âdaĂ im Spartakusbund und bei den UnabhĂ€ngigen im Grunde nichts anderes zum Ausdruck kommt, als die alte Ideologie der Sozialdemokratie aus dem Voraugustâ.7 Nach dieser Auffassung waren die Kriegsjahre weder ein tiefer, bewusstseinsprĂ€gender Einschnitt noch ein Motor der Brutalisierung.8
Anhand der Biografie Wilhelm Piecks werde ich im Folgenden einen genaueren Blick auf die Bedeutung des Ersten Weltkrieges fĂŒr die sozialdemokratischen Linken und spĂ€teren Kommunisten um Luxemburg und Mehring werfen und die Perspektive ĂŒber den Parteikommunismus der Weimarer Republik hinaus weiten. Denn Piecks Lebenslauf, der von der kaiserzeitlichen Sozialdemokratie bis in die Anfangsjahre der DDR reicht, erlaubt nicht nur, nach den BrĂŒchen und KontinuitĂ€ten in den politischen Erfahrungen, Anschauungen und Praktiken ĂŒber die Epochenschwelle des Ersten Weltkrieges hinweg zu fahnden. Er ermöglicht auch, das Fort- und Umschreiben der Kriegserfahrungen in der historischen MeistererzĂ€hlung der KPD und SED in das Blickfeld der Forschung zu rĂŒcken und den sich wandelnden Wert der Weltkriegszeit in der kommunistischen Erinnerungskultur am Beispiel des spĂ€teren Parteivorsitzenden und PrĂ€sidenten der DDR nachzuzeichnen.
Schock und Marginalisierung: das andere âAugusterlebnisâ
FĂŒr den Kreis um Rosa Luxemburg und Franz Mehring, dem Pieck schon bald nach seiner Ăbersiedlung von Bremen nach Berlin im Mai 1910 angehört hatte, war nicht der Ausbruch des Krieges, sondern die Nachricht von der Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die einschneidende Erfahrung des Jahres 1914. WĂ€hrend er â zumindest in der marxistischen Theorie â auf den Krieg als Folge der wirtschaftlichen Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Staaten gefasst war, hatte er die Kreditbewilligung am 4. August nicht fĂŒr möglich gehalten.9 Die Nachricht wirkte daher wie ein Schock.10 Noch am Abend des 4. August kamen Mehring, Julian Marchlewski (1866 â 1925), Ernst Meyer (1887 â 1930), Hermann Duncker (1874 â 1960), Hugo Eberlein (1887 â 1941) und Wilhelm Pieck in der Wohnung Luxemburgs zusammen, um zu beraten, âwas in dieser grausigen Situation zu tun seiâ.11 Unter dem ersten Eindruck der Kreditbewilligung war auch ein Austritt aus der Partei erwogen worden. Am Ende beschlossen sie jedoch, âden Kampf gegen den Krieg in der Organisation zu fĂŒhrenâ12 â âeben weil wir die Partei gewinnen wolltenâ, wie Duncker spĂ€ter erklĂ€rte.13 Sie einigten sich darauf, all jene Genossen im Lande zu sammeln, mit denen sie sich in der Ablehnung der Fraktionspolitik einig wĂ€hnten, und sie zu einer Besprechung nach Berlin zu rufen. Ăber 300 Telegramme wurden verschickt, doch wie Eberlein schreibt, war das Resultat âkatastrophalâ. Clara Zetkin (1857 â 1933) sei die einzige gewesen, die ihre Zustimmung gesandt habe.14 Dem Vorschlag eines öffentlichen Protestes gegen das Votum der Reichstagsfraktion begegnete sie allerdings mit groĂen Bedenken: â[âŠ] er bliebe eine rein persönliche Kundgebung, die jetzt von Niemand verstanden wĂŒrde, nur zeigte, daĂ wir völlig isoliert in der Luft stehen und wie klein und ohnmĂ€chtig wir sindâ.15 Auch Karl Liebknecht (1871 â 1919) lehnte zu dieser Zeit ab, in einer öffentlichen ErklĂ€rung gegen die Kreditbewilligung zu protestieren. Er hatte sich zwar mit einer Minderheit in der Reichstagsfraktion gegen die Bewilligung ausgesprochen, wahrte jedoch nach auĂen die Parteidisziplin und setzte darauf, dass die Fraktion ihren Kurs bald korrigieren wĂŒrde. Erst Ende August oder Anfang September trat er in eine nĂ€here Verbindung zu Luxemburg.16 So scheint es wenig ĂŒbertrieben, wenn Paul Lensch rĂŒckblickend schreibt, dass es am 5. August 1914 unmöglich gewesen sei, âin Berlin auch nur ein halbes Dutzend Stimmen zum Protest gegen die Kreditbewilligung aufzutreibenâ.17 Auf den Schock und die EnttĂ€uschung ĂŒber das Votum der Reichstagsfraktion folgte die Erfahrung der politischen Marginalisierung, die das Selbstbild der Gruppe fortan bestimmen und zu einem festen Bestandteil der GrĂŒndungserzĂ€hlung der spĂ€teren KPD werden s...