VIERTE SITZUNG Am Morgen kommt Kokoschka zusammen mit Olda. London hat seine Sommerlaune zurückerhalten, und unterwegs haben sie Spaß daran, die seilhüpfenden Mädchen auf den Trottoiren und die Fußball spielenden Jungen zu sehen. Sie haben haltgemacht, um eine neue Flasche Whisky zu kaufen; Oskar trägt sie in seiner tiefen Manteltasche.
Mrs Christie ist unten im Park, informiert Sir Max, der sie hereinbittet; auf dem Esstisch hat er ein Fotoalbum liegen und zeigt Bilder aus der Jugend seiner Gattin.
Ein Mädchen auf Rollschuhen am Pier von Torquay. Eine sommersprossige junge Dame mit glitzerndem Blick, auf hohen Absätzen, den Hut keck auf einem Ohr, umgeben von feschen jungen Offizieren in Kairo. Und eine etwas schwerere Frau mit ihrem Mann bei Ausgrabungen im Irak. Auf dem Hintern vor einem Zelt sitzend, die Schreibmaschine auf dem Schoß.
Meine Frau ist eine abenteuerlustige Dame, sagt Sir Max lächelnd.
Mrs Christie kommt aus dem Park herein, mit einem großen weißen Sonnenhut auf dem Kopf. Sie klappt das Album zu und rümpft die Nase. Sir Max lacht. Sie stammen doch aus Prag, sagt Mrs Christie freundlich zu Olda. Die Damen wechseln ein paar Worte, bevor sich Olda verabschiedet.
Agatha geht vor Oskar die Treppe hinauf. Im Zimmer zieht sie den Sonnenhut vom Kopf und lässt ihn zu Boden fallen.
Fühlen Sie sich heute besser?, fragt sie nüchtern.
Er fühlt sich ausgezeichnet.
Setzen Sie sich, sagt sie, ich habe etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich bin geradezu lächerlich ehrlich. Ich habe noch nie einen Vertrag gebrochen. Aber ich hinke mit meiner Arbeit hinterher, und das hier zehrt an den Kräften. In Ihrer Abwesenheit ist mir klargeworden, dass ich kein Porträt haben will. Im Übrigen kann ich nicht sehen, dass Sie arbeiten.
Kokoschka schweigt. Sein Blick gleitet über die Wände.
Sie irren sich, sagt er nach einer Weile.
Ich irre mich selten, erwidert sie spöttisch.
Nicht anspruchslos, wie er unlängst zu Olda gesagt hatte, sondern britisch hochnäsig, ganz upper class. Sie benimmt sich wie die meistgelesene Autorin der Welt, was sie, wie Olda behauptet, ja auch ist, die Bibel und Shakespeare vielleicht ausgenommen. Wenn Mrs Christie die Porträtbestellung beenden will, kann er nicht widersprechen. Es ist bedauerlich, was aber kann er dagegen tun?
Er seufzt.
Mrs Christie, hören Sie mir zu.
Nichts anderes habe ich getan, Mr Kokoschka.
Ein Porträt ist der Versuch, eine Persönlichkeit einzufangen. Da Sie so wenig sagen, habe ich geredet und vielleicht zu viel. In der Zwischenzeit habe ich Sie studiert. In Ihrem Gesicht gibt es viele Ausdrücke. Ich versuche, sie zu erfassen. Ich habe tatsächlich gearbeitet.
Oh, indeed?
Mit so viel Ironie, wie das Englische nur enthalten kann. Er hat nicht vor, sich provozieren zu lassen. Ein Porträt ist eine Zusammenarbeit zwischen zwei Menschen, wiederholt er. Ich hätte natürlich gewünscht, dass Sie mehr von sich selbst berichtet hätten, über Dinge, die Ihnen vielleicht wehgetan haben, wie ich es gemacht habe.
Mir missfällt es, über mich selbst zu reden, erwidert sie.
Ja. Aber ein Porträt erfordert Zusammenarbeit, Mrs Christie.
Sie haben, sagt sie und sitzt starr aufgerichtet im Sessel, von aufwühlenden Dingen gesprochen. Dass Sie im Krieg verwundet, beinahe getötet worden sind. Dass man Sie verlassen hat. Für Sie ist Zusammenarbeit vielleicht Material bei der Vorbereitung eines Porträts. Jemand, der schreibt aber, muss einsam sein, Mr Kokoschka. Distanz haben. Die Dinge auf Abstand halten können. Sie bringen mich dazu, an Dinge zu denken, die ich am liebsten vergessen will. Das stört die Arbeit an dem Buch, an dem ich sitze.
Ungeachtet dessen, was sie gesagt hat, schraubt er ein paar seiner Farbtuben auf, Blau in verschiedenen Nuancen und Weiß, und drückt Farbe auf die Palette. Sie sieht ihm zu, ohne die Sache zu kommentieren. Bis auf Weiteres betrachtet er ihr Gesicht und fährt mit seiner Arbeit fort.
Liebe Mrs Christie, sagt er nach einer Weile. Ich frage mich, wovor Sie Angst haben?
Angst? Sie hebt die Stimme. Sie hat Tausende von Gestalten erfunden, Servierfräuleins, Bankiers, entzückende Damen in Pensionärsheimen, die sich als Mörderinnen herausstellten, Archäologen im Mittleren Osten, Passagiere auf dem Nil, Kriegsflüchtlinge, Irrsinnige und Exzentriker. Sie waren am Schreibtisch geboren worden. Ihnen stoßen schreckliche Dinge zu, sie selbst aber sitzt wohlbehalten an der Schreibmaschine.
Sie verstehen, fährt sie fort, Schreiben ist ein eigentümlicher Job. Es ist wie mit Puppen zu spielen.
Sie erinnert sich an ihr großes Puppenhaus in Ashfield und beschreibt es ihm. Viele Zimmer. Ess- und Kaffeegeschirr, Kristalllüster und Möbel. Wunderbare kleine Figürchen, Kinder und Erwachsene.
Vor dem Puppenhaus kniend, sorgte ich dafür, dass die fürchterlichsten Dinge geschahen. Ich genoss es. Dass es meinen Puppen zustieß: Blut, Scheidungen, Misshandlung der Ehefrau, Kindermord — auf diese Weise konnte es mir nicht passieren.
Ein kurzes Lächeln zieht über ihr Gesicht.
Ich bin ein kindlicher Mensch, Mr Kokoschka.
Ich spiele noch immer mit Puppen.
Sie hat eine ihrer rätselhaftesten Gestalten Mr Quin genannt, Mr Harley Quin, den man Harlekin ausspricht. Er scheint in das Bewusstsein anderer hineinblicken zu können. Er sieht Zusammenhänge, die andere nicht erkennen. Er hat magische Züge. Einen solchen Menschen gibt es nicht, seine Merkmale hat er vermutlich von der Commedia dell’arte.
Kokoschka gießt einen Whisky ein und zündet sich eine Zigarette an. Er streckt die Beine aus, lehnt sich im Stuhl zurück und bläst den Rauch aus.
Jetzt werde ich Ihnen etwas erzählen, sagt er, und das, was ich sagen werde, handelt ebenfalls von Puppen. Er blickt an die Decke hoch, während er von der Puppenmacherin und der Puppe Alma berichtet, die er bestellt hat.
Auch ich brauchte eine Puppe, Mrs Christie.
Agatha reißt die Augen auf.
Sie wollten mit einer kleinen Puppe spielen, die Alma darstellte?
Keiner kleinen. Einer in natürlicher Größe. Nach Almas Maßen.
Eine in tatsächlicher Größe?
In jeder Hinsicht so viel Alma wie möglich.
Agatha hebt ihren großen Sonnenhut vom Boden auf und fächelt sich Luft zu. Kokoschka ist wahnwitziger, als sie sich hatte vorstellen können. Davon muss sie mehr erfahren. Wie Sie wollen, Mr Kokoschka, fügt sie einen Moment darauf hinzu.
Wir arbeiten zusammen. Erzählen Sie von der Puppe.
Er schrieb an Fräulein Moos und sandte ihr so genaue Maße wie möglich, aus der Erinnerung des Gefühls an einen wohlbekannten und geliebten Körper.
Die Sehnsucht nach Alma war zerrüttend.
Innendrin war er tot.
Die Briefe an Hermine waren ein Versuch, Leben zu erlangen. Im Herbst 1917 wurde er überraschend nach Stockholm zu einer Ausstellung österreichischer Kunst eingeladen, die von der Regierung Österreichs organisiert worden war. Er reiste hin. Die Stadt in ihren klaren Herbstfarben war unbeschreiblich schön.
Inseln schwammen wie Törtchen auf dem Wasser.
Die Werke der Kollegen in Liljevals Kunsthalle waren wenig beeindruckend. Er versuchte sich an ein paar eigenen Aquarellen, die nicht gut ausfielen. Er wurde höflich empfangen und durfte zwei Nobelpreisträgern die Hand schütteln, Selma Lagerlöf und Svante Arrhenius. Doch hatte er im Übrigen nur zwei Dinge im Kopf.
Das Erste war, den Schmerz nach dem Verlust von Alma loszuwerden. Das Zweite war, zu vermeiden, zum Militär und in den Krieg geholt zu werden. Er hörte von einem Wiener Professor berichten, der den Nobelpreis erhalten hatte und Spezialist für Gehirnstörungen war.
Er besuchte ihn im Krankenhaus von Uppsala. Professor Baranyi setzte ihn auf einen Stuhl, der mit grässlicher Geschwindigkeit rotierte, was einen Krampf im Gehirn auslösen sollte. Einen Kurzschluss. Ein Ausradieren.
Doch ihm wurde lediglich übel, und er brach die Sache ab.
Der Professor war jedoch so freundlich, eine Bescheinigung für das Österreichische Kriegsministerium auszustellen, die seine Untauglichkeit für den Kriegsdienst bezeugte.
Um Alma zu vergessen, begann er in Stockholm eine Affäre mit Frau Carin von Kantzow. Jeden Tag schickte er ihr ganze Arme voller Rosen in der Hoffnung, Eros damit zu erweichen, anders gesagt, dass ihn Verliebtheit überkommen möge. Der Liebesgott aber war mürrisch und schwieg.
Sie wollte, dass sie heiraten. Er konnte nicht. Es dürfte sie vielleicht amüsieren, Mrs Christie, zu hören, dass Frau von Kantzow ein paar Jahre später den Flugequilibristen und späteren Naziführer Hermann Göring geheiratet hat.
Really, Mr Kokoschka?
Welch seltsamer Zufall. Doch möchte ich mehr über die Puppe Alma erfahren.
Er kehrte nach Dresden zurück und sandte Fräulein Moos eine Unmenge an Zeichnungen von Almas Körper und unzählige Fotos. Er gab Anweisungen, wie die Puppe gemacht werden sollte. E...