Im Zwielicht der Freiheit
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Im Zwielicht der Freiheit

Potsdam ist mehr als Sanssouci

  1. 324 Seiten
  2. German
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Im Zwielicht der Freiheit

Potsdam ist mehr als Sanssouci

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Über dieses Buch

Nach dem großartig komponierten "Jahrgang '42" legt Sigrid Grabner nun Teil zwei ihrer Autobiografie vor. Und wieder gilt: Eine starke Persönlichkeit, außergewöhnliche Lebensumstände, spannende Begegnungen mit berühmten oder ganz besonderen Menschen, eine feine Beobachtungsgabe, kluge Einordnungen - das ist der Stoff, aus dem entstehen kann, was es aufzuschreiben, festzuhalten gilt. Sigrid Grabner kann aus einem beachtlichen Fundus schöpfen. Sie ist Schriftstellerin, die bis zum Mauerfall als DDR-Bürgerin in Potsdam lebte, sie ist promovierte Indonesienkundlerin, sie ist praktizierende Katholikin, sie war mit 33 Jahren Witwe mit zwei Kindern. Die innere Freiheit hat sie sich auch in der Diktatur nicht nehmen lassen, den Umgang mit der äußeren Freiheit nach 1989 musste sie erst lernen. Grabner hat einen der Wahrheit verpflichteten, unbestechlichen und in diesem Sinne schonungslosen Rückblick auf die Mühseligkeiten des deutsch-deutschen Zusammenwachsens nach 1989 verfasst. Sie schreibt in schöner, klarer Sprache, sehr reflektiert, anregend, bisweilen tröstlich, bisweilen traurig machend, immer spannend. Ihre Widerständigkeit gegen zeitgeistige Albernheiten, gegen Fehlentwicklungen und Arroganz speist sie aus einem unerschütterlich wirkenden Gottvertrauen. Es hilft ihr auch über persönliche Enttäuschungen hinweg. Dies ist wieder ein großartiges Buch geworden.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783965216570

„Tausend Jahre Potsdam"

Noch konnte ich meine Miete bezahlen, doch nicht mehr lange. Ich suchte nach Einsparmöglichkeiten, aber die waren begrenzt. Ich brauchte ein regelmäßiges Einkommen. Die kleine Rente als Witwe eines Verfolgten des Naziregimes gab es in dem neuen Staat nicht mehr, sondern nur eine allgemeine Witwenrente, die ich erst mit vielen Nachweisen beantragen musste. Es konnte Jahre dauern, bis ich sie bekam. Außerdem würde sie nicht ausreichen, auch nur den sparsamsten Lebensunterhalt zu finanzieren.
Das neue Jahr begann ich mit dem Gang aufs neu geschaffene Arbeitsamt. Ich reihte mich in eine der endlosen Warteschlangen ein, ohne herausgefunden zu haben, ob es auch die richtige war. Eine halbe Stunde hielt ich es aus, dann ergriff ich die Flucht. Es musste doch noch einen anderen Weg in die neue Zeit geben. Auf dem Heimweg kam ich am Kulturdezernat vorbei. Kurzentschlossen trat ich ein, um bei dem neuen Kulturamtsleiter nachzufragen, ob man nicht doch eine Verwendung für mich habe, und sei es als Klofrau in einer kulturellen Einrichtung. Der ehemalige Orgelbauer schaute mich bedauernd an. Kein Bedarf, vielleicht, aber nicht jetzt. Traurig schlich ich davon. Das Arbeitsamt sollte mir wohl nicht erspart bleiben.
Zwei Tage später rief eine Kollegin an, die wie ich beim Arbeitsamt gewesen war und mehr Geduld beim Warten aufgebracht hatte. Sie erzählte von einer befristeten Stelle beim Institut für Zeitgeschichte der Pädagogischen Hochschule, in Kürze Universität, wo sie sich nach dem Wochenende vorstellen würde. Ich beglückwünschte sie und verbrachte das Wochenende damit, Artikel an mir unbekannte Zeitschriften zu schicken. In mein Tagebuch notierte ich:
„Dieses ungute Gefühl, sich überall anzubieten und von niemandem gewollt zu werden! Ständig um Balance vor dem Absturz ringen. Und sich immer wieder sagen: Auch wenn du untüchtig bist, dich in den neuen merkantilen Verhältnissen nicht zurechtfindest, dich nicht vermarkten kannst – du bist nicht verloren, Gott liebt dich. Er hält dich in seiner zuweilen harten, doch immer zärtlichen Hand. Du darfst nicht den Mut verlieren, nicht die Geduld, vor allem aber nicht die Heiterkeit. Lerne Demut!“
Noch öffnete sich kein Weg, doch ich würde einen finden. Mein Gefühl trog nicht. Schon am nächsten Tag rief der Chef der Projektgruppe „Pots 1000“ beim Magistrat an, ob ich nicht Lust hätte, mich an der Vorbereitung für Potsdams Tausendjahrfeier 1993 zu beteiligen. Kurze Zeit später saß er in meiner Wohnung. Der Kulturamtsleiter habe ihm von mir erzählt. Zu jedem Stadtjubiläum gehöre auch die Herausgabe eines Festbuches und ich sei doch Schriftstellerin. Er könne mir jetzt noch keine bindende Zusage für eine Anstellung geben, aber er werde sich für mich einsetzen. Der Enthusiasmus des Mannes, Mitte dreißig, früher Journalist bei der DDR-Nachrichtenagentur ADN, gefiel mir. Zwar hatte ich mehr Ahnung von römischer Geschichte als von Potsdams angeblich tausend Jahren, aber dieser Mangel ließ sich gewiss beheben.
Am nächsten Morgen rief aufgeregt die Kollegin an, die sich bei der Universität vorgestellt hatte. Man brauche dort noch Leute für die Arbeit an einem Ausstellungskatalog, zehn Monate, gute Bezahlung. Ich solle mich unbedingt dort vorstellen.
Das tat ich. Die beiden Herren, der Professor aus dem Westen, der Assistent aus dem Osten, begutachteten mich: promoviert, wunderbar. Ich könne sofort anfangen. Doch da gab es auch das andere Angebot und ich legte mich noch nicht fest.
Ein paar Stunden später trabte ich zum Magistrat. Der aus den alten Bundesländern stammende Pressesprecher der Stadt, dem die Projektgruppe unterstand, versuchte mir, unterbrochen von Telefonaten und einem ständigen Kommen und Gehen, meine künftige Arbeit zu erklären. Eine Fülle von Informationen, Aufgaben und Anregungen prasselte auf mich ein. In diesem Chaos war es nahezu unmöglich, gezielte Fragen zu stellen und sich ein Bild zu machen. Bezahlung und Arbeitsbedingungen waren ungünstiger als an der Universität, aber irgendwie reizte mich diese Stelle mehr.
Wann ich mit einer bindenden Entscheidung rechnen könne? Dieter, der Projektleiter, und Thomas, der Pressesprecher, zuckten mit den Schultern. Das sei Aufgabe des Personalchefs und man wisse nie, wann der Zeit habe. Ja, man werde Druck machen, aber zwei Tage müsse ich mich schon noch gedulden.
Zwei Tage! Am nächsten Tag erwartete man bei der Universität meine Zusage. Schließlich hatte sich ein Dutzend Leute für diese Stelle beworben. Es schien mir, wie immer in meinem Leben, nicht beschieden, auf Sicherheit zu spielen. Ich musste mich entscheiden. Die Wissenschaftlerin in mir votierte für die Universität. Außerdem zahlte sie besser und die Arbeitsbedingungen waren angenehmer.
Die Schriftstellerin in mir neigte mehr zu der Stelle im Magistrat. Wie es an einer akademischen Einrichtung zuging, wusste ich zur Genüge aus meiner Zeit an der Humboldt-Universität. Ich war froh gewesen, als ich vor sechzehn Jahren von dort weggehen und mich dem Schreiben zuwenden konnte. Universität, ob sozialistisch oder nicht, so argwöhnte ich, blieb Universität. Zudem lief dort jetzt ein Vorgang, der sich Evaluation nannte. Langjährige sozialistische Professoren und Doktoren mussten von Kommissionen, die vorwiegend aus westdeutschen Mitgliedern bestanden, ihre wissenschaftliche Qualifikation überprüfen lassen, ehe sie auf ihren angestammten Plätzen weiterarbeiten durften. Wer verdankte seine Stelle den Gnaden der Partei, wer hatte sich als Einpeitscher der sozialistischen Ideologie hervorgetan, hatte gar für die Staatssicherheit gearbeitet, wer war Täter, wer Opfer gewesen? Wollte ich mir eine solche Atmosphäre von Hauen und Stechen antun, in dem es letztlich nur um Einfluss und Karriere ging?
Das mochte in einer städtischen Behörde nicht anders sein, doch Titulaturen und die damit verbundenen Eitelkeiten würden keine so große Rolle spielen. Hier ging es ganz pragmatisch darum, das zukünftige Bild Potsdams zu prägen, und das Kräftespiel in dieser so hilflos daniederliegenden Stadt faszinierte mich.
Als der Professor am nächsten Tag anrief und nach meiner Entscheidung fragte, holte ich tief Luft und sagte dann: „Nein, danke!“ Ob ich denn etwas anderes hätte? Das klang beleidigt. Vielleicht, erwiderte ich, und mir war flau im Magen. Warum nur schätzte ich den Spatz in der Hand nicht und hielt immer Ausschau nach der Taube auf dem Dach!
„Weine, wenn du kannst, doch klage nicht, dich wählte der Weg – und du sollst danken“, hatte Dag Hammerskjöld in sein Tagebuch geschrieben. Ich weinte nicht, ich klagte nicht, ich wartete.
Der Personalchef, zu DDR-Zeiten Physiker, saß hinter seinem Schreibtisch in einem riesigen pompösen Raum, der ihn schmaler und übermüdeter wirken ließ, als er ohnehin war. Welch ein Unterschied zu dem Pressesprecher aus dem Westen, der sich so sicher wie selbstverständlich in seinem Büro ausgenommen hatte. Ich machte eine Bemerkung, wie sehr die Zeitenwende uns doch aufbrauche, man müsse alles, was uns begegne, aufschreiben, damit wir später verstünden, was mit uns geschehen sei.
Dr. S. hob den Blick und schaute mich überrascht an. Ja, früher habe er Tagebuch geführt, doch seit seinem Amtsantritt käme er nicht mehr dazu. Nach einem fünfzehnstündigen Arbeitstag schliefe er sofort ein, aber die wirren Träume als Fortsetzung des Tages ließen ihn wie gerädert aufwachen. Ich riet ihm, seine Gedanken und Eindrücke auf Tonband zu sprechen, um die Seele zu entlasten. Er winkte nur müde ab und blätterte in meinen Unterlagen. Ob ich wisse, worauf ich mich da einlasse, fragte er. Die Schriftstellerei sei ja doch etwas ganz anderes als die Arbeit in einer Verwaltung, die im Aufbau sei. Wussten Sie es, als Sie hier antraten?, parierte ich. Die Physik sei auch nicht gerade eine verwandte Wissenschaft.
Dr. S. lächelte. Wir haben ja am selben Tag Geburtstag, sagte er und nannte mir dann die Höhe des Gehalts, die noch einmal beträchtlich von dem nach unten abwich, was mir der Projektleiter Dieter genannt hatte, wahrscheinlich um mich anzulocken.
Ich überschlug im Kopf die Kosten für Miete und sparsamste Lebenshaltung und kam zum Ergebnis, es könnte gerade so reichen. Der Personalchef missdeutete mein Zögern als Ablehnung und nannte, was später undenkbar sein sollte, denn die Höhe des Verdienstes galt bald als das bestgehütete Geheimnis, sein Einkommen als Stadtrat. Es entsprach etwa dem, was mir an der Universität für die Aushilfsstelle angeboten worden war. Wir seien doch alle Idealisten, ermunterte er mich. Er konnte nicht wissen, dass Geld für mich kein Statussymbol und auch kein Äquivalent für erbrachte Leistungen, sondern immer nur Mittel zum Überleben war: ein Dach über dem Kopf, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, Brot und Wein und Bekleidung. Mehr brauchte es nicht.
Aber darüber wollte ich jetzt kein Gespräch beginnen. So sagte ich nur, ich sei einverstanden und zitierte Alfred Polgar: „Der Idealist geht glatt durch Mauern und stößt sich wund an der Luft.“
Sechzehn Jahre hatte ich in der DDR als freie, als vogelfreie Schriftstellerin gelebt, um nun in der so heiß ersehnten und begrüßten neuen Freiheit als städtische Angestellte mein Brot zu verdienen. Mich in ein Kollektiv einzuordnen, das nicht mehr Kollektiv, sondern Team hieß. Es gab keine Beratungen mehr, das sei Ossi-Deutsch, lernte ich, sondern Besprechungen. Knallhart müsse man sein, aus einer Sache eine Philosophie entwickeln, diese dann auf die Schiene bringen und immer daran denken, dass man keine Freunde, nur bezahlte Feinde habe.
Zuerst einmal musste ich aber begreifen, wo ich mit der Projektgruppe „Potstausend“ überhaupt gelandet war.
Die Vorbereitungen für die Potsdamer Tausendjahrfeier hatten schon zu DDR-Zeiten, im März 1985, begonnen, just in jenem Monat, als im Moskauer Kreml Michail Gorbatschow die Amtsgeschäfte übernahm. Von welcher Bedeutung das auch für sie sein würde, ahnte keiner der Genossen, die sich im Zentralbüro für nationale Jubiläen und Gedenktage beim Ministerrat der DDR am 20. März zusammenfanden. Ihr Thema: 1000 Jahre Potsdam 1993.
Sie gingen die Sache nach bewährtem Muster an: Eine zentrale Arbeitsgruppe unter Leitung des SED-Bezirkschefs von Potsdam möge bis 1986 „die politisch-inhaltliche Gesamtkonzeption der Maßnahmen bis 1993“ ausarbeiten. „Die Grundkonzeption und die politisch-ideologische Zielstellung der Tausendjahrfeier“ wurden der Akademie für Staat und Recht in Babelsberg übertragen. Damit die Genossen vor Ort dem Ereignis auch gerecht würden, empfahl man ihnen, die tausendjährige Rolle der Bedeutung Potsdams in Thesen zu fassen.
Für „die Durchsetzung der politisch-ideologischen Aufgabenstellung“ waren die Bezirksleitung und die Kreisleitung der SED zuständig. Sie hatten „politisch-ideologische Kommissionen“ zur Leitung der politischen Arbeit zu bilden. Arbeitsgruppen seien einzusetzen, hieß es und die Abgeordneten von Stadt und Bezirk hätten die „Breitenwirkung“ zu sichern.
Doch die Worte der Genossen nahmen sich gegen jene, die aus Moskau kamen, ziemlich kraftlos aus; je weiter die Zeit voranschritt, desto mehr. Die Jahre 1985, 1986 und ein gut Teil von 1987 verstrichen ohne die geforderte „politisch-inhaltliche Gesamtkonzeption der Maßnahmen bis 1993“.
Ein Prolog macht noch kein Theaterstück. Das muss man in Potsdam gespürt haben, und so kam irgendjemand 1987 auf die Idee, beim Rat der Stadt ein Organisationskomitee „1000 Jahre Potsdam“ zu bilden und als Leiter und zuerst einzigen Mitarbeiter einen kulturverständigen ehemaligen Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee einzusetzen.
Ein Militär, so behauptet man, zeichne sich durch Aktivität, Organisationstalent, Entscheidungskraft und manchmal auch Mut aus. Der Oberstleutnant brachte diese Eigenschaften mit. Weil aber ohne Mannschaft keine Schlacht zu schlagen, geschweige denn zu gewinnen ist, warb der Offizier mit List und Geschick eine dreiköpfige Mannschaft an.
Das Organisationsbüro war dem damaligen Oberbürgermeister unterstellt, der sich nicht träumen ließ, dass er einmal wegen Wahlfälschung vor Gericht stehen würde. Mit strategischem Blick erkannte der Oberstleutnant, dass drei Leute plus Sekretärin zwar eine Stabsstelle bilden, aber immer noch kein würdiges Stadtjubiläum ausrichten konnten. Eine Struktur musste her und eine Konzeption.
Dank dem tüchtigen Oberstleutnant war bald ein Generalstabsplan erstellt. Doch beim Inhalt des Festes, der Konzeption, schieden sich die Geister. Die Geschichtskommission bei der Bezirksleitung der SED schien Schwierigkeiten mit den Thesen zum Stadtjubiläum zu haben und auch von den Geschichtsprofessoren der Pädagogischen Hochschule und der Akademie für Staat und Recht kam nichts. Wer sich auch nur ein wenig mit der Geschichte der Residenz- und Garnisonstadt Potsdam beschäftigt hat und sich an das real existierende sozialistische Potsdam erinnert, weiß auch, warum.
Bange machen gilt nicht, meinte der Oberstleutnant und erarbeitete den Entwurf einer Konzeption. Damit tat er für die damalige Zeit etwas Verwerfliches und für einen Militär etwas Verwegenes: Da die führende Kraft aus Schwäche nicht führte, hob er die rote Fahne mit den verdeckten preußischen Farben hoch und stürmte ohne Befehl voran.
In dem Grundsatzpapier von 1988 war Potsdam „die Stadt Karl Liebknechts, die Stadt des Potsdamer Abkommens, Wirkungsstätte bedeutender Humanisten, Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler und Baumeister, Garten- und Landschaftsgestalter; die Stadt der Schlösser und Gärten mit historisch gewachsenem Baukern in einer einmalig reizvollen Landschaft; die Stadt des Films, des Sports, sozialistische Garnisonstadt“.
Das Jubiläum bot die einmalige Gelegenheit, auf die Sorgen der Stadt aufmerksam zu machen. Da wurden das Holländische Viertel genannt, das Weberviertel, die zweite barocke Stadterweiterung, die Kuppel des Militär-Waisenhauses, der Wildpark-Bahnhof, die Schlösser und Gärten, alle im Verfall begriffen.
Entkleidete man diese Konzeption ihres ideologischen Brimboriums, enthielt sie schon das, was Anfang der Neunzigerjahre unter großem Geschrei immer wieder neu erfunden wurde. Doch diese Konzeption gelangte nie an die Öffentlichkeit. Der SED-Bezirkschef bezeichnete sie als „pluralistisches Machwerk“ und als „Beleidigung für die Partei“. Die schon gedruckten Exemplare mussten vernichtet werden, jegliche Öffentlichkeitsarbeit für das Stadtjubiläum wurde untersagt.
Als sich Publikum und Akteure nach einer langen und ereignisreichen Pause zum 2. Akt einfanden, waren es – nach der Wende von 1989 – noch dieselben und doch nicht mehr dieselben. Optik und Vokabular hatten sich verändert. Ein Oberstleutnant sollte nun nicht mehr das Organisationskomitee leiten und das Organisationskomitee nicht mehr so heißen. Also nannte man es fortan Projektleitung „1000 Jahre Potsdam“ und setzte dem Offizier einen Kulturjournalisten vor die Nase.
Das schmerzte natürlich die wackeren Streiter von einst. Enttäuschung und Kränkung führten zu Missstimmungen, die sich zu Missverständnissen auswuchsen. Die einstigen Hauptakteure fühlten sich zu Statisten degradiert, die sie nicht sein wollten.
Wie einst der Oberstleutnant brauchte auch der Kulturjournalist eine Mannschaft. Er suchte sie sich in Potsdam und gewann auch zwei Westberliner Potsdam-Fans. Die Projektleitung ordnete man zuerst dem Presseamt, dann der Hauptverwaltung zu. Als sich dies nicht als günstig erwies, landete die Projektleitung wieder wie einst beim Oberbürgermeister, nur hieß der jetzt anders. Die Stadtratbereiche nannten sich nun Dezernate, die Verantwortliche für das Projekt „1000 Jahre Potsdam“ einzusetzen hatten. Unter welchen Mühen und Krämpfen diese neue alte Struktur geboren wurde, entzieht sich jeglicher Beschreibung. An die Stelle des einst vorgesehenen Festkomitees trat nach ausgiebigem Hickhack zwischen den Parteien ein Ehrenkuratorium von Persönlichkeiten aus Ost und West.
Für die Mitglieder der Projektleitung wurde jeder Tag zu einem Abenteuer. Angetrieben von einem von seiner Aufgabe besessenen Projektleiter, elektrisiert von der Herausforderung, in einem spannungsreichen Verhältnis zum Büro des Oberbürgermeisters und zu den Dezernaten, versuchten sie inmitten der widerstreitenden Vorstellungen von einem Stadtfest ihre eigenen Positionen zu finden.
Der einstige Chef und Oberst musste sich dem zwanzig Jahre jüngeren neuen Chef Dieter unterordnen und beide waren sich in herzlicher Abneigung zugetan. Dem Gesetz der Natur folgend, verließ der Ältere schließlich unter Protest den Schauplatz, andere folgten ihm, neue Mitarbeiter kamen.
Stasi-Verdächtigungen, Gerüchte, Intrigen, Parteiinteressen waberten durch die Flure des großen Hauses. Ich erinnere mich an eine der endlosen Sitzungen im Kulturausschuss, an denen auch ein Westberliner Architekt teilnahm, obwohl er weder Abgeordneter war noch der Projektgruppe angehörte. Er führte mit lauter Stimme das große Wort, hatte zu allem und jedem eine dezidierte Meinung, die er als objektiv ausgab. In irgendeiner Sache wagte ich zu widersprechen, worauf er mich anherrschte, die Zeiten der Stasi seien endgültig vorbei und ich möge den Mund halten. Erstaunt sah ich ihn an und dann in die Runde. Da saßen fünfzehn Monate nach dem Mauerfall Leute aus der Bürgerbewegung, die mich kannten. Statt den Mann wegen seiner Ungehörigkeit zurechtzuweisen, senkten sie die Köpfe und schwiegen.
Inzwischen redete der Mann immer weiter, wie der Festumzug auszusehen habe und welche Persönlichkeiten für das Ehrenkuratorium geeignet seien. Seine Worte versanken für mich im Nebel. Was ging hier vor?
In meiner Naivität begriff ich nicht, dass meine Person dem Mann herzlich egal war. Er brachte sich nur auf diese Weise in Position für eine leitende Stellung im Magistrat wie so viele andere selbst ernannte westliche Berater. Kraft seiner Ellbogen und mit Stasiverdächtigungen walzte er alles nieder, was seinem Ziel im Wege stand. Er konnte ja nicht wissen, dass ich keine Karriere machen wollte. Mehr als dieser unverständliche Angriff erschreckten mich die anwesenden Stadtverordneten. Warum ließen sie diesem Blender so großen Raum und erstarrten vor dem angeblichen westlichen Sachverstand wie das Kaninchen vor der Schlange?
Ich verteidigte mich nicht und verließ auch nicht den Raum. Der Monolog des Selbstdarstellers, die verschlossenen oder unterwürfigen Mienen seiner Zuhörer fesselten ganz und gar meine Aufmerksamkeit. An wen oder was erinnerte mich dieser Mann und diese Situation? Hatte ich so etwas nicht schon einmal erlebt? Mir fielen Versammlungen mit Funktionären der DDR ein, in denen es ähnlich zugegangen war. Dieselbe Lautstärke der Redner, die Art, andere Meinungen auszuschalten, eine ähnliche Rhetorik. Dieses Muster wirkte offensichtlich noch immer oder schon wieder.
„Ein Achtundsechziger“ flüsterte mir Projektleiter Dieter zu. Ich schaute ihn verständnislos an. Mit diesem Begriff konnte ich nichts anfangen. Noch nicht.
Emmi Bonhoeffer regte sich furchtbar auf, als ich ihr am Telefon von dem Vorfall erzählte. „Das dürft ihr euch nicht gefallen lassen“, sagte sie. „Schmeißt ihn raus!“ Sie hatte keine Vorstellung von den Kräfteverhältnissen in den neuen alten Verwaltungen. Der Architekt nahm bald die ersehnte leitende Stellung im Magistrat ein und zog seine Freunde nach.
Die vergangenen Jahrzehnte war ich eine Einzelkämpferin gewesen, mit Kindererziehung und Bücherschreiben beschäftigt. Nun stürmte so viel Neues auf mich ein, dass ich vor lauter Aufnehmen und Reagieren kaum zum Reflektieren ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Impressum
  2. Vorwort
  3. Ein Angebot aus Wuppertal
  4. „Tausend Jahre Potsdam"
  5. Ehrengast in der Villa Massimo
  6. Brandenburgisches Literaturbüro
  7. Begegnungen im Literaturbüro
  8. Wieder Schriftstellerin
  9. Reisen
  10. Über Freundschaft
  11. Zurück zum Anfang
  12. Was mich trägt
  13. Sigrid Grabner
  14. E-Books von Sigrid Grabner